Brauchen wir »große Frauen«?
Vom Sinn und Unsinn historischer Frauenforschung
Die Erforschung »historischer Frauengestalten« ist für viele Frauen faszinierend. Nichts verkauft sich so gut wie Biografien und Historienromane. Pionierinnen, die in früheren Epochen unter viel schwierigeren Umständen aus vorgegebenen Rollenmustern ausbrachen, können heute noch Vorbilder sein.
Dahinter steht ein großes Bedürfnis nach Orientierung. Wie ist dieses Bedürfnis nach Orientierung zu verstehen? Wann ist es der weiblichen Freiheit förderlich und wann beschränkt es die weibliche Freiheit?
Denn dass Frauen Vorbilder angeboten werden, ist ja nichts Neues. Frauenvorbilder gab es schon immer, Maria zum Beispiel. Häufig wurden diese Vorbilder von Männern angeboten und den Frauen vorgehalten, um bestimmte angeblich weibliche Tugenden hochzuhalten: Demut, Bescheidenheit, Gehorsam, Wohltätigkeit.
Dahinter steckte die Vorstellung, dass es das gute »Weibliche« gibt, woran Frauen sich orientieren sollen. Wobei dieses »Weibliche« als etwas quasi Natürliches oder Gottgegebenes angesehen wurde. Es ging also gerade nicht um etwas Geschichtliches, es ging nicht um Frauen, die handelnd Geschichte gestalteten. Es ging weniger darum, was Frauen taten, sondern darum, was Frauen – angeblich – sind, oft verknüpft mit dem als immergleich wiederkehrend vorgestellten Zyklus von Geburt, Aufwachsen, Mutterschaft.
Der Bereich der Geschichte, also der handelnden Personen in einem bestimmten historischen Kontext und angesichts konkreter Umstände, war das Feld der Männer. Deshalb sprechen Frauenforscherinnen von einer androzentrischen, also auf Männer zentrierten, Geschichtsschreibung, die eine historische Entwicklung von Ideen, Politikformen, Kriegen und so weiter nachzeichnet, an denen, so schien es lange Zeit, ausschließlich Männer beteiligt waren.
Inzwischen gibt es aber eine schon mindestens 40 Jahre andauernde historische Frauenforschung. Sie antwortete auf ein Bedürfnis von Frauen, sich und ihresgleichen ebenfalls in diesem geschichtlichen Ablauf wiederzufinden. Anders gesagt: Den »großen Männern« der Geschichte wurden »große Frauen« zur Seite gestellt. Historikerinnen erforschten die Lebensgeschichte von Königinnen, Apostelinnen, Philosophinnen, politischen Aktivistinnen.
Diese Frauenforschung ist nicht zufällig historisch zu einer Zeit entstanden, als die Emanzipation der Frauen auf der politischen Agenda stand. Frauen erkämpften für sich politische Rechte, den gleichen Zugang zu gesellschaftlichen Institutionen wie die Männer. Und diese Gleichheits-Perspektive betraf auch die Geschichtsschreibung: »Wir auch!« war sozusagen das Motto.
Weil Geschichtsschreibung nie objektiv darstellen kann, was zu einem früheren historischen Zeitpunkt geschehen ist, sondern immer die Perspektiven und Fragestellungen der eigenen Zeit an die Geschichte anlegt und zum Maßstab macht, hatte das Auswirkungen darauf, wie wir das Handeln und Tätigsein von historischen Frauen beurteilten. Geschichte gibt es nicht »objektiv«, sie muss interpretiert werden, wir tragen immer unsere eigenen Fragestellungen an sie heran.
Frauenforscherinnen machten sich also auf die Suche nach Frauen, die »auch damals schon« etwas Ähnliches forderten, wie Frauen heute, z.B. Emanzipation und Stimmrecht.
Bei meiner Dissertation zum Beispiel untersuchte ich vier Frauen, die im 19. Jahrhundert Feministinnen und Sozialistinnen waren. Und obwohl es damals – in den 1990er Jahren – schon eine Fülle von Forschungsarbeiten über Frauen im 19. Jahrhundert gab, gab es keine über die Frauen, die mich interessierten. Und zwar keineswegs, weil diese Frauen nicht wichtig oder berühmt gewesen wären, manche von ihnen füllten zu ihren Lebzeiten die Schlagzeilen wie etwa Victoria Woodhull, und waren zu ihrer Zeit viel bekannter und populärer, als die Heroinen der Frauenemanzipation. Diese Frauen wurden vielmehr deshalb nicht in den historischen Kanon der »Frauengeschichtsschreibung« aufgenommen, weil sie keine typisch emanzipatorischen Forderungen vertreten haben. Sie waren Sozialistinnen, sie standen aus verschiedenen Gründen der Gleichheit mit den Männern, dem Stimmrecht der Frauen usw. skeptisch bis kritisch gegenüber.
Damit ist aber der feministischen Frauenforschung etwas ähnliches unterlaufen, wie der von Männern propagierten Idealisierung von »großen« Frauen: Sie legt an historische Frauen einen bestimmten inhaltlichen Maßstab ab, der darüber entscheidet, ob eine bestimmte Frau für andere Frauen Vorbildfunktionen haben soll, oder nicht. Lediglich die Inhalte wurden ausgetauscht – und gefragt waren nicht mehr demütige, wohltätige, aufopfernde Frauen, sondern im Gegenteil aufmüpfige, kämpferische, emanzipierte.
Frauen, die andere Ideen hatten, als ihre Emanzipation, die nicht für die Gleichheit der Frauen kämpften, sondern für etwas anderes, galten also als nicht Vorbild-würdig. Die entscheidende Frage für das Interesse der Frauenforscherin war: War sie Feministin oder nicht? Wenn nicht, war sie nicht interessant. Manchmal wurde ihr Nicht-Feminismus (gemessen an den feministischen Vorstellungen der Forscherin) mit den Zeitumständen erklärt und entschuldigt, viel häufiger jedoch wurde die betreffende Frau dann gar nicht mehr erforscht.
Dass wir unsere Vorbilder und das was uns interessiert, auswählen, ist natürlich bis zu einem gewissen Grad verständlich. Denn eine objektive Geschichtsschreibung gibt es ja nicht, sondern ich trage immer meine eigenen Maßstäbe und Fragestellungen heran. Und deshalb muss ich in der Tat die Frage beantworten: Was ist denn an dieser oder jener historischen Frau interessant?
Und natürlich bin auch ich an die Geschichte mit meiner eigenen Fragestellung herangegangen. Anfangs wollte auch ich den großen Heroen der Arbeiterbewegung wie Karl Marx oder Michael Bakunin entsprechende »große Frauen« zur Seite stellen. Und ich hatte anfangs tatsächlich die Idee, dass ich dem »männlichen« Sozialismus gewissermaßen einen »weiblichen« Sozialismus entgegenstellen könnte.
Und ich hatte ganz schön daran zu knapsen, dass die Frauen, auf die ich traf, nicht in demselben Maße »groß« waren, wie die Männer. Sie schrieben nicht so eloquente und radikale Texte, bezogen nicht so klar und eindeutig Position. Sie waren vielmehr vieldeutig, erschienen mir eher schwankend, nicht so kohärent. Ganz abgesehen davon, dass die feministischen Sozialistinnen untereinander keineswegs einer Meinung waren.
Frauen mit ähnlich großartigen Standpunkten gab es durchaus, aber nicht in der Arbeiterbewegung, sondern in der Frauenstimmrechtsbewegung, sozusagen die Vorläuferinnen der Emanzipation. Sie hatten klare Standpunkte. Die Sozialistinnen aber waren anderer Ansicht, und irgendetwas daran hat mich interessiert und fasziniert.
Der Grund war wahrscheinlich, dass ich selbst schon ein paar Jahrzehnte nach der erfolgten Emanzipation lebte. Ich wusste bereits, dass das Stimmrecht und die Gleichberechtigung nicht alles ist, dass das nicht die gesellschaftlichen Probleme löst und nicht garantieren kann, dass Frauen mit Wohlbehagen in der Welt stehen und dass ein gutes Leben für alle Menschen möglicht ist. Insofern war es für mich interessant zu sehen, dass die Forderung nach Emanzipation auch damals schon nicht das Einzige war, das Frauen zur Politik beizutragen hatten.
In dieser Situation war mir das Denken der Differenz der italienischen Philosophinnen hilfreich. Denn es macht die Unterschiedlichkeit von Frauen zum Ansatzpunkt für feministisches Denken, nicht mehr ihre Gleichheit. So gesehen war es also kein Problem, dass die historischen Frauen unterschiedliche Meinungen vertraten und nicht etwa »die Frauenmeinung«. Auf diese Weise, indem ich also untersuchte, worin die Sozialistinnen untereinander verschiedene Meinungen vertraten, wurden plötzlich ganz andere Fragen wichtig: Während die Männer etwa über die Frage stritten, ob die Arbeiter eigene Parteien gründen oder sich außerparlamentarisch organisieren sollten, beschäftigten sich Frauen mit Bildungsthemen oder stritten darüber, ob man mit den Bürgerlichen zusammenarbeiten soll oder nicht.
Aber es war nicht nur eine Frage der anderen Themen. Es war auch eine Frage der Art und Weise, wie diese Frauen politisch handelten. Von den Italienerinnen hatte ich gelernt, dass das Fraussein sich nicht aus dem Mannsein ableiten lässt. Das brachte mich dann zu der Frage: Müssen denn die historischen Frauen, die ich untersuche, auf die gleiche Weise »Größe« haben, wie die Männer dieser Zeit?
Was, wenn ich einfach zugestehen könnte, dass es an bestimmten Orten, die von der Geschichtsschreibung erforscht worden sind, eben weniger Frauen als Männer gibt? Was, wenn der Vergleich mit den Männern schlicht unangemessen ist?
Dieser Gedanke war für mich sehr befreiend. Schon eine ganze Weile hatte ich es merkwürdig und irgendwie falsch gefunden, wenn plötzlich in Lexika oder ähnlichem den »berühmten« Männern nun ebenso »berühmte« Frauen gegenüber gestellt wurden. Sind diese Frauen denn vorher wirklich nur »verschwiegen« worden? Oder waren sie nicht vielleicht einfach woanders?
Auch Annabelle Pithan, die eine Biografie über die evangelische Religionspädagogin Liselotte Corbach geschrieben hat, sieht das ähnlich.Ihr 1997 erschienenes Buch mit zwanzig längeren und 46 kurzen Porträts von evangelischen und katholischen Religionspädagoginnen markiert den Beginn einer religionspädagogischen Frauengeschichtsschreibung in Deutschland.Sie findet es jedoch merkwürdig, dass ihre Forschungen so verstanden werden, dass sieeine Forschungslücke schließen – neben den vielen männlichen Religionspädagogen gibt es nun eben auch Religionspädagoginnen. In einem Interview sagte sie mir, häufig würden sich Leute auf ihr Buch beziehen und zum Beispiel einige Frauen herausnehmen, etwa für Lexikonartikel über die Religionspädagogik. »Und plötzlich stehen diese Frauen dann auf einer Stufe mit Martin Luther, das wird dann oft schief.« Denn Liselotte Corbach war sicherlich eine bedeutende Frau, aber war sie so bedeutend wie Martin Luther? War die Apostelin Junia so bedeutend wie Paulus? War Rosa Luxemburg so bedeutend wie Karl Marx? Beziehungsweise: Was bedeutet hier »bedeutend«?
Vielleicht wollen wir einfach nur, dass sie in gleicher Weise bedeutend sind, weil wir uns daran gewöhnt haben, Frauen an Männern zu messen? Annabelle Pithan sagt: »Man nimmt nicht wirklich eine andere Perspektive ein, wenn man die neu entdeckten Frauen nun einfach neben die Männer stellt. Frauen hatten nun einmal nicht die gleichen Positionen und oft wollten sie sie auch gar nicht. Liselotte Corbach zum Beispiel selber hat auch dazu beigetragen, dass sie nicht den Einfluss hatte, den sie hätte haben können.«
Sie plädiert daher für einen anderen Ansatz: »Dass man nicht nur die Frauengestalten sieht, sondern dass dadurch auch andere Bereiche der religiösen Bildung entdeckt und andere Zugangsweisen zur Bildung eröffnet werden.« Annabelle Pithan hat mit ihren Religionspädagoginnen etwas Ähnliches erlebt, wie ich mit meinen Sozialistinnen. Wir werden ständig gefragt: Was ist denn nun an diesen Frauen anders als an den Männern? Was unterscheidet die Sozialistinnen von den Sozialisten und was unterscheidet die Religionspädagoginnen von den Religionspädagogen?
Aber diese Frage führt in eine Falle. Weil man wieder die männliche Folie als Bezugspunkt hat.Bei dem Versuch, Frauen in das traditionelle Geschichtsbild einzuschreiben, besteht auch die Gefahr, die üblichen Kategorien von individueller (männlicher?) »Größe« und »Wichtigkeit« unhinterfragt zu übernehmen.»Man muss in die Welt der Frauen eintauchen«, sagt Annabelle Pithan. Aber wie geht das?
Auch die historische Frauenforschung hat ja immer betont, dass kulturelle Wertigkeiten neu definiert werden müssen: Dass es bei der Geschichtsschreibung nicht darum geht, Kriege und Staatsverträge in den Mittelpunkt zu stellen, sondern Alltagsleben und Beziehungsformen. Dass es genauso wichtig war, dass die Nähmaschine erfunden wurde, wie die Feuerwaffe. Dass Familienformen ebenso wichtig sind, wie Staatsformen.
Aber das ist es nicht nur, was ich meine. »In die Welt der Frauen eintauchen« bedeutet nicht nur, die so genannten »weiblichen Sphären« nun für genauso wichtig zu halten, wie die so genannten »männlichen Sphären«, sondern das Handeln der Frauen als ein politisches und historisches Handeln zu verstehen. Oder anders gesagt: Es geht nicht nur darum zu zeigen, dass Frauen von anderen Lebensumständen geprägt und sozialisiert sind, als Männer, sondern auch darum, dass sie ein anderes politisches Handeln hervorbringen – und zwar eines, das sich sowohl von den Männern unterscheidet, als auf von anderen Frauen. Und zwar aktiv unterscheidet.
Gefragt ist eine kreative und (selbst)-kritische Auseinandersetzung mit den Ideen und Taten von Frauen, die in anderen Zeiten lebten. Und zwar deshalb, weil darin – neben allen Konditionierungen und Prägungen – auch weibliche Freiheit ausdrückt.
Es gilt für die Betrachtung der Geschichte dasselbe, wie für die Betrachtung unserer Zeitgenossinnen. Der Maßstab ist nicht ein bestimmter Inhalt – sei es ein weibliches Wohlverhalten, sei es ein feministisches Wohlverhalten – sondern vielmehr die Liebe zur Freiheit. Diese Liebe zur Freiheit einer anderen Frau, die ihrem Begehren folgt, auch angesichts widriger Umstände, ist es, die uns ein Vorbild sein kann und die uns inspirieren kann.
Was kann es also bedeuten, dass Frauen unter den »großen Gestalten« der Geschichte fehlen? Selbst wenn man einkalkuliert, dass eine androzentrische Geschichtsschreibung sie ignoriert und vergessen hat? Natürlich ist es richtig und wichtig, diese Frauen, die da verschwiegen und nicht wahrgenommen worden sind, etwa Jüngerinnen oder Apostelinnen, Königinnen, Handwerkerinnen usw. zu sehen und zu erforschen. Aber nicht, um die Lücken der bisherigen Geschichtsschreibung aufzufüllen.
Vielmehr können wir uns fragen, was es zu bedeuten hat, dass Frauen nicht dieselbe geschichtlichen Positionen einnehmen, wie Männer. Die philosophische Gemeinschaft Diotima aus Verona hat eines ihrer Bücher genannt: »Von der Abwesenheit profitieren«. Können wir von der Abwesenheit der Frauen aus den Geschichtsbüchern profitieren? Waren die Frauen einfach anderswo? Und wenn wo? Und war es da, wo sie waren, vielleicht interessanter?
Diese Fragestellung finde ich sehr befreiend, weil sie mir eine Erklärung dafür bietet, warum Geschichte in der Schule für mich immer so langweilig war. Es lag nicht nur daran, dass dort nur Männer vorkamen. Sondern auch daran, dass das ganze Konzept mir nicht einsichtig ist.
Meine These ist, dass das alles mit der männlichen Sichtweise zusammenhängt, die die Welt in Dualismen aufgeteilt hat, in oben und untern, in wichtig und unwichtig, in wesentlich und zufällig. Zu diesen Dualismen gehört auch die Annahme, es gebe übergeordnete, universale Werte, die »Wahrheit«, nach der wir streben können. Und in der Tat ist es dieser Streit um die »Beute der Wahrheit«, wie es Wanda Tommasi in dem erwähnten Diotima-Buch formuliert, den die historischen Männer ausfochten.
Wer hat Recht? Wer gewinnt? Wer ist näher an den universalen Menschenrechten dran, an den göttlichen Geboten, an der abstrakten Vernunft? Unter dieser Perspektive ist die Geschichte eine Abfolge von Theorien und Ideologien, die aufeinander folgen. Grundsätzlich gibt es dafür im westlich-männlichen Denken zwei Modelle – das eine ist das des permanenten Fortschritts, wonach jeweils eine spätere, »bessere«, die vorhergehende kritisiert und schließlich besiegt, um wiederum ihrerseits später kritisiert und abgelöst zu werde, was schließlich zum einzig Wahren, Schönen, Guten führen wird, dem Reich Gottes oder dem Kommunismus. Die andere Variante ist die Vorstellung, dass dieses Schöne, Gute, Wahre am Anfang der Geschichte war – das Paradies, die unberührte Wildnis – und dass wir uns in einem Prozess des permanenten Verfalls befinden, der schließlich zur Apokalypse führt, wobei dann eventuell die wirklich Wahren, Schönen, Guten in den Himmel kommen und die anderen in der Hölle landen.
Beiden Varianten gemeinsam ist die Vorstellung, dass das Wahre, Schöne, Gute etwas sei, das universal ist, das für alle gilt, und es kommt nur darauf an, es anzustreben und sich diesem gesetzten Ideal anzunähern. Wobei es letztlich egal ist, ob diese Ideal bei Gott angesiedelt ist (wie es die Theologen tun), oder in der Vernunft (wie bei Kant).
Natürlich ist es möglich, Frauen als Akteurinnen in diesen Zirkel einzubinden – und zum Beispiel zu behaupten, nicht die Männer, sondern die Frauen hätten jenes Wahre, Schöne, Gute erreicht oder zumindest den Weg dahin anzuzeigen. Die geschlechtergerechte Gesellschaft der Zukunft etwa, oder das Ideal des Matriarchats als glänzender Ausgangspunkt.
Das Denken und Handeln der Frauen hat aber bereits eine andere Perspektive entdeckt. Ina Praetorius hat das »postpatriarchale« Ethik genannt, und in einem gemeinsamen Sammelband, der kürzlich erschienen ist, plädieren wir für eine »Weltsicht der Freiheit in Bezogenheit«. Dieses Denken geht davon aus, dass es keine allgemeingültige Ethik gibt, keine universalen Werte, die wir zum Maßstab nehmen können. Sondern dass Ethik und Moral sich immer nur in einem konkreten »Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten« ergibt, in das sich jeder Mensch, ausgehend von der eigenen historischen Situation, in freiem Handeln einknüpft. Dies ist ein Gedanke, den Hannah Arendt in ihrem Buch »Vita activa« entwickelt hat. In einer Vorlesung über Moralphilosophie, das soeben auf Deutsch erschienen ist, führt sie das näher aus, indem sie sagt, das Entscheidende ist nicht, welche moralischen Werte ich abstrakt vertrete, sondern in wessen Gesellschaft ich mich begebe. Moral existiert niemals unabhängig von dem Bezugsgewebe, in dem ich bin, und gleiches gilt für die Wahrheit.
Wenn wir von diesem Denken der Freiheit als Bezogenheit ausgehen, dann ergibt sich daraus auch ein anderer Blick auf die historischen Frauen. Für meine Sozialistinnen heißt das zum Beispiel, dass es nicht so sehr darauf ankommt, welche sozialistischen Theorien sie entwickelten und wie sie sich dadurch von den sozialistischen Theorien der männlichen Sozialisten unterscheiden. Vielmehr stellt sich dann für mich die Frage, warum sie – die alle Feministinnen waren, also für die Freiheit der Frauen eintraten – überhaupt in männlich dominierten sozialistischen Vereinen Mitglied waren, wo es doch gleichzeitig auch eine Frauenrechtsbewegung gegeben hat. Meine Idee ist, dass sie damit eine neue politische Praxis entdeckt haben, bei der es mehr auf die Vermittlung ankommt, als auf den Standpunkt selbst. »Politik verkörpern statt Stellung beziehen« habe ich das genannt. Hingehen und mit dem politischen Gegner reden – um auf diese Weise den anderen zu verändern, was allerdings bedeutet, auch die eigene Meinung aufs Spiel zu setzen. Überzeugen statt besiegen.
Wenn ich andere überzeugen will, nutzt es ja erfahrungsgemäß oft nichts, besonders ausgefeilt zu argumentieren und objektiv »Recht« zu haben. Vielmehr muss ich mich mit meinen Argumenten dem Gegner anpassen. Meine Argumente sind nicht für sich genommen, also abstrakt und allgemein, gut und richtig, sondern nur, wenn sie eine Vermittlung ermöglichen zwischen dem, was ich will, fühle und denke und dem, was mein Gegenüber will, fühlt und denkt.
Dies könnte eine Erklärung dafür sein, warum die Texte der Sozialistinnen so unklar, vieldeutig, schwankend sind. Jemand, der auf Vermittlung setzt, bringt keine –ismen hervor.
Eine solche Weltsicht der Freiheit in Bezogenheit gibt uns aber nicht nur eine neue Perspektive in die Hand, um das politische und gesellschaftliche Handeln von historischen Frauen anders einordnen und bewerten zu können. Sie bedeutet auch ein neues Verständnis davon, wie ich mich heute selbst in Beziehung zu einer historischen Frau setzen kann.
Begehren bedeutet: Meine Frage findet eine Antwort in diesen Frauen. Das, was sie getan oder gesagt haben, ermöglicht es mir, eine Wahrheit zu sehen, die mir bis dahin verschlossen war. Es bewegt und verändert mich. Dagegen kommt oft der Einwand: Haben sie es denn »wirklich so gemeint«? Ist das nicht eine Vereinnahmung? Ich weiß es nicht, und ich finde das ist auch eine falsche Frage. Ich weiß nur, dass ihr Handeln und ihr Beispiel mich zu diesen Ideen inspiriert hat. Ich bezweifle, dass es jenseits des Beziehungsgeschehens eine »objektive« Bedeutung von Geschichte geben kann.
Anna Maria Piussi, eine Pädagogin und Mitglied von Diotima, hat sich darüber ebenfalls Gedanken gemacht, wie Ideen und Texte von historischen Frauen heute wirken können. Sie schreibt: »Es geht um Worte, die in den Austausch mit anderen Frauen (und Männern) gegeben werden, ohne sich aber in Traditionen, wenn auch diesmal weiblichen, festhalten zu lassen, denn das würde nur die Logik des männlichen Kanons reproduzieren. Vielmehr sind es Worte, die dem Rhythmus des Lebens folgen, ohne dass wir uns mit ihnen identifizieren. Deshalb gehört es grundlegend zur weiblichen Freiheit, dass sie nie ein für allemal gegeben ist, sondern ständig neu ins Spiel gebracht werden muss, auch in Bezug auf das Erbe von anderen Frauen. Das einzige, was wir wirklich erben können, ist der Glaube an ein Denken, das unser Leben begleitet und es für sein Mehr öffnet, und auf unser innerstes Gefühl zu vertrauen, dass das weibliche Begehren, das Begehren einer Frau, aus einem Mangel im Sein entsteht, der sich niemals auffüllen lässt, und der in der Autoritätsbeziehung mit anderen Frauen erwacht.«
Wo finde ich meinen persönlichen Anknüpfungspunkt? Worin inspiriert mich diese Frau? Wo finde ich in ihrem Leben, in ihrem Beispiel, in ihren Texten Vermittlungen für das, was ich selbst will, denke und fühle? Wenn ich so frage, ist es nicht mehr notwendig, dass diese Frau auf einem gleichen historischen Niveau steht, wie die so genannten »großen« Männer. Es kann sogar eine Frau sein, die für viele andere gänzlich unbedeutend ist. Entscheidend ist, das ich ihr eine Bedeutung gebe, ohne dass damit der Anspruch verbunden sein muss, dass sie »objektiv«, also für alle anderen auch, diese Bedeutung haben muss.
Eine solche Sicht auf die Geschichte als ein Bezugsgewebe, das keine objektive Gültigkeit hat, sondern seine Bedeutung daher bekommt, dass wir uns heute mit den Handelnden von damals in eine Beziehung setzen, erfordert auch eine andere Art der Erinnerung und Geschichtsschreibung. Es geht nicht um eine Anhäufung von Wissen über Daten und Fakten und Personen, sondern um eine Auseinandersetzung mit einem Gegenüber. Ich spiegele mich nicht in historischen Frauen, sondern ich lasse mich in der Begegnung mit ihnen verändern.
Dies könnte auch ein Beitrag sein zu einem Streit in der männlichen Geschichtswissenschaft, den zum Beispiel Chris J. Bickerton in der Monde Diplomatique in einem Artikel über das Gedenken der Franzosen an Napoleon aufzeigt: Er stellt darin die traditionelle, an Fakten und Daten interessierte »Geschichtsschreibung« einer in jüngster Zeit wichtiger werdenden »Erinnerungskultur« gegenüber, in der zum Beispiel das Gedenken an Opfer bewahrt wird. Er schreibt: »Historische Forschung und Erinnerungskultur sind zwei ganz unterschiedliche Herangehensweisen, Geschichte zu verstehen. … Wer Vergangenheit übers Erinnern verstehen will, begründet eine individuelle Beziehung zu dieser Vergangenheit, die dann jeder nach eigenem Gusto ausgestalten kann. Erinnerung verwandelt Geschichte in eine Sequenz von Darstellungen durch Individuen oder Gruppen, von denen die eine soviel zählt wie die andere«. Eine solche Erinnerung bedeute den »Verzicht auf historische Forschung«, weshalb Bickerton sich auch davon abwendet und »mehr Verstehen und weniger Gedenken« fordert.
Diese Gegenüberstellung ist aber bei der von mir skizzierten Herangehensweise an Geschichte nicht mehr zutreffend. Wenn es in der persönlichen Beziehung zu einem historischen Ereignis nicht darum geht, mich darin zu spiegeln, mich meiner Identität zu versichern, sondern darum, einer Spur zu folgen, die mich fasziniert und herausfordert, mich selbst zu verändern, dann ist dies im Gegenteil eine große Motivation zu genau jener genauen historischen Forschung, die Bickerton einklagt und in der Erinnerungskultur zu Recht vermisst. Die persönliche Inspiration, der Bezug zum eigenen Begehren und Erleben ist auf diese Weise keineswegs hinderlich für eine genaue und mühsame Erforschung von Quellen und Daten, sondern im Gegenteil ihre Voraussetzung. Nur wenn nämlich ich wirklich aus persönlichem Interesse und Begehren heraus wissen will, was damals passiert ist, was Frauen und Männer damals getan und gedacht haben, werde ich mir jede große Mühe geben, genau dies möglichst gut herauszufinden. Geht es mir nur um die objektiven Daten und Fakten, ohne persönliches Interesse, ist die Gefahr weitaus größer, das ich nur die bekannten Meinungen aus der bereits existierenden Sekundärliteratur abschreibe – und auf diese Weise zustande gekommene Geschichtswerke füllen ja in der Tat die Bibliotheken.
Sowohl die Erinnerungskultur als auch die klassische Geschichtsschreibung lassen genau dieses Moment des persönlichen Involviertseins außen vor. Während die klassische Geschichtsschreibung angeblich objektive Kriterien für Bedeutsamkeit behauptet und kanonisiert, die gültig sein sollen unabhängig vom persönlichen Interesse der oder des Historikers, ist die Erinnerungskultur von moralischen Ansprüchen und Identitätsstreben geprägt, die ebenfalls von außen an das der Geschichte begegnende Individuum herangetragen werden. Beide Herangehensweisen vernachlässigen den Aspekt des persönlichen Begehrens der oder desjenigen, die sich mit Geschichte beschäftigt. Mit der Folge, dass beide, zum Beispiel von Schülerinnen und Schülern, als gleichermaßen langweilig empfunden werden.
Ein Geschichtsverständnis, das sich auf das Begehren der Forschenden stützt, auf ihr existenzielles Interesse an einem geschichtlichen Ereignis oder einer geschichtlichen Person, wird auch andere Formen der Geschichtsschreibung und des Erinnerns hervorbringen. Und es wird die derzeitige Trennung von beidem Überwinden. Es wird keine speziellen Lexika mehr hervorbringen, die die angeblich »wichtigsten« Persönlichkeiten der Geschichte auflisten oder tote Bücher, die Zahlen und Fakten auflisten. Ob eine historische Person oder ein bestimmtes historisches Ereignis wegweisend war und ist, entscheidet sich nämlich nicht durch eine objektive Bedeutsamkeit daran, ob sie mir heute einen Weg weist – nicht, indem sie mich bestätigt in dem, was ich sowieso schon weiß und will, sondern indem sie mich herausfordert, neue Wege auszuprobieren, die mir selbst nicht eingefallen wären. Dieses weibliche Geschichtsbewusstsein bringt aber auch keine Denk- oder Mahnmäler hervor, die eine bestimmte moralische Sicht auf die Geschichte dokumentieren und zur Identifizierung auffordern. Aber trotzdem bleibt es nicht individuell, sondern manifestiert sich auch öffentlich, und es wäre schön, wenn dies noch weiter passieren würde.
Solche neue Formen des weiblichen Erinnerns gibt es ja auch bereits. Ein gutes Beispiel ist das Frauen-Gedenk-Labyrinth, das Dagmar von Garnier ins Leben gerufen hat und das derzeit in Wiesbaden zu sehen ist, und das beweist, dass dieses persönliche Erinnern nicht nur individuell ist, sondern eine öffentliche Bedeutung annehmen kenn. Es ist ein Labyrinth, das aus Gedenksteinen besteht für historische Frauen. Welche Frau hier geehrt und erinnert wird, hat keine Kommission festgelegt, sondern es ist getragen vom Engagement von einzelnen Frauen und Frauengruppen, die sich über eine bestimmte Frau, die sie interessant finden, engagieren, sich über sie informieren, von ihr erzählen. Und die Geld sammeln, um einen Gedenkstein für sie finanzieren zu können.
Auf diese Weise werden inzwischen fast 500 Frauen geehrt und die Erinnerung an sie wach gehalten – eine Sammlung, die nach herkömmlichem Geschichtsbild ganz unstrukturiert und ohne System zu sein scheint. Berühmtheiten wie Königinnen, Politikerinnen oder Denkerinnen sind ebenso dabei, wie mythologische Figuren, die es »in Wirklichkeit« gar nicht gegeben hat. Aber auch Frauen, die nur für wenige von Bedeutung sind, wie spirituelle Lehrerinnen Einzelner. Es sind Frauen dabei, die schon vor Jahrhunderten gestorben sind, und andere, die noch leben. Frauen, die auch in den historischen Kanon der akademischen Geschichtsforschung Eingang gefunden haben, ebenso wie Frauen, die nach diesen Kriterien als »unbedeutend« gelten.
Denn es gibt keinen »objektiven« Maßstab dafür, welche Frau einen Platz im Labyrinth bekommt. Der Maßstab ist nur der, dass eine oder mehrere Frauen von dieser Frau so beeindruckt sind, dass sie sich für ihren Gedenkstein engagieren. Diese Gedenksteinpatinnen sind daher ebenso wichtig, wie die geehrten Frauen selbst. Sie organisieren Veranstaltungen zu »ihrer« Frau, finden Sponsoren und Geldgeberinnen, und sie treffen sich regelmäßig zu Kongressen, wie jetzt am 6. und 7. Mai. Es ist keine abstrakte, langweilige »Geschichte«, die zum Allgemeinwissen gehört, egal ob sie mich persönlich berührt oder nicht, sondern es ist eine wirklich lebendige Erinnerung, lebendig in dem Sinn, dass sie nicht nur die Vergangenheit konserviert, sondern eine Beziehung herstellt zwischen der Vergangenheit und dem Heute, und zwar eine Beziehung, die in der Person derjenigen, die Geschichte erforscht, verankert und vermittelt ist.
Brauchen wir also »große« Frauen? Welchen Sinn hat die historische Frauenforschung? Ja, wir brauchen »große« Frauen. Aber diese Größe bemisst sich nicht an ihrer objektiven, weltgeschichtlichen Bedeutung, sondern daran, welche Bedeutung diese Frau für mich hat, ob sie mich so begeistert, dass ich gerne von ihr erzähle und mich dafür einsetze, die Erinnerung an sie lebendig zu halten, weil ich etwas von ihr gelernt habe und weil sie mich weiter gebracht hat.
Andrea Günter hat das in ihrem Büchlein über »Frauenvorbilder« so formuliert: »Das Vorbild steht für eine Differenz, die dadurch fruchtbar wird, dass sie frei aufgegriffen wird. Vorbilder für Frauen zu suchen, heißt die Kraft der Ungleichheit in Beziehungen in Anspruch zu nehmen. Bei der Suche nach weiblichen Vorbildern ist es daher nicht sonderlich ergiebig, auf Frauen zurückzugreifen, die den eigenen Vorstellungen, Eigenschaften oder Pflichten entsprechen. Wichtig ist hingegen ob diese Frauen dazu anregen, einen Weg für das eigene Begehren in der Welt zu finden, dabei weibliche Größe zum Ausdruck zu bringen sowie weibliche Freiheit zu erringen und zu bewahren.« (S. 53).
Historische Frauenforschung ist wichtig, weil es noch viele historische Frauen zu entdecken gibt, die eine solche Vorbildfunktion haben könnten. Aber ihr Sinn ist es nicht, eine Lücke in der männlichen Geschichtsschreibung zu füllen, sondern eine neue Perspektive auf die Geschichte zu ermöglichen und weibliche Anknüpfungspunkte, die uns herausfordern, in der Auseinandersetzung mit historischen Frauen und dem, was sie taten und wie sie politisch handelten, unsere eigenen Gewissheiten immer wieder in Frage zu stellen.
Vortrag im Evangelischen Frauenbegegnungszentrum, 20.4.2006 und am 1.2.2010 in der VHS Aalen.
Zum Weiterlesen: Ina Praetorius (Hg): Sich in Beziehung setzen. Zur Weltsicht der Freiheit in Bezogenheit, Königstein 2005
Ina Praetorius: Handeln aus der Fülle, Gütersloh 2005
Andrea Günter: Frauen vor Bilder – Frauenvorbilder, Rüsselsheim 2003
Dorothee Markert: Wachsen am Mehr anderer Frauen, Rüsselsheim 2003
Antje Schrupp: Das Aufsehen erregende Leben der Victoria Woodhull, Königstein 2002
Antje Schrupp: Zukunft der Frauenbewegung, Rüsselsheim 2004
Hannah Arendt: Vita activa, Piper 1998
Hannah Arendt: Über das Böse, Piper 2006
Anna Maria Piussi: Jenseits der Gleichheit…. in: Andrea Günter (Hg): Pädagogik und sexuelle Differenz (Arbeitstitel), erscheint voraussichtlich im Herbst 2006 im Ulrike Helmer Verlag. Darin auch ein Artikel von mir über die Weiterführung des Denkens der Italienerinnen im deutschen Bildungsbereich.
Annabelle Pithan: Religionspädagoginnen des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2001
Annabelle Pithan: Liselotte Corbach (1910–2002),Neukirchen-Vluyn2004
Dagmar von Garnier: Buch der 1000 Frauen (inzwischen 3 Bände), Rüsselsheim.
Chris J. Bickerton: Frankreich ohne Austerlitz, Monde Diplomatique, April 2006, S. 12f, im Internet nur auf englisch verfügber: http://mondediplo.com/2006/02/14postcolonial