Weibliche Spiritualität und politische Praxis
Dass Mystik keine weltabgewandte, rein innerliche Form der Frömmigkeit ist, sondern etwas mit politischem Engagement in der Welt zu tun hat, ist keine neue Erkenntnis. Vor allem im Umkreis der christlichen Friedens- und Eine-Welt-Bewegungen haben viele Menschen seit den achtziger Jahren ihr politisches Engagement mit einer spirituellen Praxis, mit Gebet und Kontemplation, verknüpft. Inspiriert waren sie von der lateinamerikanischen Befreiungstheologie und von der feministischen Theologie, die der überkommenen Sichtweise widersprachen, wonach Mystik und Politik, Innerlichkeit und Weltengagement einander ausschließen. Auch viele Frauen finden in der mystischen Tradition Ermutigung für ihr eigenes Engagement, gerade auch in der Kirche. Sie entdecken im Leben und in den Schriften von Mystikerinnen Vorbilder für ihr eigenes Bemühen, in einer von Männern dominierten religiösen Struktur eigene spirituelle Wege zu gehen – und zuweilen auch eine Rechtfertigung dafür, sich trotz aller Männerdominanz weiterhin dort zu engagieren, die Kirche also von innen heraus zu verändern, anstatt sie zu verlassen. Ähnliches gilt für jüdische und muslimische Feministinnen. Aber auch bei säkularen Frauen finden mystische Traditionen heute verstärkt Beachtung.
Diese Wiederentdeckung der Mystik bleibt allerdings weitgehend auf den religiösen, spirituellen Bereich beschränkt. Feministinnen, die in Parteien, Vereinen oder unabhängigen Projekten und Initiativen aktiv sind, interessieren sich nur selten für religiöse Traditionen, die sie oft insgesamt für patriarchal und damit bekämpfenswert halten. Dieses Buch präsentiert dagegen Texte von feministischen Philosophinnen, deren Wurzeln eher in der Studenten-, Gewerkschafts- und autonomen Frauenbewegung liegen. Auch sie haben die Praxis und Ideen der Mystikerinnen für sich entdeckt – jedoch nicht als einen Weg zur Erneuerung der Kirche, woran ihnen wenig liegt, sondern als eine weibliche politische Praxis, von der sie selbst lernen und profitieren können. So nehmen zum Beispiel die Frauen des Mailänder Frauenbuchladens und der weiblichen philosophischen Gemeinschaft »Diotima« an der Universität von Verona in ihren Schriften immer wieder Bezug auf Teresa von Ávila, Margarete Porete und andere Beginen, aber auch auf moderne Mystikerinnen wie Simone Weil oder Clarice Lispector.
Was interessiert sie als Philosophinnen und politische Feministinnen ausgerechnet an der Mystik? Ausgangspunkt ihres Denkens ist die Frage, »wie weibliche Freiheit entsteht« – so der Titel eines ihrer ersten Bücher. Weibliche Freiheit, so die These, entsteht weder durch rechtliche Gleichstellung mit den Männern, also Emanzipation, noch durch den Rückgriff auf ehine vermeintlich »natürliche« Weiblichkeit, wie sie zuweilen in vorchristlichen, etwa matriarchalen Kulturen ausgemacht wird. Sondern weibliche Freiheit entsteht in der Beziehung unter Frauen, die sich untereinander über ihre Wünsche, Ideen, Erfahrungen austauschen und so zu Urteilen finden, die weibliche Autorität begründen. Indem sich eine Frau mit ihrem Begehren der Autorität einer anderen Frau anvertraut – auf italienisch: affidarsi –, öffnet sich ihr ein »Mehr« an Möglichkeiten, an Spielräumen, an Ideen, kurz: Ihre Freiheit wird größer.
Ausgangspunkt ist also das Begehren einer Frau, das auf einen Mangel in der Welt, so wie sie derzeit ist, hindeutet – das italienische desiderio verweist auf das Desiderat, das noch zu Wünschende. Das Begehren, das sich auf das Andere richtet, auf das, was (noch) nicht ist, bringt aber die Transzendenz ins Spiel, jenes Andere also, das auch »Gott« genannt werden kann. Genau diese Verknüpfung von persönlichem Begehren und Transzendenz verbindet das Denken der Philosophinnen heute mit dem der Mystikerinnen. Während die Philosophie der Aufklärung Freiheit in der Regel als Unabhängigkeit und Autonomie interpretiert hat, verstehen sie Freiheit als Bindung an ein »Mehr«, wodurch das eigene Begehren eine Frau über die Grenzen des derzeit für möglich Gehaltenen hinausführen kann. Subjektivität und Objektivität, Diesseits und Jenseits, Mensch und Gott werden nicht als Gegensätze interpretiert, die sich ausschließen, auch nicht als Komplementaritäten, die sich ergänzen, oder – postmodern – als Relativitäten, die sich auseinander herleiten. Die in diesem Buch vorgestellten Mystikerinnen und ihre Interpretinnen vertreten ein anderes Konzept der Differenz: Es geht um Unterschiedliches, das sich nicht auseinander ableiten oder erklären lässt, zwischen dem aber dennoch eine Beziehung bestehen kann.
Genau dieses Paradox – dass Menschen eine Beziehung zu Gott, zur Transzendenz, zum Anderen haben können, obwohl es eigentlich keine Verbindung gibt – steht im Mittelpunkt der mystischen Praxis, die in großen Teilen eine weibliche Praxis ist, eine Erfindung von Frauen. »Mystik« ist so gesehen also kein im engen Sinne religiöses Phänomen, sondern steht für ein bestimmtes Verständnis vom Menschsein und menschlichen Erkenntnismöglichkeiten. Oder, wie die Philosophin Andrea Günter es formuliert: »Mystik handelt von der Möglichkeit, etwas zu erkennen, ohne dass wir den Grund, die Ursache, die Substanz davon kennen müssen. Wir erkennen etwas, indem wir bei diesem sind.« Der Weg dazu lautet, für manche Feministin sicherlich überraschend: »Vernichtigung«, um einen Ausdruck von Margarete Porete zu nehmen. Oder, wie Thérèse von Lisieux es ausdrückt: »Klein werden«. Die Ich-Losigkeit, der Verzicht auf den eigenen (guten) Willen, die Abkehr von großen Theorien und pflichtbewusster Anstrengung, so die Entdeckung der Mystikerinnen, ermöglicht einen direkten »Draht« zu Gott, zur Transzendenz. Und anders herum ist diese selbst-lose Öffnung für das Andere der einzige Weg, den Gott hat, um auf diese Welt zu kommen.
Hier wird ein anderer Weg der Annäherung an die Mystikerinnen deutlich, als der, den feministische Theologinnen in Deutschland größtenteils gegangen sind. Für viele von ihnen stellen nämlich gerade die »Demutsgesten« der Mystikerinnen, die wiederholte Betonung der eigenen Schwäche, ihrer Kleinheit, ihrer Unmaßgeblichkeit (auf die zum Beispiel Teresa von Ávila ihre Visionen zurückführt, wogegen »kluge und verständige Männer« solche Gottesgaben nicht nötig hätten) ein Ärgernis dar. Wie konnten solche Frauen Vorbilder für die eigenen Emanzipationsbestrebungen sein? Manche Theologinnen versuchten daher auch, diese Haltung der Mystikerinnen mit den Zeitumständen zu erklären – da Frauen das Priesteramt und die akademische Lehre verschlossen waren, hätten sie sich zwangsläufig in diese Richtung orientiert, um ihre eigenen Ansichten und Lehren mit göttlichen Visionen quasi abzusichern. Oder sie hätten ihre Kleinheit und Schwäche betont, um den »Oberen« keine Angriffsfläche zu bieten.
Dem liegt aber ein Missverständnis zu Grunde: Wenn die Mystikerinnen ihre »Kleinheit« und »Nichtigkeit« betonen, bezieht sich das nicht auf die Männer, die Kirche, die Hierarchien ihrer Zeit, sondern es bezieht sich auf Gott. Sicher, häufig genug haben sie auch die eigene intellektuelle Schwäche im Gegensatz zum theologischen Scharfsinn zeitgenössischer Kirchenlehrer betont. Wenn sie aber gleichzeitig deutlich machen, dass gerade ihre Schwäche eine Beziehung zu Gott ermöglicht, dann ist das wohl kaum als Demutsgeste zu interpretieren, sondern eher als Ausdruck großen Selbstbewusstseins. Das allerdings in der Tat kein Interesse an einer Konkurrenz mit den Männern hat. Denn es geht ja um viel mehr.
Es geht nämlich um eine Sicht der Welt, die es erlaubt, nicht nur einfach im herkömmlichen Sinn politisch tätig zu werden, sondern darum, eine ganz andere Art der Politik zu erfinden. Beziehungsweise darum, Tätigkeiten als politische Tätigkeiten zu erkennen, die im Allgemeinen als zweitrangig und nebensächlich gelten. Wie zum Beispiel die Politik in erster Person, wenn etwa eine Sekretärin in ihrer Firma über bessere Arbeitsbedingungen verhandelt, im Gegenüber zur Parteipolitik, bei der es um Repräsentation, Stellvertretung und allgemeine Gesetze geht. Oder die Praxis des Gebets, der konkreten Hilfe für Bedürftige, der Gründung eines Klosters im Gegenüber zu einer Kirchenpolitik der Konzile, theologischen Traktate und Dogmen. Diese zweite Politik – die der Gesetze, Institutionen, Parteien – ist nicht gänzlich unwichtig. Aber sie ist im Hinblick auf den Dialog und die zwischenmenschliche Beziehung zweitrangig verglichen mit jener ersten, konkreten Politik. Denn nur dort, im Konkreten, kann eine Öffnung entstehen, durch die Göttliches, Transzendentes, und damit: Neues in die Welt kommt. Es ist die Grundlage dafür, dass überhaupt Veränderung möglich ist.
Eine wichtige Rolle dabei spielt die Sprache, vor allem die Muttersprache, die nach Simone Weil der Ort ist, wo das Konkrete und die Transzendenz zusammenkommen. Denn die Muttersprache ist kein geschlossenes System mit feststehenden Definitionen und Regeln, sondern grundsätzlich offen für das Andere, das Neue. Sie ist der Ort, an dem Erfahrungsaustausch, Verhandlungen, Vermittlung der Differenz stattfinden kann. Die einfache, schöne Sprache, über die sich nicht einfach verfügen lässt, die sich dem System entzieht, ist gewissermaßen wie ein Spiel, das durchlässig ist für die Kontingenz Gottes. Auf sie gilt es zu vertrauen, nicht auf die abstrakte Sprache der Theologie, der Ideologien, der großen Systeme.
Entscheidend für diese Praxis ist es, von sich selbst auszugehen, die eigenen Erfahrungen ernst zu nehmen, aber nicht dabei stehen zu bleiben, sondern sie in Worte zu fassen, dem Urteil anderer Frauen anzuvertrauen und so zu einer neuen »symbolischen Ordnung« zu finden. Dabei können die Mystikerinnen Lehrerinnen sein – nicht aus historischem Interesse oder um vergessene »Frauengestalten« gerechtigkeitshalber in den theologischen Kanon zu integrieren, sondern weil ihre Entdeckungen, ihre Formulierungen, ihre Visionen und Ideen Anknüpfungspunkte für unser eigenes Begehren sein können, die Welt zu verstehen, unser eigenes (politisches) Handeln zu gestalten und eine Beziehung zum Transzendenten, zum Göttlichen, einzugehen. So entsteht aus weiblicher Erfahrung und weiblichem Philosophieren in der Begegnung mit weiblicher Autorität, und sei sie auch in vergangenen Jahrhunderten angesiedelt, ein neue Ordnung. Eine Ordnung, die sich nicht an einem Gegner, etwa »den Männern« oder »dem Patriarchat« abarbeitet, sondern die – hoffentlich – Sinn stiftet und Lösungen findet für die Herausforderungen, vor die die Welt uns heute stellt.
Einleitung aus: Ingeborg Nordmann, Mechthild Janssen, Antje Schrupp (Hg): Weibliche Spiritualität und politische Praxis, Christel-Göttert-Verlag, Rüsselsheim 2004. Mit Beiträgen von: Luisa Muraro über Margareta Porete, Maria Milagros-Rivera über Teresa von Avila, Gisela Jürgens über Therèse de Lisieux, Chiara Zamboni über Simone Weil.