Liebe zur Freiheit - Hunger nach Sinn. Flugschrift über Weiberwirtschaft und den Anfang der Politik
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Vorausgegangene Diskussion über Eigentum und Geld Ina Prätorius: Worüber ich gern noch weiter nachdenken würde, ist der Begriff der Illusion. In der Flugschrift, wie gesagt, wird das Gefühl, durch Geldbesitz "unabhängig" werden zu können, als Illusion entlarvt, zu Recht. Welcher Zustand ist nun aber nicht illusionär? Wenn eine Frau z.B. sich ganz auf Beziehungen verlässt, deshalb kein eigenes Geld zu brauchen meint, und plötzlich haut der Mann oder die Freundin ab oder stirbt, hat sie sich dann nicht auch Illusionen gemacht, die Illusion nämlich, sich auf Beziehungen verlassen zu können? Das unmittelbare In-Beziehung-Sein wird in der Flugschrift aber weniger als Illusion entlarvt als der Geldbesitz, und das ist auch logisch, weil ja das In-Beziehung-Sein hier als das Primäre gesetzt wird. Beziehungen (und zwar nicht nur patriarchale) sind aber ebenso fragil wie Geld, weil Menschen und damit Beziehungen sterblich sind - so, wie das Geld verloren gehen kann, können auch Menschen verloren gehen. (Hat man deshalb das Geld erfunden?) Eigentlich ist meine Frage, ob es eine nichtillusionäre Form menschlichen Daseins überhaupt gibt, oder wenigstens eine annähernd nichtillusionäre. Und dann kommt mir der Gedanke, dass ein nichtillusionärer Zustand vielleicht doch der des Einsiedlers ist, der sich weder auf Besitz noch auf Beziehungen verlässt - also doch ein Zustand grösstmöglicher Beziehungslosigkeit? Oder habe ich jetzt die Bindung an eine einzige Person mit dem "Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten" (Arendt) verwechselt? Leben diejenigen Leute am wenigsten illusionär, die sich nicht auf eine (Liebes-)Beziehung, sondern auf eine (z.B.Dorf- oder Familien- oder Kloster-)Gemeinschaft verlassen? Weil es am unwahrscheinlichsten ist, dass eine ganze Gemeinschaft auf einmal verloren geht? Und wie ist es dann mit den Flüchtlingen und dem Krieg? Oder ist es eben gar kein sinnvolles Ziel, ohne Illusion zu leben? Dann muss ich mich aber wieder fragen, warum ausgerechnet die Geldbesitzer ihre spezifische Illusion aufgeben sollen? (8.3.01)
Alexandra Robin: ich für meinen teil halte meinen kontostand für weniger illusionär als irgendwelche liebesschwüre, mein geld kann ich ohne skrupel kontrollieren, einen aufenthaltsort weitgehend bestimmen. zumal börsencrashs und wirtschaftskrisen in meinem leben bisher eine weniger katastrophale wirkung entfaltet haben als diverse beziehungsverluste. die frage , was denn eine illusion ist, ist eng verknüpft mit der frage, was ist realität? mein gesamtes leben basiert auf illusionen, die meine realität darstellen. denn egal wie, immer mach ich mir ein bild von dem was ich vorfinde. dies bild hat seine grundlage in meiner interpretation, die wiederum von meinen erfahrungen abhängt. da gibts ein, zwei existentielle eckdaten wie z.b. geburt und tod, die ich für ganz sicher nicht illusionär halte, dazwischen liegt s.o.. die dreiheit, die ihr beschrieben habt, entspricht auch meiner erfahrung. was die beziehungen angeht denke ich, daß die tatsache, DASS ich beziehungen habe keine illusion ist, die illusion beginnt für mich mit der betrachtung der qualität der beziehungen. und im endeffekt kann ich mich weitestgehend auf die verpflichtungen verlassen, die ich von meiner seite aus eingehe, das sich-an-mich-gebunden-fühlen von anderen unterliegt meiner erfahrung nach wieder der erwähnten dreiheit - alles andere halte ich für illusion- und wäge ab, ob ich mich im einzelfall auf meine illusion verlasse -oder auf meinen kontostand und meine fähigkeit, diesen positiv zu beeinflussen. (8.3.01)
Antje Schrupp: Eine Illusion ist, wenn man denkt, mit Geld und Beziehungen hätte man alles im Griff. Aber genauso wie beim Geld das Glück eine Rolle spielt (heute im Aktienzeitalter mehr denn je) spielt es natürlich bei den Beziehungen eine Rolle. Illusionär ist also nicht, ob ich mich auf Geld oder auf Beziehungen oder sonstwas verlasse, sondern illusionär ist, wenn ich meine, ich könnte mich überhaupt auf etwas verlassen, wenn ich nicht berücksichtige, dass ich eben nicht alles im "Griff" habe. Das einzige, was wir können, ist die Wahrscheinlichkeit erhöhen. Also Aktienpakete streuen, Beziehungen zu mehr als einer Person etc. Und dann kommen so Sachen ins Spiel wie Gottergebenheit, Schicksal, Demut, Gelassenheit, vielleicht auch Solidarität, Mitgefühl, usw. (8.3.01)
Ina Prätorius: Nach dem, was Ihr, Antje und Sandra, schreibt, müssten wir uns also darauf einigen, dass Sicherheit die eigentliche Illusion ist, und zwar unabhängig davon, ob ich sie mir von Geld, einzelnen Liebesbeziehungen oder Gemeinschaften erwarte. Welche Handlungen oder Strategien zur Erlangung eines relativen Zustands der Sicherheit mir am erfolgversprechendsten erscheinen, unterliegt gesellschaftlichen Bedingungen (Wie sicher ist die Erhaltung des Geldwertes? In Mexico, zum Beispiel, würdest Du, Sandra, Dich sicher nicht so ohne weiteres drauf verlassen, dass Dein Bankkonto morgen noch dasselbe enthält wie heute, selbst wenn grössere Zahlen draufstehen.) und subjektiven Einschätzungen. Am sichersten ist wohl immer noch "Gott", weshalb man ihn vielleicht irgendwann mal angefangen hat zu denken (Lübbe: Religion ist Kontingenzbewältigungspraxis). Das würde nun eventuell bedeuten, dass die nächste Flugschrift an diesem Punkt präziser sein müsste, indem sie nämlich nicht nur das Sicherheits- bzw. Unabhängigkeitsstreben durch Geld, sondern ebenso das durch Beziehungen als Illusion erkennbar macht (was sie meiner Einschätzung nach nicht tut). Grundlegend müsste, wie Du, Antje, es richtig auf den Punkt bringst, die Erkenntnis sein, dass sich das Leben überhaupt nicht in den Griff kriegen lässt, weder durch Geld noch durch Beziehungen noch durch pränatale Diagnose etc. Es geht grundsätzlich um Optimierungshandeln (Freiheit in Endlichkeit, das Prinzip von Abraham), nicht um das Herstellen idealer Zustände (absolute Selbstbestimmung, das Prinzip von Prometheus). Mit diesem Gedanken müsste für mich eine nächste Flugschrift beginnen. Und woran ich jetzt weiterdenken würde, wäre die Frage, ob die Illusion der Sicherheit als solche etwas Patriarchales ist, oder ob Frauen und Männer dieses Problem gleichermassen haben, bloss dass Frauen und Männer sich tendenziell auf verschiedene Sachen verlassen. (8.3.01)
Elke Markmann: Illusion Gesundheit - Illusion Glück - Illusion Lebensentwurf - Illusion ist alles, was festlegt! Liebe Ina, ich stimme Dir voll zu in dem, was Du über die Illusion Sicherheit schreibst, wie auch über die Illusion von Beziehungen. Alles, was festlegt, ist eine Illusion. und doch brauchen wir, glaube ich, diese Illusionen, um weiter leben und hoffen und glauben zu können. Wenn ich von mir ausgehe, merke ich, dass in meinem Leben viele Dinge sich als Illusion herausgestellt haben: die große Liebe endete mit einer Scheidung und einem häßlichen Sorgerechtsprozeß, die Liebe zum Studium mit einem Durch-die-Prüfung fallen, die Liebe zur Gesundheit stößt an ihre Grenzen, weil ich nicht weiß, wie lange ich noch etwas hören kann. Alles scheint Illusion, wenn es zerbrochen ist. (Huch, wie pathetisch!) Was ich eigentlich sagen will: Ich brauche doch diese Illusion von Sicherheit, von Glück, von Liebe, von Geldbesitz, um nicht vor lauter Grübeln und Angst gelähmt zu sein! Nur muß ich mir manchmal neue Illusionen aufbauen, wenn die alten sich als brüchig erwiesen haben. Insofern ist der Optimierungsgedanken, den Du an den Anfang einer neuen Flugschrift stellen möchtest, ein guter Ausgangspunkt. (9.3.01)
Ina Prätorius: Von Angela Berlis bekam ich heute die überarbeitete Version von Sharon Welchs "A Feminist Ethics of Risk" zur Rezension im ESWTR-Jahrbuch zugesandt. Nach einem ersten Schnuppern vermute ich, dass dieses Buch eine Menge sagt zu unserem derzeitigen Thema "Illusion Sicherheit". Es geht hier nämlich darum, eine Ethik zu entwickeln, die nicht auf der (gängigen patriarchalen) Illusion aufbaut, dass die Folgen von Handeln kontrollierbar sind, sondern das "Risk" jeder Handlung zur Voraussetzung macht. Interessanterweise kommt Hannah Arendt im Literaturverzeichnis nicht vor, dafür eine Menge afro-amerikanischer Literatur. Was mir wieder mal zeigt, dass es im feministischen Denken starke Koinzidenzen gibt. (12.3.01) |