Antje Schrupp im Netz

Eva, wo bist du? – ich bin dann mal weg

Statement zu Mystik und Politik beim Kirchentag 2009

Dass Mystik keine weltabgewandte, rein innerliche Form der Frömmigkeit, sondern hat etwas mit politischem Engagement in der Welt zu tun hat, ist nicht neu. Vor allem im Umkreis der christlichen Friedens- und Eine-Welt-Bewegungen haben viele Menschen seit den achtziger Jahren ihr politisches Engagement mit einer spirituellen Praxis, mit Gebet und Kontemplation, verknüpft. Inspiriert waren sie von der lateinamerikanischen Befreiungstheologie und von der feministischen Theologie, die der überkommenen Sichtweise widersprachen, wonach Mystik und Politik, Innerlichkeit und Weltengagement einander ausschließen.

Auch viele Frauen finden in der mystischen Tradition Ermutigung für ihr eigenes Engagement, gerade auch in der Kirche. Sie entdecken im Leben und in den Schriften von Mystikerinnen Vorbilder für ihr eigenes Bemühen, in einer von Männern dominierten religiösen Struktur eigene spirituelle Wege zu gehen – und zuweilen auch eine Rechtfertigung dafür, sich trotz aller Männerdominanz weiterhin dort zu engagieren, die Kirche also von innen heraus zu verändern, anstatt sie zu verlassen. Ähnliches gilt für jüdische und muslimische Feministinnen. Aber auch bei säkularen Frauen finden mystische Traditionen heute verstärkt Beachtung.

Diese Wiederentdeckung der Mystik bleibt allerdings weitgehend auf den religiösen Bereich beschränkt. Feministinnen, die in Parteien, Vereinen oder unabhängigen Projekten und Initiativen aktiv sind, interessieren sich nur selten für religiöse Traditionen, die sie oft insgesamt für patriarchal und damit bekämpfenswert halten.

Das heißt, es sind Frauen, die ohnehin religiös sind, die hier aktiv sind, aber es gelingt nicht, dies in eine säkulare Welt zu vermitteln – die wird sozusagen tendenziell immer »unspiritueller«. Das finde ich ein Problem, denn Spiritualität und Mystik als eine Weise, Frauen mit der Institution Kirche zu versöhnen interessiert mich weniger, sondern ich interessiere mich für eine sinnvolle Politik und Weltgestaltung, die meiner Ansicht nach unter diesem Fehlen einer »transzendenten Anknüpfung« leidet.

Eine großartige Vordenkerin dabei ist natürlich Simone Weil, deren 100. Geburtstag in diesem Jahr ist, und die ja genau diesen anderen Weg gegangen ist – von der politischen Aktivistin zur Mystikerin, und es waren »säkulare« Gründe, die sie dazu gebracht haben, Mystikerin zu werden, also nach »Klarheit« und »Wahrheit« zu suchen, die ihrer Ansicht nach wichtig für die Politik sind und nicht eine speziell religiöse Angelegenheit.

In Auseinandersetzung mit ihr haben auch italienische Philosophinnen rund um den Mailänder Frauenbuchladen und die Philosophinnengemeinschaft Diotima an der Universität von Verona die mystischen Traditionen wieder entdeckt – jedoch nicht als einen Weg zur Erneuerung der Kirche, woran ihnen ebenfalls wenig liegt, sondern als eine weibliche politische Praxis, von der sie selbst lernen und profitieren können: Teresa von Avila, Margarete Porete und andere Beginen, aber eben auch moderne Mystikerinnen wie Simone Weil oder Clarice Lispector.

Was interessiert mich als Philosophin und politische Feministinnen an der Mystik? Mein Ausgangspunkt ist die Frage »wie weibliche Freiheit entsteht« – so der Titel eines der ersten Bücher der »Mailänderinnen«. Weibliche Freiheit, so die These, entsteht weder durch rechtliche Gleichstellung mit den Männern, also Emanzipation, noch durch den Rückgriff auf eine vermeintlich »natürliche« Weiblichkeit. Sondern weibliche Freiheit entsteht in der Beziehung unter Frauen, die sich untereinander über ihre Wünsche, Ideen, Erfahrungen austauschen und so zu Urteilen finden, die weibliche Autorität begründen. Indem sich eine Frau mit ihrem Begehren der Autorität einer anderen Frau anvertraut – auf italienisch: affidarsi –, öffnet sich ihr ein »Mehr« an Möglichkeiten, an Spielräumen, an Ideen, kurz: Ihre Freiheit wird größer.

Ausgangspunkt ist also das Begehren einer Frau, das auf einen Mangel in der Welt, so wie sie derzeit ist, hindeutet – das italienische desiderio verweist auf das Desiderat, das noch zu Wünschende. Das Begehren, das sich auf das Andere richtet, auf das, was (noch) nicht ist, bringt aber die Transzendenz ins Spiel, jenes Andere also, das auch »Gott« genannt werden kann.

Genau diese Verknüpfung von persönlichem Begehren und Transzendenz verbindet mein Denken und das anderer moderner Philosophinnen mit dem der Mystikerinnen. Während die Philosophie der Aufklärung Freiheit in der Regel als Unabhängigkeit und Autonomie interpretiert hat, verstehen sie Freiheit als Bindung an ein »Mehr«, wodurch das eigene Begehren eine Frau über die Grenzen des derzeit für möglich Gehaltenen hinausführen kann. Subjektivität und Objektivität, Diesseits und Jenseits, Mensch und Gott werden nicht als Gegensätze interpretiert, die sich ausschließen, auch nicht als Komplementaritäten, die sich ergänzen, oder – postmodern – als Relativitäten, die sich auseinander herleiten.

Die Mystikerinnen und ihre Interpretinnen vertreten ein anderes Konzept der Differenz: Es geht um Unterschiedliches, das sich nicht auseinander ableiten oder erklären lässt, zwischen dem aber dennoch eine Beziehung bestehen kann.

Eine andere Vordenkerin ist die englische Schriftstellerin und Philosophin Iris Murdoch, die in den 1970er Jahren ein interessantes Buch über die »Souveränität des Guten« geschrieben hat, indem sie sich ebenfall auf Simone Weil bezieht. Sie widerspricht darin der »postmodernen« Auffassung, wonach ethische Werte und Moral »relativ« sind, also nur eine Frage von Aushandlungsprozessen unter Menschen. Sie besteht demgegenüber auf einer »Souveränität des Guten« (religiös könnte man das auch die Souveränität Gottes nennen, aber Iris Murdoch ist nicht religiös). Allerdings kann dieses Gute bzw. Gott eben nicht rational, durch die menschliche Vernunft und Wissenschaft erkannt werden, sondern nur durch jene Art der Aufmerksamkeit für die konkrete Situation und eine alltägliche Lebenspraxis, die die Gesellschaft des Guten sucht und sich von den Einflüsterungen des eigenen »subjektiven Willens« und des Ichs unabhängig macht. Also auch eine grandiose Beschreibung mystischer Praxis, in diesem Fall von einer säkularen Schriftstellerin.

Es geht also im Kern bei der Mystik um ein Paradox: Dass Menschen eine Beziehung zu Gott, zur Transzendenz, zum Anderen, zum Wahren, zum wahrhaft Guten haben können, obwohl es eigentlich keine Verbindung gibt bzw. obwohl die Herstellung dieser Verbindung für Menschen nicht instrumentell verfügbar ist.

Genau dies steht im Mittelpunkt jeder mystischen Praxis, die in großen Teilen eine weibliche Praxis ist, eine Erfindung von Frauen. »Mystik« ist also kein im engen Sinne religiöses Phänomen, sondern steht vielmehr für ein bestimmtes Verständnis vom Menschsein und menschlichen Erkenntnismöglichkeiten und demzufolge auch politischem Handeln. Oder, wie die Philosophin Andrea Günter es formuliert: »Mystik handelt von der Möglichkeit, etwas zu erkennen, ohne dass wir den Grund, die Ursache, die Substanz davon kennen müssen. Wir erkennen etwas, indem wir bei diesem sind.«

Der Weg dazu lautet, für manche Feministin sicherlich überraschend: »Vernichtigung«, um einen Ausdruck von Margarete Porete zu nehmen. Oder, wie Thérèse von Lisieux es ausdrückt: »Klein werden«. Die Ich-Losigkeit, der Verzicht auf den eigenen (guten) Willen, die Abkehr von großen Theorien und pflichtbewusster Anstrengung, so die Entdeckung der Mystikerinnen, ermöglicht einen direkten »Draht« zu Gott, zur Transzendenz. Und anders herum ist diese selbst-lose Öffnung für das Andere der einzige Weg, den Gott hat, um auf diese Welt zu kommen.

Hier wird ein anderer Weg der Annäherung an die Mystikerinnen deutlich, als der, den feministische Theologinnen in Deutschland größtenteils gegangen sind. Für viele von ihnen stellen nämlich gerade die »Demutsgesten« der Mystikerinnen, die wiederholte Betonung der eigenen Schwäche, ihrer Kleinheit, ihrer Unmaßgeblichkeit (auf die zum Beispiel Teresa von Ávila ihre Visionen zurückführt, wogegen »kluge und verständige Männer« solche Gottesgaben nicht nötig hätten) ein Ärgernis dar.

Wie konnten solche Frauen Vorbilder für die eigenen Emanzipationsbestrebungen sein? Manche Theologinnen versuchten daher auch, diese Haltung der Mystikerinnen mit den Zeitumständen zu erklären – da Frauen das Priesteramt und die akademische Lehre verschlossen waren, hätten sie sich zwangsläufig in diese Richtung orientiert, um ihre eigenen Ansichten und Lehren mit göttlichen Visionen quasi abzusichern. Oder sie hätten ihre Kleinheit und Schwäche betont, um den »Oberen« keine Angriffsfläche zu bieten.

Dem liegt aber ein Missverständnis zu Grunde: Wenn die Mystikerinnen ihre »Kleinheit« und »Nichtigkeit« betonen, bezieht sich das nicht auf die Männer, die Kirche, die Hierarchien ihrer Zeit, sondern es bezieht sich auf Gott. Sicher, häufig genug haben sie auch die eigene intellektuelle Schwäche im Gegensatz zum theologischen Scharfsinn zeitgenössischer Kirchenlehrer betont. Wenn sie aber gleichzeitig deutlich machen, dass gerade ihre Schwäche eine Beziehung zu Gott ermöglicht, dann ist das wohl kaum als Demutsgeste zu interpretieren, sondern eher als Ausdruck großen Selbstbewusstseins. Das allerdings in der Tat kein Interesse an einer Konkurrenz mit den Männern hat. Denn es geht ja um viel mehr.

Es geht nämlich um eine Sicht der Welt, die es erlaubt, nicht nur einfach im herkömmlichen Sinn politisch tätig zu werden – also in all diesen langweiligen Gremien, Postenhubereien, instrumentellen Strategien, sondern darum, eine ganz andere Art der Politik zu erfinden. Beziehungsweise darum, Tätigkeiten als politische Tätigkeiten zu erkennen, die im Allgemeinen als zweitrangig und nebensächlich gelten.

Oder die Praxis des Gebets, der konkreten Hilfe für Bedürftige, der Gründung eines Klosters im Gegenüber zu einer Kirchenpolitik der Konzile, theologischen Traktate und Dogmen. Diese zweite Politik – die der Gesetze, Institutionen, Parteien – ist nicht gänzlich unwichtig. Aber sie ist im Hinblick auf den Dialog und die zwischenmenschliche Beziehung zweitrangig verglichen mit jener ersten, konkreten Politik. Denn nur dort, im Konkreten, kann eine Öffnung entstehen, durch die Göttliches, Transzendentes, und damit: Neues in die Welt kommt. Es ist die Grundlage dafür, dass überhaupt Veränderung möglich ist.

Eine wichtige Rolle dabei spielt die Sprache, vor allem die Muttersprache, die nach Simone Weil der Ort ist, wo das Konkrete und die Transzendenz zusammenkommen. Denn die Muttersprache ist kein geschlossenes System mit feststehenden Definitionen und Regeln, sondern grundsätzlich offen für das Andere, das Neue. Sie ist der Ort, an dem Erfahrungsaustausch, Verhandlungen, Vermittlung der Differenz stattfinden kann. Die einfache, schöne Sprache, über die sich nicht einfach verfügen lässt, die sich dem System entzieht, ist gewissermaßen wie ein Spiel, das durchlässig ist für die Kontingenz Gottes. Auf sie gilt es zu vertrauen, nicht auf die abstrakte Sprache der Theologie, der Ideologien, der großen Systeme.

Entscheidend für diese Praxis ist es, von sich selbst auszugehen, also vom konkreten und alltäglichen Ereben, aber nicht dabei stehen zu bleiben, sondern dieses Konkrete und Alltägliche und Eigene in Worte zu fassen, dem Urteil anderer Frauen anzuvertrauen und so zu einer neuen »symbolischen Ordnung« zu finden. Dabei können die Mystikerinnen Lehrerinnen sein – nicht aus historischem Interesse oder um vergessene »Frauengestalten« gerechtigkeitshalber in den theologischen Kanon zu integrieren, sondern weil ihre Entdeckungen, ihre Formulierungen, ihre Visionen und Ideen Anknüpfungspunkte für unser eigenes Begehren sein können, die Welt zu verstehen, unser eigenes (politisches) Handeln zu gestalten und eine Beziehung zum Transzendenten, zum Göttlichen, einzugehen.

Das heißt, ich plädiere für eine säkulare Mystik, für eine Spiritualität, die im persönlichen Leben, die sich in politischem Handeln in der Welt ausdrückt. Dass dies auch eine Möglichkeit beinhaltet, in einer globalisierten Welt sprachfähig zu sein angesichts der Tatsache, dass die westlich-universalistische und abstrakte Art, Welt zu interpretieren und zu organisieren, vielfach gescheitert ist und bei Menschen aus anderen Kulturen nur wenig Autorität besitzt, liegt auf der Hand.

Es ist demgegenüber gar nicht wichtig, sich religiös oder gar konfessionell zu profilieren. Der Mystik ist die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Institution – Kirche, Religion – egal, denn es geht um einen Kontakt zu Gott, zum Guten, zur Wahrheit, zur Transzendenz. Dies ist jederzeit und in allen Kulturen dasselbe, es ist nicht relativ, aber es ist nicht abstrakt zu fassen und in Kategorien zu gießen, sondern erweist und zeigt sich nur in konkreten Situationen, im Hier und Jetzt. Insofern sehe ich in der Mystik auch einen Ausweg aus dem unfruchtbaren Patt, in dem sich sowohl die heutige Philosophie als auch die Politik befinden, dem Patt nämlichen zwischen Universalismus und Relativismus.

Gott ist nicht relativ, aber sie lässt sich auch nicht in ein abstraktes, universales System gießen. Gott ist ganz und gar wahr und gut, aber eben immer nur in einer konkreten Situation. Politik bedeutet, diesen konkreten Situationen gegenüber aufmerksam zu sein und ihnen nicht übergeordnete universalistische Systeme überzustülpen. Politik bedeutet, jederzeit offen zu sein für neue Möglichkeiten und Überraschendes, das Andere zu achten und nicht das eigene Ich und den eigenen Willen aufzuplustern. Dabei können Mystikerinnen Lehrmeisterinnen sein, und das ist ihre heutige Relevanz.


Statement zur Podiumsdiskussion Feministische Spiritualität am 22.5.2009 beim Kirchentag in Bremen