Liebe zur Freiheit - Hunger nach Sinn. Flugschrift über Weiberwirtschaft und den Anfang der Politik
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Lucia Schuhegger und Petra Wlecklik: Politik und Spiritualität - Experimentieren ist angesagt Der Weg ist das Ziel?- unser Experiment Diese alte Lebensweisheit beschreibt einen Weg des Experimentierens, des prozesshaften Lernens, der Wirrnisse, Entscheidungen und Erkenntnisse. In der Tat ist es so, dass frau nicht jeden Weg geht, um an ein Ziel zu gelangen. Als wir dieses Experiment begonnen haben, wussten wir weder, dass wir uns auf den Weg machen würden, noch um welches Ziel es sich annähernd handeln könnte. Wir laden ein, manchen holperigen, aber auch lustvollen Pfad mit uns zu gehen und hoffen, neue Wege aufzuzeigen, die es sich lohnt weiter zu erforschen. Nachdem wir 1996 unsere Ausbildung in Zülpich beendet hatten, sind wir frohgemut an die Orte zurückgekehrt, an denen wir auch schon vorher Seminare besucht oder selber durchgeführt hatten. In der Zeit der Ausbildung haben wir uns und unsere Themen sich verändert. Andere Aspekte und Sichtweisen kamen hinzu. Mit unserem neuen Ansatz gab es an verschiedenen Orten Schwierigkeiten. In unserem Lebens- und Arbeitsumfeld konnten die einen neue politische Ansprüche nicht einordnen, andere befürchteten, wir könnten nun esoterisch arbeiten. Wir waren irritiert. Unsere eigene Verunsicherung und die Verunsicherungen, die wir in unserem Umfeld in bezug auf Esoterik, Spiritualität und Politik wahrgenommen haben, waren die Ausgangspunkte unseres Weges.
Achtung: Gefahrenzone Viele Frauen fürchten, sich durch die Annäherung an Spiritualität in die Nähe von Esoterik, nationalsozialistischer Ideologie oder Sekten zu begeben. So prägen nicht selten Unverständnis, Bewertungen, Enttäuschungen und Tabus den Umgang mit dem Thema Politik und Spiritualität aber auch mit den Frauen, die scheinbar jeweils die andere Position vertreten. Für den ersten Teil unserer Reise entschieden wir uns deshalb, uns mit dem Begriff Esoterik, den Hintergründen und Vorbehalten auseinander zu setzen. Schauen wir uns die heutige Bedeutung des Wortes Esoterik an, so wird deutlich, dass es keine eindeutige Definition gibt. Im ursprünglichen griechischen Sinne ist "esoterikós" das Geheime, das Verborgene, das Innere. Der ursprünglich exklusive Kreis ist aber unter den Einwirkungen und Verlockungen des Marktes mehr und mehr der Öffentlichkeit preisgegeben worden. Dennoch hat der Boom der letzten Jahre diesen Begriff nicht transparenter, sondern eher verschwommener werden lassen. Im weitesten Sinne lässt sich Esoterik als die Lehre von den verborgenen übersinnlichen Kräften und von den Methoden zur Erkenntnis dieser okkulten Zusammenhänge verstehen. In den 60er Jahren hatte die sich als esoterisch verstehende Bewegung noch visionäre Kraft. Auf der Suche nach politischer Emanzipation und Befreiung spielten Elemente der seelischen Selbstbefreiung bereits eine Rolle. Die aufkommende Kritik an der instrumentellen Vernunft und die Suche nach besseren Möglichkeiten beförderten die Wiederentdeckung und Rehabilitierung früherer und außerhalb des sogenannten westlichen Kulturkreises liegender spirituell-ganzheitlicher Orientierungen. Ein Beispiel dafür ist die Suche der Hippie-Generation nach Wegen, die Enge des westlichen Bewusstseins zu überwinden und durch östliche Methoden der Meditation und Experimenten mit Drogen eine Erweiterung des Bewusstseins zu erreichen. In einer völlig anderen Art, gehört auch die Verbindung von östlicher Spiritualität und Psychotherapie, wie sie z.B. Fritz Pearls, der Begründer der Gestalttherapie, entwickelt hat, zu diesem Themenkreis; ebenso die Wiederentdeckung matrizentrischer Kulturen und deren Potenzial zur Kritik an den bestehenden Verhältnissen durch die Frauenbewegung. Vorerst produzierte diese vielfältige und sich aus vielen Quellen speisende Bewegung noch gegenkulturelle Milieus, doch sie vermochte es nicht, das Bürgertum mehrheitlich in einem solidarischen Sinne zu verändern. Die gegenkulturellen Elemente wurden assimiliert und für diejenigen Ziele instrumentalisiert, die unsere leistungsorientierte Gesellschaft benötigt. Der Durchbruch der Esoterik als Massenphänomen lag in den materiell und ideologisch konkurrenzlosen 80er Jahren, in denen das Individuum zum ausschließlichen Maßstab des Lebens gemacht wurde. Durch die Entideologisierung der Bewegung und zum Teil inhaltliche Trivialisierung entstanden und entstehen Angebote, die sich aus widersprüchlichen Fragmenten zusammenfügen, ohne die historischen oder kulturellen Hintergründe zu erläutern. In den konkreten Erscheinungsformen gehören hierzu sehr verschiedene, wenn auch häufig einander überschneidende Bereiche, Traditionen und Praktiken. Sie reichen von schamanistischen Trancetechniken aus den unterschiedlichsten Kulturen, über Wahrsagen, Channeln und Kontakt mit Außerirdischen bis hin zu trivialisierten Formen der Meditation, um nur einige Beispiele zu nennen. Es geht uns an dieser Stelle nicht darum, diese Praktiken pauschal zu kritisieren, sondern Gefahren und bedenkliche Tendenzen in diesem Umfeld zu benennen. Maria Mies formulierte schon in den 80er Jahren: "?Die Kaputtheit der kapitalistischen Industriegesellschaft soll durch östliche Methoden, Praktiken und Weltanschauungen geheilt werden." So werde Esoterik zu einer Massenware, die, wie andere Waren auch, konsumiert, verbraucht und weggeworfen werde. Saral Sarkar nennt solche Angebote "Luxusspiritualität", die nicht imstande sei, das bestehende System zu hinterfragen und die Suche nach einer besseren Gesellschaft zu integrieren. Esoterische Erfolgsprogramme für die Wirtschaft nehmen bis heute sprunghaft zu. So formuliert Hemminger etwas bissig, "dass die Ekstase des indianischen Rundtanzes, dem im Hotelsalon hüpfenden Ingenieur und der schwitzenden Grundschullehrerin nicht dazu dient, den Alltag zu verlassen, sondern wie ein Urlaub auf Mallorca dazu, mit dem Leistungsdruck im Beruf und dem Beziehungsstress in der Ehe besser fertig zu werden. "Führungskräfte können so mit besser gepolsterten Ellbogen für den wirtschaftlichen Konkurrenzkampf versehen werden. Die Verhältnisse werden reproduziert. Unterdrückung, Ausbeutung und Konkurrenz werden hingenommen und ein jeder, eine jede sucht sich seinen/ihren Weg, ohne Rücksicht auf andere Menschen. Nach dem Motto "Jeder ist seines Glückes Schmied" soll das eigene Leben optimal und effektiv gestaltet werden. Ein anderer Aspekt bei der Betrachtung von Esoterik betrifft das Politische. So wird vermutet, dass, je stärker die Tendenz zum Esoterischen wird, die Gefahr der politischen Abstinenz wächst. "In Situationen, in denen sich das Individuum politisch ohnmächtig fühlt, ist der Griff zu esoterischen, d.h. einfachen Lösungen, verführerisch nahe." Auf der einen Seite werde das Individuum immer wichtiger, auf der anderen Seite fühle es sich immer ohnmächtiger: "In dieser Situation macht die Esoterik dem Individuum das Versprechen, Ohnmacht zu überwinden, zum Beispiel durch Pendeln, durch die Kenntnis kosmischer Gesetze und so weiter. Zugleich macht die Esoterik die Menschen unempfindlich, gegen das, was in der Welt passiert." Andere gehen mit ihren Befürchtungen und Analysen noch einen Schritt weiter. Es geht ihnen gerade nicht um die oben beschriebene politische Abstinenz, sondern sie sehen in der "esoterischen Ideologie eine Vielzahl von Elementen, die mit faschistischer Ideologie kompatibel sind. (...) Esoterische Ideologie stolziert in vielfältigen Gewändern herum, bieder und vertraut, altmodisch und modern, schillernd und exotisch, so unterschiedlich, dass vielen nicht auffällt, dass sich unter der Verkleidung dasselbe emanzipationsfeindliche Wesen verbirgt. Während naive Eso-KonsumentInnen die Esoterik als Sammelsurium für Entspannungstechniken gegen Alltagsstress grandios fehleinschätzen, haben die politische Rechte und die faschistische Szene die Esoterik längst wieder für sich entdeckt." Bei genauer Betrachtung der esoterischen Lehren und des patriarchalen Herrschaftssystems werden gemeinsame Elemente wie z.B. hierarchische Strukturen und elitäres Gedankengut deutlich. Esoterik in diesem Sinne, dient aus der Sicht von Ruth Spielmann als Mittel zur Verfestigung patriarchaler Herrschaft. Die "Vereinnahmung und Pervertierung des uralten Wissens um die Zyklizität allen Seins, um die Zusammenhänge von Erde und Kosmos, von Wissen um Leben, Tod und Wiedergeburt, von der Kenntnis der alten Heilweisen, kurz gesagt vom ältesten Frauenwissen" bilden dafür die Grundlage. Auf dem Weg bis hier her wurde uns deutlich, dass wir die beschriebenen Gefahren im Auge behalten und unsere Arbeit stets kritisch überprüfen und von anderen Frauen begleiten lassen wollen. So entwickelten wir unsere Maßstäbe und Kriterien der Abgrenzung, die für unsere Haltung und Arbeit wichtig werden sollten. Inwieweit weisen Theorien und Praxen Elitegedanken, hierarchische und autoritäre Strukturen (Führerkult, Auserwählte/r, oben und unten) die Überhöhung des Individuums oder aber des Kollektivs über das je andere die Auf- und Abwertung von Menschen und Prozessen, das dualistische und spaltende Denken auf.
Orientierungsschilder Die Auseinandersetzung mit Esoterik und die Formulierung unserer Kriterien befreite uns dazu, uns in das Thema unserer positiven Bestimmung von Politik und Spiritualität zu begeben. Es geht uns vor allem darum, unser Verständnis von Spiritualität abzugrenzen von Formen der Spiritualität und Esoterik, die die patriarchale und kapitalistische Gesellschaft stützen, statt gesellschaftskritische, befreiende und transformative Impulse im Sinne eines demokratischen und solidarischen Miteinanders zu vermitteln. So sind auch wir auf der Suche nach spirituellen und politischen Formen, wie wir unserem Alltag eine bewusstere und lebensbejahende Dimension geben, Bilder eines freien Frau-Seins vermitteln, uns gegenseitig auf unserem Weg zu Authentizität unterstützen, unsere Potenziale frei ausdrücken, die kapitalistisch-patriarchale Gesellschaft kritisch hinterfragen, gesellschaftliche und individuelle Veränderungsprozesse in Gang setzen, können. Um die persönliche und gesellschaftliche Verantwortung im Hier und Jetzt zu übernehmen, nehmen wir sowohl die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als auch das individuelle Handeln, die Selbsterfahrung und die alltägliche spirituelle Praxis als Ausgangspunkt für unsere Überlegungen, denn erst das Wechselverhältnis dieser Bedingungen stellt die Grundlage für unser Handeln dar. Um uns einer solchen Praxis anzunähern, können wir uns auf die Arbeiten vieler Frauen beziehen, die sich um diese Integration bemühen: Die Frauen von Juchitán , Barbara Starrett , Starhawk , Dorothee Sölle , Joanna Macy um nur einige wenige als Beispiele zu nennen.
Rast- und Ruheplätze Politik und Spiritualität werden im alltäglichen Umgang der Gesellschaft und auch weiter Teile der Frauenbewegung in zwei sich ausschließende Bereiche gespalten: Spiritualität wird meist dem Inneren des Menschen, Politik meist dem Äußeren der Gesellschaft zugeordnet. Für unseren Politikbegriff beziehen wir uns vorrangig auf den Ansatz der Mailänderinnen , in dem die Integration von Individuum und Gesellschaft, Privatem und Politischem schon vorgegeben ist. Sie üben Kritik an einem Politikverständnis, das sich definiert über ein Gesellschaftsmodell, das es irgendwann einmal zu erreichen gilt. Der Gegenwart, dem Hier und Jetzt, wird in einem solchen Modell immer nur eine Übergangsfunktion zugewiesen. Das heißt, alles intensiv und unmittelbar Erlebte - die Begegnung im Bus, der Konflikt auf der Arbeit, der Streit um die Schließung der Kindertagesstätte - wird als politische Situation ausgeblendet oder abgewertet. Die Politik in den Parlamenten, die nicht enden wollenden Debatten um die Verteilung der Gelder werden häufig aufgewertet und als die ?richtige? und ?ausschließliche? Politik wahrgenommen. Der Hebel des Politischen ist im Modell der Mailänderinnen jedoch etwas anderes, nämlich das Begehren oder ein ?Von - sich - selbst - ausgehen? . Begehren wird hier verstanden als Orientierung, als Gestaltungselement, als Wegweiser. Begehren bedeutet, die Aufmerksamkeit auf das eigene, konkrete und alltägliche Leben zu richten und dabei auf die Gefühle zu achten, mit denen wir etwas erleben. Wir gehen in unserem Politikverständnis anhand der Theorie und Praxis der Mailänderinnen von unseren eigenen Gefühlen und Widersprüchen aus, wie wir sie selbst als Personen wahrnehmen. Denn diese wahrnehmen und deuten zu können, ist eine Möglichkeit, eine Wahrheit an die Welt zurückzugeben. Von sich selbst auszugehen heißt für uns nicht, sich in Innerlichkeit zu aalen, sondern ist ein Weg, um persönlich Erlebtes, als eine Weise zu interpretieren, in der sich die Welt zeigt. Weiterhin heißt das, wir gehen von etwas aus, was wir schon haben, mehr noch wir gehen vom Stärksten aus, was uns zur Verfügung steht, nämlich dass wir die Welt so gestalten wollen, dass wir mit Wohlbehagen in ihr leben können. Begehren kann dennoch nicht konkret gefasst werden. Wir können nicht immer genau sagen, was unser eigenes Begehren ist, da es nur eine Orientierung im Leben bietet, über die wir erst unterwegs immer wieder neu unterrichtet werden. Erst, wenn wir uns auf den Weg machen, wenn wir handeln, werden wir erfahren, was es ist. Begehren zeigt sich auch in Ereignissen der Welt, die uns anziehen. Diese Momente können bedeutungsdichter und intensiver empfunden werden . Es gibt Dinge und Begegnungen im Leben, die immer wieder auftauchen, sich zeigen und wieder und wieder eine neue Herausforderung bieten. Es sind Begegnungen, die uns nachgehen und nicht loslassen. Es sind unsere Blicke, die wir immer wieder zu einem Ereignis richten. Diese Momente bleiben jedoch ohne Bedeutung, wenn wir ihnen nicht im Handeln, im Schreiben und im Sprechen alleine und mit anderen einen Sinn geben. So kann in einem ?Von - mir - selbst - Ausgehen? zusammen mit anderen, also in Begegnung und im Kontakt, ein Wissen über die Welt entstehen, das uns hilft, sinnvoll politisch zu arbeiten. Das bedeutet, wenn ich über meine Erfahrungen spreche, ich auch über die Welt spreche, da ich ein Teil der Welt bin. Dieses Begehren immer wieder neu einzusetzen, zu üben und weiterzuentwickeln ist es, was eine Politik gestalten hilft, die wirklich fähig ist, die Welt im Sinne unserer Bedürfnisse und Wünsche zu verändern. Unsere Präsenz im Hier und Jetzt wird so zum Ausgangspunkt im politischen Kampf und bei der Produktion neuer gesellschaftlicher und persönlicher Gedanken. Zwischenmenschliche Beziehungen und Begegnungen stehen an vorderster Stelle. Politik findet nicht mehr nur in der Zukunft der Planung für und den Utopien von einer besseren Gesellschaft statt. In der Gegenwart wird Politik konkret, im alltäglichen Leben, im Umgang miteinander, im Lernen voneinander und im gemeinsamen Ringen um Urteile und Entscheidungen. Der Begriff Spiritualität leitet sich ab vom lateinischen ?spiritus?, der die Bedeutungen von Lufthauch, Atem, Leben trägt. Spiritualität könnten wir also benennen als die grundlegende Verbindung zum Atem, zum Leben. Luce Irigaray assoziiert mit Spiritualität ?eine Atmung, die von Innen nach Außen geht, vom Inneren zum Äußeren des Körpers. Ein Geist, der das Leben des Universums mit dem Tiefsten der Seele verbindet; das was inspiriert, ist nicht getrennt von der kosmischen Atmung. Eine Dynamik, wo nichts in verbrauchten oder des Sinns beraubten Worten stagniert, in staubigen Schlupfwinkeln des Herzens oder des Bewusstseins.? Wir verstehen unter der spirituellen Dimension des Lebens die gegenseitige Verbundenheit von allem, was existiert. So benannt, besteht die Praxis der Spiritualität darin, Wege zu finden, diese Verbundenheit von Augenblick zu Augenblick zu empfinden, ihr Ausdruck zu verleihen in den Situationen alltäglicher Begegnungen. Konkret wird dieses Wissens und diese Empfindung in einem Handeln, das sich darin übt, aus Verbundenheit, Liebe, Mitgefühl und Verantwortung tätig zu werden. In dieser Weise betrachtet, löst sich auch im Bereich der Spiritualität die Spaltung von Innen und Außen, Individuum und Gesellschaft auf. Wir sind verbunden durch unsere Existenz und das Leben und stehen in einer ständigen Wechselbeziehung zur Welt. So vermitteln uns z.B. die buddhistische Philosophie und die Praxis der Meditation zwei grundlegende Einsichten. Zum einen die Wahrnehmung, dass wir in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander leben und zum anderen, dass nichts ohne Ursachen entsteht. Die Welt wird als organische Ganzheit erfasst, in der jedes Teil auf jedes andere einwirkt. Joanna Macy schreibt dazu: ?Im Netz des Lebens hängt alles voneinander ab und bedingt sich gegenseitig. Das gilt für jeden Gedanken, jedes Wort und jede Handlung und auch für jedes Lebewesen.? Das heißt, jede Bewegung, die ich mache, sei sie geistig, sprachlich oder anders handelnd, beeinflusst alles andere. Im tiefsten ist das die Bedeutung der Leerheit: Nichts hat eine unabhängige, getrennte Existenz. Alles ist lebendig und beeinflusst alles andere. Wenn wir diese Verbundenheit empfinden, fördert das unseren Sinn für universale Verantwortung. Unser Verhalten wirkt direkt auf die Gesellschaft ein und hat tiefgreifende Auswirkungen. Das heißt, dass jede in gewissem Maß zu Gewalt und Unterdrückung beiträgt, aber dass jede auch die Möglichkeit hat, einzugreifen und verändernd zu handeln. Konkret meint das: Wenn ich im Bus unterwegs bin und höre, wie über eine Person hergezogen wird, habe ich immer die unterschiedlichsten Möglichkeiten. Ich kann weghören oder bewusst hinhören, ich kann schweigen oder etwas sagen. Jede dieser Handlungen wird etwas bewirken und in Bewegung setzten. Wie ich etwas sage und handle ist abhängig von meiner inneren Haltung mir und der Welt gegenüber. Eine Politik, die sich auch als spirituelle versteht, muss deshalb, nach unserem Verständnis, selber einer Haltung der Liebe und Verbundenheit entspringen. Eine Politik, die aus Emotionen wie Hass, Zorn, Angst, Misstrauen entspringt, wird trennen, weil sie die Trennung von denen manifestiert, die wir hassen oder vor denen wir Angst haben. Eine Politik, die diesen Emotionen entspringt, wird Trennung und die entsprechenden Reaktionen hervorrufen. Viele kennen das Gefühl, dass Wut und Hass scheinbar Energie im politischen Kampf geben. Wenn wir aber sehr genau beobachten, stellen wir fest, dass sie uns selber verletzen, Energie und Ruhe rauben und die Urteilskraft trüben. In der Folge dieser Auseinandersetzung formulierten wir: Radikales politisches Handeln kann ihre Wurzeln nur in der Spiritualität finden, denn politischem Handeln ohne spirituelle Fundierung fehlt das Bewusstsein und die Empfindung der Verbundenheit. Darüber hinaus befindet sich eine Politik ohne spirituelle Basis in der Gefahr der Veräußerlichung, des blinden Aktionismus, dem es an tiefgreifenden Kriterien mangelt. Andererseits zeigt sich radikale Spiritualität in der Radikalität des politischen Handelns. Spiritualität, die sich nicht in einem politischen Handeln äußert, das der Verbundenheit Ausdruck verleiht, ist hohl und sinnlos. Sie befindet sich in der Gefahr, eines Individualismus und spirituellen Egozentrismus und verfehlt sich dadurch selbst. Sowohl spirituell wie politisch geht es um die Befreiung zum Eigentlichen des Lebens und diese Befreiung muss sich im Alltag unserer Begegnungen, unseres Wohlbefindens und unserer individuellen und gesellschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten manifestieren. Joanna Macy schreibt dazu: "Unterwegs wird bei jedem Schritt erkennbar sein, dass ein Handeln, welches dem Leben dient, uns verwandelt. Die Beziehung zwischen dem Selbst und der Welt ist eine Wechselbeziehung, und so kann es nicht darum gehen, zuerst Erleuchtung oder Erlösung zu finden und dann zu handeln. Während wir mitarbeiten, die Erde zu heilen, heilt sie auch uns. Es gibt also keinen Grund eine Sache aufzuschieben. Schon indem wir uns wichtig genug nehmen, um auch Risiken einzugehen, lockern wir den Griff des Ego..." Mit dieser Haltung trauten wir uns dann an die Öffentlichkeit. Wir machten Rast und schrieben unser erstes Seminar in Zülpich zu dem Thema "Politik und Spiritualität" aus. Vorher erprobten wir gemeinsam neue Methoden, tauschten uns mit den Frauen unserer Ausbildungsgruppe aus und diskutierten unsere Thesen. Vieles war noch unvollständig, nicht rund, aber wir blieben dabei. Das Seminar fiel aus. Stattdessen bekamen wir eine Anfrage der Zeitschrift "Schlangenbrut". Wir wurden eingeladen unseren Bildungsansatz, das Seminar und unsere Überlegungen zu Politik und Spiritualität zu beschreiben. Wir nahmen die Einladung an und forschten weiter in unseren eigenen Aufzeichnungen, unseren Briefen und verschiedenen Büchern. Wir verfassten Gedanken, beschrieben unsere Praxis und stellten unseren Text anderen Frauen und Männern zur Diskussion. Unser Text wurde mit kritischem Wohlwollen aufgenommen und wir bekamen wertvolle Anregungen. Deutlich wurde uns auch, dass unsere gelebte Praxis und unsere Auseinandersetzung weiterhin von Spaltungen und Vorbehalten geprägt sind.
Und wieder eine Weggabelung Eine weitere Möglichkeit zur Analyse der Spaltung von Politik und Spiritualität finden wir bei Barbara Starrett und Jean Gebser . Ihre Arbeiten zum Thema Bewusstsein, bilden eine Grundlage des GAIA-Konzeptes und dienen uns auch für eine kritische Betrachtung. In diesem Artikel beziehen wir uns hauptsächlich auf die Analysen Jean Gebsers zur Strukturierung des menschlichen Bewusstseins. Nach ihm entwickelte es sich menschheitsgeschichtlich aus einer archaischen über eine magische in eine mythische und schließlich mentale Ebene. Das archaische Bewusstsein ist charakterisiert durch die ganzheitliche Identität, das magische durch richtungslose, einheitliche Verflochtenheit mit der Welt. Im mythischen Bewusstsein entstehen einander ergänzende Polaritäten, die sich im mentalen Bewusstsein zu Dualitäten, zu nicht mehr zu vereinbarenden Gegensätzlichkeiten ausdifferenzieren. Alle diese Ebenen sind heute trotz unterschiedlicher Ausprägung in uns vorhanden und können jederzeit aktiviert werden. Auch wenn die Spiritualität, die wir selber in feministischen Gruppen erlebt und mitgestaltet haben, den Mustern einer "Luxusspiritualität" meist nicht folgt, ist Kritik an manchen Stellen doch angebracht. So gibt es auch Formen feministischer Spiritualität, die die magische und mythische Ebene des Bewusstseins überhöht und die mentale abwertet. Es besteht dann die Tendenz, Individuelles, Persönliches, Biographisches und die Reflexion auf das Geschehen auszuschalten und diejenigen, die daran Kritik üben oder sich nicht so leicht auf diese Bewusstseinsebenen einlassen können, auszugrenzen. Die Ursachen dafür sehen wir im Mangel an magischem Erleben und mythischem Erfahren in den westlichen Gesellschaften, die sich verstärkt an der mental-rationalen Bewusstseinsstruktur orientieren. Viele sind daher auf der Suche nach solchen Erfahrungen. Gefährlich wird der Rückbezug auf die magische Bewusstseinsebene allerdings dann, wenn, wie Gebser ausführt, die magische Struktur überaktiviert wird und ausschließlich auftritt. In diesem Fall werden Rationalität, Individualität, Differenzierung, Unterschiedlichkeit, die dem mentalen Bewusstsein eigen sind, ausgeblendet; die individuelle Verantwortung, das ?Ich? wird zugunsten der Gruppe, des "Wir" aufgegeben. Das Kollektiv ist dann alles, die Einzelne nichts. Für unsere Arbeit leiten wir daraus ab, dass wir uns den Reichtum aller Bewusstseinebenen erschließen müssen, d.h. das magische Erleben in der Gruppe z.B. durch gemeinsames Trommeln, das mythische Erfahren z.B. durch Phantasiereisen der Einzelnen in der Gruppe und das mentale Vorstellen z.B. durch Reflexion und Abstraktion. Um die Fülle der Funktionen und Fähigkeiten unseres Bewusstseins auszuschöpfen, müssen alle Ebenen gleichwertig gewahrt werden. Emotionale Intensität ist dabei nicht vom Intellekt zu trennen.
Alle Wege führen nach... - Lernen am "Mehr" einer anderen Frau Einen Weg, wie wir dieses Ziel erreichen können, zeigen uns die Mailänderinnen mit ihrem Ansatz. Sie beschreiben, wie sich die Unterschiedlichkeit von Frauen, die Fülle ihrer Potenziale jenseits von Auf- und Abwertungen, formellen und informellen Hierarchien und magischer Gruppenkonformität integrativ entfalten kann. Die Spaltung zwischen politischen Frauen, die in ihrem Handeln mehr die mentale Bewusstseinsstruktur und die Analyse betonen und den spirituellen Frauen, die sich mehr an der magisch-mythischen Bewusstseinsebene, an Intuition und Selbsterfahrung orientieren, kann auf diese Weise überwunden werden. Eine jede kann für sich in Zusammenarbeit mit anderen Frauen die unterschiedlichen Bewusstseinsebenen entdecken, integrieren und für ihre Arbeit und ihren Alltag nutzen. Alles intensiv und unmittelbar Erlebte kann so zum Ausgangspunkt für Politik werden. Zwischenmenschliche Beziehungen, Begegnungen mit Frauen und Männern stehen an vorderster Stelle .
Mit Mut und Lust auf die Suche gehen - GAIA konkret Durch die Auseinandersetzung mit dem Bewusstsein und der Theorie von Jean Gebser bietet GAIA die Möglichkeit, die Dualismen, die in der patriarchal-kapitalistischen Gesellschaft herrschen, als Ausdruck der mental-rationalen Bewusstseinsstruktur auszuweisen. Alle Dualismen, die wir vorfinden, wie z.B. Gefühl-Verstand, Politik-Spiritualität, Innen-Außen, Individuum-Gesellschaft, können auf diese Weise zurechtgerückt werden und verlieren ihre spaltende Macht - sie sind Erkenntnisweisen des Bewusstseins, die eine begrenzte Gültigkeit haben. In der konkreten Seminararbeit bieten wir Frauen an, sich ihr politisches und spirituelles Geworden-Sein genauer anzuschauen. Mit Methoden der Selbsterfahrung und der Biographiearbeit entdecken wir Orte, Personen, Rituale und Geschehnisse unserer Geschichte, die zwar in der Vergangenheit verortet sind, aber bis heute unser Handeln, unsere Urteile und unsere Sehnsüchte prägen. Erlebnisse während des ersten Kirchgangs oder Eindrücke während der Tagesschau werden sichtbar. Die dahinterliegende Struktur zu erkennen, ohne sie zu werten, wäre der erste Schritt zu einer Integration. Frauen tauschen sich gemeinsam aus über ihre Herkunft, ihre Wünsche, ihre Unterschiedlichkeiten und ihre Gemeinsamkeiten. Über solcherlei Annäherung wird deutlich, dass Frauen politische und spirituelle Wurzeln haben. Normen, Werte, Enttäuschungen haben häufig zu Abspaltungen geführt. Die Wertung anderer geht damit einher. Die Achtsamkeits- und Meditationspraxis, die wir in unsere Seminararbeit integrieren, ermöglicht es darüber hinaus, die Funktionsweisen des Bewusstseins durch Innenschau und genaue Beobachtung zu erforschen. In diesem Prozess kann nach und nach erkannt werden, wie das mentale Bewusstsein Dualismen bildet und immer wieder herstellt. So bleibt die Auseinandersetzung mit dem Bewusstsein nicht auf einer äußerlichen und abstrakten Ebene, sondern kann durch das eigene Erleben konkretisiert und integriert werden. Mit Hilfe verschiedener Elemente wie z.B. Ritual- oder Theaterarbeit finden Frauen sehr unterschiedliche Zugänge zu sich und ihren Themen. Gesänge, Kreistänze oder der Bau von Statuen rufen Unsicherheiten, Ängste und Vorbehalte hervor, eröffnen aber auch neue Wege und Möglichkeiten. Weibliche Vorbilder sichtbar zu machen und wert zu schätzen ist uns bei diesem Thema besonders wichtig. In der Auseinandersetzung mit Frauen aus den verschiedensten Bereichen kann es dann auch passieren, dass wir Seiten an ihnen entdecken, die uns Anstösse geben für unsere eigene Praxis. Modelle für eine andere Zukunft, ein anderes Leben und Arbeiten in denen Politik und Spiritualität als gemeinsame Basis gedacht und gelebt wurden und werden, kennenzulernen, gibt Mut zu üben und sich weiterhin auf die Suche zu begeben. In unserer Arbeit sprechen wir sowohl methodisch als auch inhaltlich die verschiedenen Potenziale von Frauen an und ermutigen, diese transparent zu machen. Die Integration von Politik und Spiritualität könnte aus unserer Sicht ihren Ausdruck finden in Aussagen, wie der von Rosa Luxemburg: "... Eine Welt muss umgestürzt werden, aber jede Träne, die geflossen ist, obwohl sie abgewischt werden konnte, ist eine Anklage; und ein zu wichtigem Tun eilender Mensch, der aus roher Unachtsamkeit einen Wurm zertritt, begeht ein Verbrechen..."
Viten Lucia Schuhegger, geb. 1962, Diplomtheologin, lebt in München, seit 1990 freiberuflich in der Bildungsarbeit mit Frauen bei unterschiedlichen Institutionen tätig, Ausbildung für feministische Bildungsarbeit (GAIA) bei Sylvia Kolk und Gisela Strötges, meditiert seit 1993 bei Sylvia Kolk. Petra Wlecklik, geb 1960, Politologin, lebt in Wuppertal, hauptberuflich tätig in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit, Ausbildung für feministische Bildungsarbeit (GAIA) bei Sylvia Kolk und Gisela Strötges, meditiert seit 1993 bei Sylvia Kolk. Hinweise Die Autorinnen bieten in Zusammenarbeit mit Sylvia Kolk und Christine Hoffmann ab Herbst 2000 eine eineinhalbjährige Fortbildung zu GAIA an. Die ausführliche Ausschreibung kann im Frauenbildungs- und Ferienhaus Zülpich, Prälat-Franken-Straße 22, 53909 Zülpich-Lövenich, Tel.: 02252/6577 bestellt werden.
Literatur: Arbeitskreis der Ruhrgebietsstätten gegen rechtsextreme Tendenzen bei Jugendlichen (AK-Ruhr)/Landeszentrale für politische Bildung NRW (Hrsg) (1998). Politisch-religiöse Weltbilder und Orientierungen junger Menschen als Herausforderung für Schule, Jugendarbeit und politische Bildung. Tagungsbericht der Fachtagung am 6. März 1997 in Essen. Essen. Bennholdt-Thomsen, Veronika (Hrsg) (1994). Juchitán - Stadt der Frauen. Hamburg. Brockhaus, Gudrun (1997). "Aber die Autobahnen...". In: Psychologie heute. Januar 1997, S. 60-65. Diotima und andere (Hrsg) (1999). Die Welt zur Welt bringen. Königstein/Taunus. Ditfurth, Jutta (1996). Entspannt in die Barbarei. Esoterik, (Öko-)Faschismus und Biozentrismus. Hamburg. Erdheim, Mario (1997). Esoterik macht selbstgerecht. In: Psychologie heute. Juli 1997, S. 39-41. Gebser, Jean (1986). Ursprung und Gegenwart. Das Fundament der aperspektivischen Welt. Beitrag zu einer Geschichte der Bewußtwerdung. Gesamtausgabe, 1. Teil. Schaffhausen. Hemminger, Hansjörg (1999). New Age und Esoterik: Bürgerliche Spiritualität oder billiger Eskapismus? In: Wechselwirkung, April 1999, S. 10-17. Irigaray, Luce (Hrsg) (1997). Der Atem von Frauen. Rüsselsheim. Kotler, Arnold (Hrsg) (1999). Engagierter Buddhismus heute. Frankfurt a.M. Kraft, Kenneth (1999). Engagierter Buddhismus. In: Kotler, Arnold (Hrsg) (1999), S. 63-70. Leuenberger, Hans-Dieter (1994). Das ist Esoterik. Einführung in esoterisches Denken. Freiburg. Liberia delle Donne di Milano (1996). Das Patriarchat ist zu Ende. Es ist passiert - nicht aus Zufall. Rüsselsheim. Liberia delle Donne di Milano (1991). Wie weibliche Freiheit entsteht. Berlin. Luxemburg, Rosa (1918). In: Rote Fahne 18.11.1918. In: Rosa Luxemburg - ein Leben für die sozialistische Idee. Ausstellung von Maxi Besold (Archiv Münchner Arbeiterbewegung e.V.) in Sprockhövel 1998. Macy, Joanna (1994). Die Wiederentdeckung der sinnlichen Erde. O.A. Mies, Maria (1984). Tantra - Magie oder Spiritualität? In: Beiträge zur feministischen Praxis, Heft 12/1984, S. S. 82-94. Mies, Maria/Shiva, Vandana (Hrsg) (1995). Ökofeminismus. Beiträg/e zur Praxis und Theorie. Zürich. Platta, Holdger (1997). Das Böse. Zu rechtsextremistischen Denkstrukturen in der zeitgenössischen Esoterikbewegung. In: Psychologie heute, Juli 1997, S. 33-38. Schuhegger, Lucia/Wlecklik, Petra (2000). Die Verhältnisse zum Schwingen bringen. Experimentierfeld Politik und Spiritualität. In: Schlangenbrut. Streitschrift für feministisch und religiös interessierte Frauen, Jahrgang 18, August 2000, S. 38-39. Sölle, Dorothee (1997). Mystik und Widerstand. Hamburg. Spielmann, Ruth (1994). Esoterik als Mittel zur Verfestigung patriarchaler Herrschaft. In: Wissenschaftsladen Innsbruck (Hrsg) (1994), S.1-4. Starhawk (1991). Mit Hexenmacht die Welt verändern. Freiburg. Starrett, Barbara (1978). Ich träume weiblich. München. Wissenschaftsladen Innsbruck (Hrsg) (1994). Frauen hinterm Mond. Alpenweiber-Tagung 1994. Innsbruck. Zamboni, Chiara (1999). Materialismus der Seele. In: Diotima und andere (Hrsg) (1999), S. 155-173. Zeun, Elke (1998). Die Anziehungskraft esoterischen Denkens. In: Arbeitskreis der Ruhrgebietsstätten gegen rechtsextreme Tendenzen bei Jugendlichen (AK-Ruhr)/Landeszentrale für politische Bildung NRW (Hrsg) (1998), S. 37-48. |