Antje Schrupp im Netz

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Wenn die Seele Gott begegnet

Für die einen ist sie der Grundpfeiler einer religiösen Lebenshaltung, für andere steht sie in verdächtiger Nähe zu Aberglauben und Volksverdummung: Die Mystik ist eine ebenso alte wie umstrittene Form der Frömmigkeit. Im Christentum hatte die Mystik ihren Höhepunkt im späten Mittelalter, bevor sie vom Zeitalter der Aufklärung von der Vernunft abgelöst wurde. Vorübergehend. Denn heute erlebt die Mystik wieder einen wahren Boom. In unzähligen Seminaren und Büchern setzen sich Menschen mit der Frage auseinander, ob es so etwas wirklich gibt: Die unmittelbare Begegnung der Seele mit Gott.

Jeanne d’Arc hatte eine Vision. Von selbst wäre das Bauernmädchen sicher nicht auf die Idee gekommen, Frankreich retten zu müssen. Wer sonst, wenn nicht Gott selbst, könnte ihr einen solchen Auftrag geben? Nicht als feministische Kämpferin und auch nicht als Patriotin, sondern als Mystikerin charakterisiert der Filmemacher Luc Besson die Jungfrau von Orléans in seinem Film von 1999. Am Beginn des 21. Jahrhunderts, so scheint es, sind mystische Visionen wieder etwas, worüber man ernsthafte Kinofilme drehen kann.

Die Suche nach der Transzendenz ist ein religiöses Grundproblem: Wie kann der Mensch Gott, das Jenseitige, erkennen, wenn doch der Verstand für solche Dinge nicht ausreicht? Mystik gibt es daher in allen Religionen – die jüdische Kabbalah, die buddhistische Zen-Meditation, den islamischen Sufismus. Der christliche Weg, sich in einen Zustand der Offenheit zu begeben, in dem unmittelbare Gotteserfahrung möglich ist, ist die Kontemplation, das Gebet in der Stille, die Meditation über einen Bibeltext.

Besonders eingeübt und tradiert wurde das in den Klöstern. Während die wissenschaftlich-gelehrte Theologie lange den Männern vorbehalten war, bot die Mystik schon früh auch Frauen eine Möglichkeit, theologisch mitzureden – bekannte Mystikerinnen sind etwa Teresa von Avila, Hildegard von Bingen oder Mechthild von Magdeburg. Heute, wo der Allmachtsanspruch von Rationalität und Intellekt ausgedient hat, liegt es nahe, sich wieder auf ihre Lehren zu besinnen. Inzwischen sind die Schriften christlicher Mystiker und Mystikerinnen ein reicher Fundus nicht nur für die theologische, sondern auch für die philosophische und psychologische Forschung.

Aber auch im teilweise unseriösen Markt der Esoterik wird der Begriff Mystik gern benutzt, so mancher verdient hier eine schnelle Mark. Und gerade wenn Mystik nicht zu weltfremder Rückgezogenheit, sondern zu politischem Engagement führen soll, ist Vorsicht angeraten – vor selbsternannten Heilsbringern, die ihr Wissen angeblich direkt von Gott haben.

Auch Luc Besson hat genau das zum Thema gemacht: Als Jeanne d’Arc im Kerker auf ihre Hinrichtung wartet, hat sie wieder eine Vision. Eine düstere Gestalt aus dem Jenseits (ein grandioser Dustin Hofmann im Kaputzenumhang) fragt ironisch-spitz: Wie kannst du eigentlich so sicher sein, dass es wirklich Gott war, der dir diese Mission eingeflüstert hat – und nicht der Teufel?


aus: Evangelisches Frankfurt, November 2000

siehe auch: antjeschrupp.de/spiritualitaet