Antje Schrupp im Netz

Die Weisheitstradition – Auseinandersetzung mit der Philosophie Mesopotamiens, Ägyptens, Griechenlands

Die Weisheit (hebräisch Hokmah, griechisch Sophia) tritt in zahlreichen Texten der Bibel als personifizierte weibliche Gestalt auf, die bereits bei der Schöpfung an der Seite Gottes stand. Sie wird von den Menschen gesucht, hält sich aber häufig auch verborgen, bleibt transzendent und versteckt sich geradezu, oder sie offenbart sich nur an bestimmten Orten, etwa in der Tora, im Volk Israel oder in einzelnen Gerechten. Die Figur der Weisheit nimmt ägyptische und babylonische Göttinnen ebenso auf wie Ideen aus der griechischen Philosophie.

Überliefertes Erfahrungswissen der Generationen

Grundlage für die jüdische Weisheitstheologie ist zunächst das menschliche Erfahrungswissen, wie es vor allem im Buch der Sprüche, aber auch in den Psalmen und anderen Texten überliefert ist: Konkrete Handlungsanweisungen für das Zusammenleben, also Mahnungen zu Fleiß und Disziplin, nachhaltigem Wirtschaften, Bescheidenheit und Rücksichtnahme auf andere. Solche Sammlungen von Ratschlägen zum guten Leben, die auf der Erfahrung vieler Generationen beruhen, sind in fast allen Völkern verbreitet. Das zentrale Thema in den israelitischen Sprichwörtern ist der Lebenswandel der Gerechten im Gegensatz zu dem der Verbrecher und Toren, wobei ein Zusammenhang hergestellt wird zwischen dem, was jemand tut, und dem, wie es ihm dann ergeht: Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein (Spr 26, 27 u.v.a.). Oft gelten Götter, mythische Wesen oder besondere Vorfahren als Urheber und Vermittler der Weisheit, in Israel etwa der König Salomo.

Wie in der griechischen Philosophie, zum Beispiel bei Aristoteles, ist auch in Israel ein wesentliches Merkmal von Weisheit und Gerechtigkeit das rechte Maß. Die Weltsicht ist, wie in Griechenland, eine universalistische, das heißt, die Verhaltensregeln sollen für alle Menschen und jederzeit Gültigkeit haben. Ebenfalls an die griechische Philosophie erinnert das Ideal des frommen und weisen Menschen, des Philosophen eben, der die Sophia, die Weisheit, liebt und ihr nahe ist. Weisheit und Einsicht eines Volkes manifestieren sich in aber auch in seiner Gesetzgebung, und selbst Könige, die ja Recht sprechen und Gerechtigkeit schaffen sollen, sind auf die Gabe der Weisheit angewiesen (Jer 8,8-9, Spr 8,15, 1 Kön 3,28). Gleiches gilt für den erwarteten Herrscher der kommenden Heilszeit (Jes 11,2).

Schon früh wird die Erfahrungsweisheit in Israel institutionalisiert. Es gibt Weisheitslehrer, die die volkstümlichen Sprichwörter in Listen ordnen, sodass sie über Jahrhunderte erhalten bleiben und überliefert werden. Wie in Ägypten werden Weisheitsschriften in den gebildeten, wohlhabenden Kreisen Israels häufig als Lebenslehre eines Vaters oder Lehrers an einen Sohn oder Schüler weitergegeben, wobei solche Texte in der Regel aber viel Material aus mündlich überlieferter Volksweisheit enthalten. Am Königshof pflegt man Weisheit, es gibt weisheitliche Ratgeber, und die Weisheit einer guten Herrschaft wird in Schriften gesammelt (vgl. das Buch der Weisheit). Dennoch ist Weisheit in den biblischen Texten keineswegs ein Privileg der Reichen und Gebildeten, zumal sie immer auch eine praxisbezogene Seite hat. Jede eitle und selbstgefällige Weisheit wird hinterfragt (Spr 3,7, 28,11, Hiob 37,24, Jes 5,21).

Die Weisheit als Schöpfungsgefährtin Gottes

Insbesondere nach dem Zusammenbruch der politischen Ordnung Israels und im babylonischen Exil (6. Jhd v. Chr.) stellen sich für die Weisheitstheologie neue Fragen: Angesichts der Kriese, die die Verbannung nach Babylon bedeutete, genügte es nicht mehr die bisherigen alltäglichen Erfahrungen festzuhalten und zu überliefern. Der Zusammenhang von Tun und Ergehen war durchbrochen. Gerechte und Ungerechte mussten ins Exil. Die Weisheit wird nun zunehmend nicht mehr als Surrogat des menschlichen Wissens verstanden, sondern als eigenständige Größe, die dem menschlichen Wissen leitend gegenüber steht: Sie ist es, die den Menschen in ihrer von ständigem Chaos und Unordnung bedrohten Welt den Weg weisen will. Weisheitliche Ordnungen und Lebensregeln werden daher nun in einen unmittelbarem Zusammenhang mit den Schöpfungsmythen gestellt, die Israel in der Begegnung mit anderen Völkern kennenlernte: Sie erscheint als mythische Gestalt, als erstes Schöpfungswerk und Gefährtin Gottes, die die kosmischen Ordnungen repräsentiert (Spr 8, Hiob 28, 21-28 u.a.). Auch die griechische Stoa kennt ein solches grundlegendes Weltprinzip: Sie nennt es Logos, Wort. Wie eng beide Prinzipien miteinander verwandt sind, zeigt zum Beispiel Weisheit Salomo 18, wo der Logos als Bote der Weisheit auftritt, sowie der Anfang des Johannesevangeliums: »Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott.«

Die Verankerung der Weisheit am Anfang der Schöpfung bedeutet, dass ihre wegweisenden Ordnungen sich nicht einfach aus dem menschlichen Erfahrungswissen herleiten lassen, sondern von Anfang an und für alle Zeiten festgelegt sind. Sie können also durch die Zufälligkeit historischer Ereignisse nicht berührt werden. Diese Vorstellung von einer personifizierten Weisheit, die als Frau spricht und handelt, ist sicher auch angeregt und beeinflusst von den Kulten babylonischer, persischer und vor allem ägyptischer Göttinnen, mit denen die Israeliten im Exil in engen Kontakt kommen: etwa Anat oder Astarte, aber auch Isis, die ebenfalls mit Weisheit und Weltschöpfung verbunden ist. Patin stand auch die altägyptische Göttin Maat, die die kosmischen und gottgewollten Ordnungen der Gerechtigkeit repräsentiert und als solche Schutzpatronin des Königtums ist: Der König muss die Ordnungen der Maat in seinem Volk durchsetzen. Ganz ähnlich verkörpert auch die israelitische Weisheit, die Hokmah, nun die grundlegenden Prinzipien der Schöpfung: Gesellschaftliche Ordnungen sind nur dann gut, wenn sie der kosmischen Ordnung entsprechen; wird diese missachtet, droht dem Land Verderben. Wenn ein Volk oder sein König die Ordnung der Weisheit missachtet, wird Gott »die Schöpfung bewaffnen« und mit ihrer Hilfe die Ungerechten bekämpfen (Weish 5,14-23). Obwohl die Weisheit in biblischen Texten als Person auftritt und altorientalische Göttinnenvorstellungen in sich aufnimmt, ist ihr jedoch in Israel wohl kein eigener Kult gewidmet.

Wenn die Weisheit verborgen bleibt – die Skepsis

Das Bild von einer Frau Weisheit, die Gott am Anfang der Schöpfung begleitet hat, antwortet nicht nur auf aktuelle historische Ereignisse, sondern auch auf ein philosophisch-moralisches Problem: auf die Tatsache nämlich, dass die in der Erfahrungsweisheit behauptete Gerechtigkeit, wonach weise Menschen belohnt, törichte dagegen bestraft werden, im wirklichen Leben allzu häufig ausbleibt: Wer anderen eine Grube gräbt, fällt eben nicht unbedingt selbst hinein. Und die Gerechten haben – wofür Hiob das bekannteste Beispiel ist – trotz aller Frömmigkeit Schaden und Unheil zu ertragen. Wenn aber die Weisheit die Schöpfungsordnung selbst ist, dann ist es sinnvoll, ihr zu folgen, auch wenn der Zusammenhang zwischen dem eigenen Tun und den unmittelbaren Folgen nicht unmittelbar einsichtig ist.

Die Weisheit ist eben größer und höher als alle menschliche Einsicht. Das heißt aber unter Umständen auch: Sie ist so tief verborgen, dass nur Gott den Weg zu ihr kennt (Hiob 28, Bar 3, 15-36). Wie aber können die Menschen dann zu ihr gelangen? Die einen sagen: Die Weisheit ist menschenfreundlich und offenbart sich freigiebig mitten im Leben (Spr 1, 20-31 u.v.a.). Da es aber trotzdem so viel Leid und Ungerechtigkeit auf der Welt gibt, schließen andere – etwa die Skepsis – dass es fraglich ist, ob die Menschen die Weisheit überhaupt erkennen können oder wollen, selbst wenn sie sich offenbart. Manche Texte erzählen davon, wie die Weisheit in der Welt einen Ort sucht, aber keinen findet, weil niemand sie aufnimmt (Sir 24, 1-7). Oder sie zweifeln ganz am Nutzen des menschlichen Strebens nach Weisheit, weil Weisheit und Torheit oft sehr eng beieinander liegen: »Ich ward aber gewahr, dass auch dies ein Haschen nach Wind ist. Denn wo viel Weisheit ist, da ist viel Grämen« (Pred 1, 17-18). Auch hier ist ein hellenistischer Einfluss zu spüren, nämlich der philosophische Zweifel daran, dass menschliches Leid und ungerechtes Schicksal einen höheren Sinn haben.

Offenbarungen der Weisheit

Auf das Problem, dass die Weisheit ihre kosmischen Ordnungen zwar freigiebig offenbart, die Welt und die menschliche Gesellschaft aber keineswegs diesen Ordnungen folgt – sei es, weil zu viele Menschen die Weisheit nicht erkennen wollen oder können, sei es, weil trotz frommen Lebens Ungerechtigkeit und Leid auf der Welt herrschen – geben die biblischen Texte unterschiedliche Antworten.

Die einen verordnen die Weisheit und mit ihr die Gültigkeit der kosmischen Ordnung in der Transzendenz: Gottes Weisheit kann nur dann wirklich göttlich sein, wenn sie immer bei Gott bleibt. Wer sich auf die Liebe zu ihr einlassen will, muss alle irdischen Güter verlassen und wird dafür im Jenseits belohnt (Weish 5). Der Weise verlässt gewissermaßen die diesseitige Welt und steigt auf zu Gott. Eine andere Möglichkeit ist, dass sich die Weisheit zwar nicht in allen Menschen oder in den irdischen Ordnungen offenbart, wohl aber in einzelnen Gerechten, Abel, Noah, Abraham, Joseph, Mose und so weiter (vgl. Weish 10; Sir 44-50). Während in diesen Antworten das Erkennen der Weisheit eine universale menschliche Möglichkeit bleibt und sie daher den Dialog mit anderen zeitgenössischen philosophischen Konzepten offen halten, binden andere Bibeltexte die Erkenntnis der Weisheit an den Kontext des Judentums: Die Weisheit offenbart sich im Volk Israel, denn nur hier wurde ihr eine Wohnstatt gegeben (Bar 3, 37-38, Sir 24,7-23), oder noch spezieller: Die Weisheit findet sich nur in der Tora, dem geschriebenen Wort und Gesetz Gottes, und bei denen, die sie auslegen (Sir 24, 23-34).

Auch das Neue Testament nimmt zahlreiche Traditionen der Weisheitstheologie auf. So wird Jesus als Gesandter oder Gerechter der Sophia, der Weisheit, verstanden oder mit ihr identifiziert (Lk 11,49, Kol 1,15-20). Durch die »Ich-bin-Worte« wird Jesus im Johannesevangelium mit Sophia verglichen (vgl. etwa Joh 6,35 mit Sir 24,28). Paulus rezipiert an einer Reihe von Stellen weisheitliche Traditionen (1 Kor 2,6-16; Röm 11,33-36). Und wenn Jesus die Weisheit der Gebildeten kritisiert und die »Unverbildeten« preist (Mt 11,25-27) greift er dabei ebenfalls auf alttestamentliche Weisheitstheologie zurück (vgl. Spr 11,2 u.a.).

Zitatkasten:

Die Weisheit ist strahlend und unvergänglich und lässt sich gern erkennen von denen, die sie lieb haben, und lässt sich von denen finden, die sie suchen. Sie kommt denen entgegen, die sie begehren, und gibt sich ihnen zu erkennen. Wer sich früh zu ihr aufmacht, braucht nicht viel Mühe; denn er findet sie vor seiner Tür sitzen. Denn über sie nachdenken, das ist vollkommene Klugheit, und wer ihretwegen sich wach hält, wird bald ohne Sorge sein. Denn sie geht umher und sucht, wer ihrer wert ist, und erscheint ihm freundlich auf seinen Wegen.

Weish 6,13-17

Biografie: Jesus Sirach

Jesus Sirach ist der Verfasser des umfangreichsten biblischen Weisheitsbuches. Es hat 51 Kapitel und ist wohl in den Jahren 190 bis 180 v. Chr. entstanden. Der Autor stammt aus der gebildeten jüdischen Aristokratie Jerusalems, manche halten ihn wegen der pädagogischen Ausrichtung seines Buches für einen Schulleiter oder Lehrer. Möglicherweise betätigt er sich auch, ähnlich wie die griechischen Philosophen, als Ratgeber und Diplomat. Der Name »Sirach« ist die griechische Übertragung von Ben Sira und bedeutet »Sohn des Sira«. In Sir 50,29 weist sich der Verfasser als Jesus, Sohn des Eleasar und Enkel des Sira aus. Mit seiner Sammlung von Weisheitslehren für den Alltag, die er an die Einhaltung der Gesetze der Tora knüpft, will Jesus Sirach Verhaltensregeln für ein gutbürgerliches Leben in einer hellenistisch geprägten Kultur geben. Er äußert sich damit zu einem Konflikt zwischen eher traditionsbewussten und eher hellenisierten Juden, der schon seit einiger Zeit schwelt und an Schärfe zugenommen hat, seitdem das griechische Herrschergeschlecht der Seleukiden im Jahr 198 v. Chr. die Macht in Palästina von den rivalisierenden Ptolemäern übernommen hat. Die Jerusalemer Gemeinde hat die Seleukiden zunächst unterstützt (die Verfolgungen unter Antiochos IV., die zum Makkabäeraufstand führen, beginnen erst nach 175 v. Chr.) und ist dafür mit umfassenden Privilegien, etwa der Steuerfreiheit für Priester, belohnt worden. Im Gegenzug sind viele Juden zu weitgehenden Zugeständnissen an die hellenistische Kultur bereit. Solchen Tendenzen tritt Jesus Sirach entgegen und plädiert dafür, die eigene kulturelle Tradition wertzuschätzen. Im Jahr 132 wird das Buch von seinem Enkel ins Griechische übersetzt, in die lateinische Septuaginta später als »Liber Ecclasticus«, als Kirchenbuch also, aufgenommen. Es beeinflusst die christlichen Gemeinden bis ins 20. Jahrhundert hinein in starkem Maße.

In: Spektrum – Auf den Spuren der Bibel, Wissen Media Verlag, Gütersloh/München 2004.