Liebe zur Freiheit - Hunger nach Sinn. Flugschrift über Weiberwirtschaft und den Anfang der Politik
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Ina Prätorius: soeben habe ich das neu erschienene Buch "Recht Richtung Frauen" (Hg. vom Verein ProFRI - schweizerisches feministisches Rechtsinstitut, Lachen/St.Gallen 2001), in dem auch mein Text "Mose und Deborah" drin ist, den Antje schon kennt, von a bis z durchgelesen. Das war sehr spannend. Und obwohl diese feministischen Juristinnen viele gute Ideen haben und auch viel von Erfolgen berichten, die in den letzten Jahren im Rechtsbereich errungen worden sind (z.B. bezüglich Gewalt, sexuelle Belästigung, Eherecht, Sorgerecht...), ist doch auffällig, wie harzig das ist, innerhalb eines von Androzentrikern erdachten, auf dem Mann/öffentlich - Frau/privat-Dualismus beruhenden Rechtssystems "Fortschritte" zu erreichen (die sich in der Praxis dann allzuoft als Rückschritte bzw. als höchst ambivalent herausstellen). Mir ist dabei die Idee gekommen, mal experimentell von unserem heutigen Kenntnisstand ausgehend eine Verfassung zu schreiben für einen Staat, in dem wir gern leben würden. Die Flugschrift liest sich ja stellenweise schon so wie eine Art Verfassung für einen nicht androzentrisch organisierten Staat. Aber wie Antjes Reaktion auf Christofs Anfrage zeigt, ist sie eben doch vor allem für Frauen gedacht und hat nicht den Anspruch, ein Text zu sein, der von Frauen und Männern gleichermassen als grundlegend akzeptiert werden könnte. Einen solchen Text zu schreiben, würde mich aber jetzt interessieren. Und ich wundere mich auch irgendwie, dass die Juristinnen sowas offensichtlich noch nie unternommen haben, obwohl sie immer wieder mal von der Notwendigkeit eines neuen Gesellschaftsvertrags reden... Wie würde wohl der erste Satz einer inklusiven Verfassung heissen? Ich finde ja den ersten Art. des Grundgesetzes der BRD "Die Würde des Menschen ist unantastbar" schon mal gar nicht so schlecht. Aber ich glaube, dass in "meiner" Verfassung "der Mensch" als Quasi-Neutrum schon mal nicht vorkäme, oder?? (30.7.01)
Christof Arn: Meine Utopie einer Gesellschaft ist eine Gesellschaft, die es schafft, möglichst viel Vielfalt - wie eine Blumenwiese - zu ermöglichen, statt Ehe- (und Scheidungs-)Monokulturen, Männerdominanzkulturen und andere Monokulturen etc. zu züchten. Wie könnte eine solche Gesellschaft aussehen? Ich finde dazu den Vorschlag von Ina, über eine Verfassung nachzudenken, spannend. Sie schreibt: Wie würde wohl der erste Satz einer inklusiven Verfassung heissen? Ich finde ja den ersten Art. des Grundgesetzes der BRD "Die Würde des Menschen ist unantastbar" schon mal gar nicht so schlecht. Aber ich glaube, dass in "meiner" Verfassung "der Mensch" als Quasi-Neutrum schon mal nicht vorkäme, oder? Ich finde diesen Anfang sehr gut, weil "Würde" haben auch besagt, selber Lebensformen wählen zu können und darin nicht so blödsinnig behindert werden zu dürfen, wie das heute der Fall ist. Ich denke aber auch, das Wort "Mensch" impliziert eine verdeckte männliche Sicht, die allerdings so wenig den individuellen Männern gerecht wird wie den Frauen. Ich hätte aber auch keine Freude an einer Aufzählung im Sinne von: "Die Würde von Frauen, Männern und Kindern ist unantastbar." Denn: Wo bleiben die Alten und die Behinderten? Wo bleiben die Mütter männlichen Geschlechts und andere Personen, die es mit der Grenze zwischen männlich und weiblich nicht so bitter ernst nehmen wollen? Und: Wo bleiben eigentlich die Tiere? Kriegen die keine Würde? Und die nicht belebte Natur? Hat die nicht auch eine Würde? Also: "Die Würde aller belebten und nicht belebten Natur ist unantastbar - alle natürlichen Personen selbstverständlich eingeschlossen." (1.8.01)
Ina Prätorius: Ja, an den Anfang einer Verfassung würde für mich die Würde aller Lebewesen (und auch der unbelebten Natur, was heisst das aber?) gehören. Und gleich danach käme die Freiheit der Menschen, in verantwortlicher Bezogenheit auf die Freiheit der anderen selbst über die eigene Existenzform entscheiden zu können. In "Recht Richtung Frauen" steht ein interessanter Aufsatz über die derzeitige Rechtswirklichkeit in Schweden: Dort ist die Rechtsform "Ehe" bereits marginalisiert. Was den Unterhalt der Menschen angeht, ist an ihre Stelle der Regelfall "Arbeitsvertrag" und "Elternschaft" getreten. D.h.: es ist die Regel, dass Erwachsene ihren Unterhalt via Erwerbsarbeit und Kinder via "Elternschaft" sichern. Ausserhäusliches "Daycare" für Kinder ab dem Ende des Elternschaftsurlaubs ist die Regel und wird nicht mehr mit "Entlastung der Eltern bzw. der Wirtschaft", sondern mit dem "Recht der Kinder auf soziale Integration und professionelle Betreuung" begründet. Dieses Modell finde ich interessant, bloss: es ist auch wieder eine Norm, der alle genügen sollten. (Im Aufsatz wird z.B. ziemlich maternalistisch auf die zurückgebliebenenen Migrantinnen Bezug genommen, die nach Meinung der Autorin vom Staat mittels Hilfsmassnahmen in die Lage versetzt werden sollten, der fortschrittlichen Norm zu genügen.) Ausserdem gibt es Widersprüche: Warum haben Kinder tagsüber und wenn sie fit sind ein Recht auf "professionelle Betreuung", nachts aber und wenn sie krank sind, nicht? Und je länger je mehr frage ich mich auch: Was geht eigentlich verloren, wenn die gesamte Bevölkerung (samt Babies) sich morgens aufmacht an ihren Arbeitsplatz? Ist es das, was wir wollen? (Ich eigentlich nicht, ich bin gerne den ganzen Tag zuhause.) (1.8.01)
Antje Schrupp: der Gedanke, eine Verfassung zu schreiben, in der der Mensch nicht als Neutrum vorkommt, ist interessant. Mir erscheint das ein Widerspruch in sich zu sein, da es meiner Meinung nach in der Natur von Rechten und Verfassungen liegt, gerade von den Unterschieden zwischen Menschen abzusehen. Das ist ja das Problem an ihnen. So musste historisch der Ausschluss der Frauen aus Rechten auch damit begründet werden, dass sie quasi gar nicht (richtig) Mensch ist. Das zweite Problem an Verfassungen ist, dass sich alle darauf einigen müssen, was normalerweise zu recht banalen Aussagen führt und gestritten wird sich dann darüber, was das konkret bedeutet (so wie für das, was real geschieht, ein Gesetzestext viel weniger wichtig ist als die Verfahrensregeln zur Umsetzung dieses Gesetzes). Die Flugschrift ist daher für mich auch kein Text, auf den sich alle oder viele oder so einigen sollen, sondern ein Text, der Diskussionen anstoßen soll, weil wir damit Position beziehen - nicht um viele zu integrieren, sondern um Themen deutlich zu machen und aus den eingefahrenen Argumenten herauszukommen. Am Ende dieser Diskussion steht (jedenfalls wäre das mein Wunsch) nicht ein evtl. modifizierter Flugschrift-Text, hinter dem massenweise Leute stehen, sondern wir alle stehen dann ganz woanders - ich selbst werde meine Sichtweise verändert haben (hab ich teilweise schon), es sind neue Vokabeln und Argumente in der Diskussion und zirkulieren etc., es gibt neue Bezugspunkte, auf die ich mich berufen kann usw. Deshalb möchte ich eigentlich nicht über eine neue Verfassung nachdenken. Denn um das Norm-Problem (das Beispiel mit den Migrantinnen ist nur eines) kommt man da niemals herum. (8.8.01)
Ina Prätorius: Ich finde nicht, dass die Tatsache, dass Gesetze vor allem Debatten auslösen, gegen Gesetze an sich spricht, sondern nur gegen allzu detaillierte Einzelgesetzgebung, hinter der die (patriarchale) Illusion steckt, man könne das (Zusammen)Leben schriftlich fixieren, bevor es stattfindet. Also: Eine Verfassung hat für mich (und nicht nur für mich, sondern auch für VerfassungstheoretikerInnen) nicht primär den Zweck, Normen zu fixieren, sondern vielmehr eine Grundlage zu legen, an die sich Aushandlungsprozesse halten können, die ja niemals im luftleeren Raum stattfinden, sondern immer an gewisse gemeinsame Vorgaben sprachlich-kultureller Art anschliessen. Der erste Satz des BRD-Grundgesetzes "Die Würde des Menschen ist unantastbar" ist genau so ein Satz, der nichts anderes bedeuten kann, als dass er ein Anstoss ist für ein unendliches Gespräch darüber, was er bedeutet. Genau dies macht ihn so faszinierend. Und ganz ähnlich verhält es sich mit anderem apodiktischem Recht wie etwa den biblischen zehn Geboten. Ich finde es wichtig, dass wir in Sachen Recht/Gesetz nicht das Kind mit dem Bade (sprich: das gesamte Recht mit der kasuistischen Illusion) ausschütten, sondern uns z.B. an die Unterscheidung von Gerda Weiler erinnern, die Gesetze mit weitem Interpretationsspielraum (Gewohnheitsrecht, allgemeines Tötungsverbot etc.) dem Matriarchat und kasuistische Kleinklein-Gesetze dem Patriarchat zurechnet. Deine Vorstellung vom unendlichen Aushandeln, Antje, ist nämlich in der Gefahr, selber zur Norm und ausserdem zum Stress zu werden ("Du musst über alles und alles ununterbrochen verhandeln!"), wenn es keinen "Boden" hat in Sätzen, auf die sich alle beziehen können, wollen und sollen. Ich glaube auch nicht, dass Autorität und Beziehungen als solche an die Stelle von allgemeinen Orientierungssätzen (Verfassungen) treten können, sondern dass Autorität u.a. dadurch entsteht, dass zwei Leute sich gemeinsam und von zwei verschiedenen Punkten aus auf gemeinsame Tradition bzw. sprachliche Formulierungen über das gute Leben beziehen, So in etwa. An diesem Punkt waren wir schon mal (11.8.01) |