Sozialstaat

Liebe zur Freiheit - Hunger nach Sinn. Flugschrift über Weiberwirtschaft und den Anfang der Politik

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Zur vorausgegangenen Diskussion siehe Seite zum Thema "Geld"

 

Ina Praetorius:

Alle lamentieren doch jetzt dauernd rum, dass es keine Ideen zum "Umbau des Sozialstaates" gibt. Na haben wir etwa keine? Jetzt sind wir bald soweit, dass wir ein Pilotprojekt starten können. Das Pauschalgejammer über den "Sozialabbau" ist ja für Frauen ohnehin nicht ganz nachvollziehbar. Wenn ich es richtig sehe, verhält es sich historisch so, dass nach der ersten massiven Expansion des Kapitalismus im vorletzten Jahrhundert den Geldschefflern nach und nach Leistungen fürs Gemeinwohl abgetrotzt wurden (in Form von Steuern, Sozialversicherungen, Arbeitszeitreduktion...). Das Ergebnis, der "erste moderne Sozialstaat", stützte sich aber auf patriarchale Gesetze, weshalb sein Abbau infolge einer kapitalistischen Renaissance, den wir heute beobachten können, den Interessen der Frauen nicht gänzlich zuwiderlaufen kann. (Leider sind aber viele Frauen noch so daran gewöhnt, sich männlichem Jammer anzuschliessen, dass sie nicht standhaft genug sind, sich z.B. öffentlich über den Abbau von Sozialleistungen zu freuen, die den männlichen Familienernährer voraussetzen.) Die Chance heute ist, dass wir zwischen der linken Strategie des "Retten, was zu retten ist" und der liberalen Flexibilisierung von allem und jedem postpatriarchale Modelle gerechter Geldverteilung (ich meine: das von Antje) platzieren und dabei einige Dinge klarstellen:

1. An Praxen gerechter Geldverteilung jenseits der wirtschaftsliberalen Fiktion "Alles ist Markt" führt langfristig kein Weg vorbei. Denn es ist nicht alles Markt, und Verarmung der Menschen bedeutet in letzter Konsequenz Krieg und andere Verwüstungen aller Art, an der auch die Reichen kein Interesse haben können.

2. Der alte Sozialstaat ist und bleibt ein patriarchales Gebilde. Daran ändert die Tatsache nichts, dass sein Abbau auch uns manchmal Angst macht. ("Die Frauen haben nichts zu lachen, wenn die symbolische Ordnung zusammenbricht...")

3. Das Ende des Patriarchats ist ein epochales Ereignis, weshalb postpatriarchale Politik notwendigerweise erstmal "total unrealistisch" und "utopisch" aussieht. Auch der erste Sozialstaat wäre ohne radikale Vordenker nicht zustande gekommen.

4. Gerechte Geldverteilung ist nicht gleichbedeutend mit Gerechtigkeit. Gutes Leben besteht aus mehr als stimmenden Zahlen, was der Politik der Geldverteilung ihre unerbittliche Schärfe nimmt, indem es ihr einen sinnvollen Ort im Rahmen einer vieldimensionalen Politik des guten Lebens zuweist.

Und an welcher Kirchentür schlagen wir jetzt unsere Thesen an? (War Luthers Thesenanschlag eigentlich eine anarchistische Aktion?)

 

Antje Schrupp:

Ob ich das jetzt als Thesenanschlag an irgendeine Kirche hängen möchte, weiss ich nicht. Diese Luther'sche Einstellung "Hier stehe ich und kann nciht anders" kommt mir immer etwas isoliert vor (hier ich und da die böse Welt oder der Papst). Man könnte die Gedanken natürlich noch mal in einem Büchlein oder so zusammenfassen. Aber ich sehe das eher als einen Ort, wo ich mir über Meinung und Position klar werde. Und dann kommt eben die Vermittlung, wo ich halt grade bin. Bin ich in einer Existenzgeldgruppe, dann werde ich da mal den Begriff Nützlichkeit einführen (statt Recht auf). Und bin ich in der Kirche, dann werd ich gegen die Einführung von Marktwirtschaftskriterien in die Diakonie sein. Und bin ich Hausfrau, dann werde ich... und bin ich sonstwas, dann werde ich sonstwas... und zwischendurch komme ich dann hier in die Mailingliste oder lese Diotimabücher, um wieder auf neue Gedanken zu kommen oder mich meiner Position zu vergewissern. So ungefähr.

 

Ina Praetorius:

Ich finde den Thesenanschlag von Luther subjektiv (von ihm aus gesehen) auch isoliert, aber objektiv (von der "Weltgeschichte" aus gesehen) äusserst vernetzt. Und was ich jetzt wirklich allmählich nicht mehr will ist dieses ewige Argumente-hin-und-her-Geschiebe. Ja, ich weiss, wir sind alle urgewaltig verschieden voneinander. Aber ich will  trotzdem etwas meinetwegen auch aus dem Cyberspace heraus, aber jedenfalls hinein in die gemeinsames tun, wirkliche Wirklichkeit... Und deshalb war das mit dem Thesenanschlag nicht (nur) als Gag gemeint.

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