Sexualität

Liebe zur Freiheit - Hunger nach Sinn. Flugschrift über Weiberwirtschaft und den Anfang der Politik

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Siehe auch: Seite Homosexualität

 

 

Ina Prätorius:

 

Ich bin auch nicht dafür, dass wir die Sexualität jetzt als "Kategorie" ins Denken der Geschlechterdifferenz einführen. Der Begriff der "Kategorie" scheint mir - wie der der "Identität" u.a.m. - einer zu sein, der in dieses Denken nicht passt, weil er, mit einer Tendenz zur Endgültigkeit, Grenzlinien zieht, statt lebendige Vermittlung in Bewegung zu setzen. Ich bin aber dafür, dass wir von dieser anthropologischen Position (auch dies ein irgendwie unpassendes Wort...) der Geburtlichkeit, des Tochter-einer-Mutter-Seins über die Bedeutungen nachdenken, die Sexualität annehmen kann. Das ist etwas ganz anderes. Und es entspricht meinem Wunsch, das Denken der Geschlechterdifferenz sich bewähren zu lassen, indem wir es in alle möglichen Richtungen ausdenken bzw. in alle möglichen "Themen" hineindenken. (14.8.00)

Wir waren beim Thema Sexualität, und die Hetero-Lesben-Debatte ist in diesem Zusammenhang sicher nicht einfach ein beliebiges Beispiel. Ich hatte vorgeschlagen, dass wir, statt Sexualität als "Kategorie" einzuführen, darüber nachdenken, welche Bedeutungen Sexualität annehmen kann, und zwar ausgehend von diesem grundlegenden Datum der töchterlichen Bezogenheit. Mal ein erster Ansatz von mir: ich habe Schwierigkeiten, "Sexualität" als Phänomen abzugrenzen. Vielleicht liegt das daran, dass ich sie seit Jahren in mein alltägliches Zusammenleben mit einem Mann integriert habe. Und nun weiß ich nicht mehr, wo "Intimität" endet und "Geborgenheit" anfängt und "Privatsphäre" und "Wohlsein" und "Gegenseitigkeit" und "Care" - und wo beginnt dann Sexualität? Mit dem Koitus? Oder kurz vorher? Oder mit exklusiver Zweisamkeit, nein das gilt sicher nicht für andere... Ich weiss es nicht. Und ich merke, dass für mich auch nicht viel daran hängt, hier klar zu unterscheiden. Was ich hingegen jetzt gerade merke, ist, dass ich es schön finde, dass mein Sexpartner mir in meinem zentralen beruflichen Wirkungsfeld, der Frauenbewegung, per Definition keine Konkurrenz machen kann, weshalb ich sehr gut zwischen beruflichem und privatem Tun unterscheiden kann... Soweit mal sehr unfertig. Und ihr? (15.8.00)

 

Ina Prätorius:

 

Wie Du, Antje, habe ich in der letzten Zeit viel über "Sexualität" nachgedacht und mit Leuten (nicht) darüber geredet. Der Effekt ist vorerst, dass ich immer weniger durchblicke, was mit diesem Wort eigentlich gemeint ist. Und dass mich die Kommunikationsbarrieren, die durch eigentlich längst hinter uns liegende Konzepte von "Natürlichkeit", "Fruchtbarkeit", "Moral" etc. entstanden sind und immer noch da stehen, ziemlich nerven. Eigentlich wollten wir ja das "Thema" von der Flugschriftperspektive her denken, d.h. von diesem Grunddatum aus, dass wir alle Töchter von Müttern und nicht autonom, sondern bezogen und dankbar sind... Wahrscheinlich ist es wichtig, erst mal die Komplexität des Ganzen (wieder mal) in Form von Geschichten an sich vorbeiziehen zu lassen, wie wir das ja nun auch getan haben. Und jetzt? Wenn ich "Sexualität" von der Tochterperspektive (die ich jetzt nicht nochmal entfalte) denke, dann hört sich das ziemlich banal an: Als Tochter bin ich dankbar für das Leben, das ich bekommen habe. Und dafür, dass mir jemand, nämlich vor allem meine Mutter "die Welt aufgetan" (Gottfried Keller) hat. Aus dieser Dankbarkeit ergibt sich die Verpflichtung, selbst in Freiheit weltvermittelnd und nutzbringend tätig zu werden. Und bezogen auf die "Sexualität" heisst das eigentlich einfach, dass ich diese spezifische Fähigkeit meines Geist-Körpers so gebrauche, dass ich damit mir und der Welt und den anderen diene. Das wär eigentlich schon alles. (Erinnert mich so in den Grundzügen ziemlich an Jesus, Paulus und Luther). Und es ist eigentlich auch klar, daß damit sehr Verschiedenes gemeint sein kann und dass Grenzen wie die zwischen Heteras und Homos und Bis und Zölis hinfällig werden, weil nicht mehr die Richtung der Sexualität, sondern deren Qualität den Massstab bildet. Oder ist das jetzt zu banal? Und die Frage, wie ich mich mit dieser anderen Einstellung in der patriarchal verkorksten Gegenwart bewege, ist so natürlich auch noch nicht beantwortet. (24.8.00)

 

 

Antje Schrupp:

 

ich finde das überhaupt nicht banal, was du beschreibst. Das Problem ist ja auch nicht die Sexualität an sich, sondern die Art der Beziehung zwischen zwei Menschen, die damit verbunden ist oder daraus entsteht. Und da ist ein Punkt, dass bei uns die Art der Sexualität die Art der Beziehung bestimmt (mit Sexualität ist sie wichtiger/mehr wert?) und dass es aber auf der anderen Seite nur sehr wenig "Sorten" von Beziehungen mit Sex gibt (Zweierkiste oder Affäre), was meiner Erfahrung nach nicht ausreicht zur Differenzierung :) Zur fehlenden Differenzierung gehört auch die vorrangige Einordnung einer Sex-Beziehung danach, ob sie mit einer gleichen  oder einem anderen Geschlechts vollzogen wird. Das ist auch so eine Unterscheidung, die ich persönlich schwer nachvollziehen kann. Wenn mich jemand fragt, ob ich mit Männern oder mit Frauen schlafe, dann antworte ich immer: Mit den allermeisten Männern und den allermeisten Frauen schlafe ich nicht! Ich meine, es geht doch hier um Individuen, um eine konkrete Beziehung zu einem bestimmten Menschen und nicht um das Bekenntnis zu einer Gruppe. Mein Anderssein, Julia, besteht nämlich darin, dass die Beziehungen, die ich führe (mit und ohne Sex) in die vorgegebenen Raster, was für Sorten von Beziehungen es gibt (und welche mit und welche ohne Sex zu sein haben) noch nie so richtig reingepasst haben. Also verstehen mich die Leute nicht Meine Eltern zum Beispiel verschweigen in ihrer Bekanntschaft, dass ich verheiratet bin, weil ich nicht "so" verheiratet bin, wie man das normalerweise ist und ihnen das peinlich ist. Das kann ich zum Teil ihnen vorwerfen, zum Teil mir, zum Teil der Gesellschaft - so what? Ich muss damit leben. Ich bin eben "anders" und kann aber mein Anderssein dazu nutzen, die Welt besser zu verstehen, weil ich an Grenzen stoße (und sie mir dadurch auffallen), an die andere, die nicht anders sind, nicht stossen. Und deshalb hat - um nochmal den Anschluss an die Flugschrift zu finden – die Diskussion um Sex was mit der Diskussion um gelingende Beziehungen zu tun. (25.8.00)


 


Ina Prätorius:

Mir gefällt das, wie wir, jedenfalls Antje und ich, so allmählich die "Sexualität" wirklich präzise anders situieren als im herkömmlichen Schema. (Ein bisschen hoffe ich auch, dass die derzeit schweigenden Lesben nachher nicht daherkommen und alles wieder umschmeissen, weil da halt wieder mal nur zwei Heteras - eine von der eher ungewöhnlichen und eine von der eher angepassten Sorte - miteinander geredet haben.) Ich finde es erleichternd, wenn ich "die Sexualität" ins Thema "Beziehungen und ihre Qualität" einordnen kann, statt sie immer als etwas ganz Besonderes (irgendwie unheimlich Wichtiges, seis jetzt negativ oder positiv gemeint) abzuhandeln. Eigentlich sehe ich das schon lange so, habs auch in früheren Texten schon so geschrieben. Aber meistens ist mir dann wieder was oder wer in die Quere gekommen, der/die oder das mir die Lust, das mal endlich zu Ende zu denken, gründlich genommen hat. Es ist doch eigentlich vollkommen unlogisch, wenn - z.B. in der biblischen, aber auch in der normalbürgerlichen Ethik - alle möglichen Beziehungen (z.B. zwischen Vertragspartnern aller Art, in der Wirtschafts-, Friedens, Medien- etc. Ethik) nach ihrer Qualität beurteilt werden, die sexuellen Beziehungen aber nach ihrer Form bzw. Ausrichtung. Anders ausgedrückt: in der Friedensethik ist "Gewaltlosigkeit" der Massstab, in der Sexualethik aber "Ehe". Ich hab schon mit Ethikprofessoren über diese verquere Logik debattiert, aber die waren tatsächlich unfähig zu kapieren, dass da ihr argumentativer Faden reisst. Jetzt komme ich doch mal zu einem Schluss: Für unser Denken in der Tradition der Flugschrift wäre es sinnlos, eine "Kategorie Geschlecht" einzuführen. Dass das Thema dennoch so ein fürchterlicher Knackpunkt ist, liegt am unbewältigten Patriarchat. Diese Zweischichtigkeit des Themas müssen wir im Auge behalten, um nicht auf die eine oder andere Seite (blauäugiger Utopismus vs. Anpassung an patriarchale Pseudotrennungen) abzurutschen. Und dann sollten wir vielleicht noch die Kurve kriegen zu Ingeborgs Frage, was in diesem ganzen Ding denn nun eigentlich "schutzwürdig" (z.B. im Sinne von staatlichen Zuwendungen) ist. (25.8.00)

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