Antje Schrupp im Netz

Toleranz und Terror –

oder die symbolische Bedeutung von Ereignissen

Ich bedanke mich sehr für die Einladung zu dieser Veranstaltung, und ich hoffe, dass meine Überlegungen Sie bei Ihrem politischen Engagement weiterbringen und dafür hilfreich sind. Ich bin Theologin, Politikwissenschaftlerin und Journalistin, lebe in Frankfurt, und mein »Spezialgebiet« ist das weibliche Denken, das heißt, ich beschäftige mich mit weiblicher Philosophie und Ideengeschichte.

Was will ich also hier? Meine Einladung ist sozusagen ein Zufall. Ich bin erst vor kurzem zu diesem Vortrag aufgrund eines anderen Vortrags eingeladen worden, den ich vor einem Jahr für eine Podiumsdiskussion mit Frauengruppen geschrieben hatte, die sich nach dem 11. September engagieren wollten. Aber ich finde es durchaus reizvoll, meine Überlegungen auch mal einem gemischten Pulikum vorzustellen, weil es mir bei dem, was ich forsche, nicht um eine weibliche »Natur« geht, sondern um weibliches Erfahrungswissen, darum, das Handeln und Denken von Frauen wahrzunehmen und zu verstehen, um eine weibliche »Kultur« sozusagen. Philosophinnen und Theologinnen denken schon seit Jahrhunderten über die kulturelle Differenz nach, indem sie ihr Verhältnis zu der Kultur der Männer reflektieren. Einiges davon möchte ich Ihnen vorstellen, weil ich glaube, dass es hilfreich auch für den Umgang mit anderen kulturellen Differenzen, etwa zwischen Islam und westlicher Demokratie, sein kann.

Es ist aber auch in einem anderen Zusammenhang durchaus logisch, dass das Thema Ihrer Tagung sozusagen aus weiblicher Perspektive eingeführt wird. Denn die symbolische Frage nach den Frauen überhaupt war nach dem 11. September 2001 ja allgegenwärtig. Eines der markantesten Merkmale der Taliban-Herrschaft war, dass in Afghanistan den Frauen per Gesetz jedes öffentliche Auftreten verboten war. Und die Absicht, die Freiheit der Frauen herzustellen, wurde vom Westen oft als Argument für den Krieg in Afghanistan vorgebracht. Beide Seiten, die Taliban und die Amerikaner, machten ihre Position an ihrem Verhältnis zu den Frauen deutlich. Seht her: Bei uns sind Frauen da, wo sie hin gehören, nämlich unsichtbar. Seht her, bei uns sind Frauen gleichberechtigt. Auch im Dialog mit dem Islam überhaupt spielt die Situation der Frauen eine wichtige Rolle, ich erinnere nur an den Kopftuchstreit.

Toleranz oder Terror – diese scheinbare Alternative der offiziellen Politik bleibt aber dennoch eine Angelegenheit unter Männern. Es handelt sich nicht um eine Diskussion zwischen Männern und Frauen, sondern um eine Diskussion unter Männern, die sich eben unter anderem um ihr unterschiedliches Frauenbild streiten und darüber, welche Rechte sie den Frauen gewähren oder nicht. Es wird über Frauen verhandelt, nicht mit Frauen. Das sieht man auch daran, dass diejenigen, die in der Tagesschau dazu gezeigt werden, fast nur Männer sind. Das wird ja auch daran deutlich, dass zum Beispiel auf Tagungen wie dieser hier Männer fast unter sich sind.

Das meine ich übrigens nicht als moralischen Vorwurf, ich will keineswegs sagen, dass Frauen etwas besseres zu dem Thema sagen könnten, dass eventuelle Frauenthemen besser wären, als Männerthemen, keineswegs. Frauen sind nicht besser als Männer. Ich will nur darauf hinweisen, dass es da einen Unterschied gibt, und zwar auf der symbolischen Ebene, es sind unterschiedliche Kulturen.

Denn dass Politik im Rahmen der vorherrschenden symbolischen Ordnung als Männersache ist, heißt ja nicht, dass an den Geschehnissen real nur Männer beteiligt wären oder dass sie nur Männer etwas angingen. In Afghanistan zum Beispiel waren und sind Frauen sehr aktiv, was die Aufrechterhaltung der Zivilgesellschaft betrifft. Auch was den Widerstand gegen die Taliban betrifft und was den Wiederaufbau des Landes bzw. die Versuche dazu. Ich weiß nicht, ob Sie von der Frauenorganisation »RAWA« gehört haben, Revolutionary Association of the Women of Afghanistan«, die schon seit den siebziger Jahren besteht, und die die ganze Zeit sowohl der russischen Besatzung als auch des Taliban-Regime viel zivilisatorische Arbeit geleistet hat. Unter den Russen kämpfte sie für Werte wie Freiheit und Individualität, unter den Taliban organsisierte sie Nachbarschaftshilfe, Mädchenschulen, Gesundheitsversorgung. Und auch jetzt spielt RAWA eine ganz wichtige Rolle im Land, und auf jeden Fall eine hilfreichere, als all die Clanführer, von denen im Fernsehen die Rede ist. Der Erfolg der RAWA-Frauen hängt auch damit zusammen, dass sie per Internet unter den Frauen in der ganzen Welt Unterstützung eingeworben haben und viele Frauen in internationalen Organisationen und in politischen Gremien Werbung für RAWA machen. Aber in den Nachrichten ist das nur eine Randnotiz.

Wenn man Politik im ursprünglichen Sinne als sich Kümmern um die res publica, die öffentlichen Angelegenheiten, versteht, dann wird Politik in Afghanistan – wie überall auf der Welt – von Frauen und Männern gleichermaßen gemacht. Frauen und Männer kümmern sich um das Zusammenleben der Menschen, also um öffentliche Angelegenheiten. Aber auch im Westen gilt, dass die politischen Institutionen männliche Institutionen bleiben, selbst wenn dort Frauen inzwischen Zutritt haben. Sie werden aber dann sozusagen symbolisch zu Männern. Die Regeln, Riten, Abläufe, all das wir regelmäßig im Fernsehen in der Rubrik »Politik« sehen oder in der Zeitung lesen, ist aus einer männlichen Kultur heraus entstanden, zu der Frauen erst seit relativ kurzer Zeit Zugang haben, auch bei uns im Westen. Es ist keine weibliche Kultur, auch wenn Frauen real dort sind, können sie symbolisch ausgeschlossen bleiben. Vielleicht ist das überhaupt das eigentliche Problem an der Politik der Taliban gewesen – sie haben versucht, die Frauen nicht nur symbolisch aus der Politik und der Gesellschaft auszuschließen, sondern real – und das kann niemals auf Dauer funktionieren.

Allerdings befinden wir uns in dieser Hinsicht in einer Zeit des Umbruchs, in der das Patriarchat, in dem das so war, zu Ende geht. Frauen haben begonnen, eine neue symbolische Ordnung neben die patriachale symbolische Ordnung zu stellen. Etwa indem sie den tatsächlichen Beitrag der Frauen zur res publica aufwerten, und der herkömmlichen Symbolik die Glaubwürdigkeit entziehen, indem sie sich nicht mehr an ihr orientieren. »Die Politik ist die Politik der Frauen« sagen etwa italienische Philosophinnen, die schon lange zu dieser Differenzkultur arbeiten. Sie sagen auch: »Das Patriarchat ist zu Ende, weil wir nicht mehr daran glauben«. Die Zustimmung der Frauen zum Patriarchat, die lange bestand, ist am Bröckeln. Inzwischen gibt es ja bereits regalweise Bücher zu dem Thema, wie Frauen und Männer unterschiedliche Werte und Maßstäbe haben, sich anders ausdrücken, andere Kriterien für ihre Entscheidungen heranziehen usw.

Die Differenz der Geschlechter repräsentiert für mich grundlegend die Tatsache, dass es unhintergehbare Differenzen zwischen Menschen und Kulturen gibt. Sie ist ein gutes Beispiel um deutlich zu machen, welche Bedeutung das Symbolische für das Bestehen und für den Dialog verschiedener Kulturen hat. Ein paar Beispiele zum Thema dieser Tagung:

Bei den Terroranschlägen am 11. September zum Beispiel sahen wir entsetzt die Bilder von den einstürzenden Wolkenkratzern im Fernsehen. Das Ereignis war so einmalig und unerwartet, dass noch nicht sofort mediale symbolische Bedeutungen darüber gegossen werden konnten. Die Reporter und Nachrichtenredakteure waren zunächst sprachlos, sie rangen um Worte, ein Zeichen dafür, dass ihre übliche und gewohnte symbolische Ordnung nicht passte. Und ganz spontan breitete sich ein Gefühl und eine Einsicht aus, die eigentlich eine weibliche ist, in diesem Moment (ich rede von den ersten Stunden nach den Anschlägen) aber allen Menschen verständlich war: Nämlich Ohnmacht. Die Erkenntnis, wir sind solchen Gefahren ausgeliefert, wir können uns nicht dagegen schützen, dies war die unmittelbare Bedeutung, die die Menschen – Frauen wie Männer – diesem Ereignis gaben.

Ohnmacht, Schutzlosigkeit, das Gefühl, ausgeliefert zu sein, also jene spontanen, unmittelbaren Empfindungen der Menschen in aller Welt nach den Anschlägen des 11. September – das sind Erfahrungen, mit denen Frauen in langen Jahrhunderten gelernt haben, umzugehen, und auf die sie auch Antworten gefunden haben. Ohnmacht auszuhalten und sich einzugestehen, nicht alles unter Kontrolle zu haben, demütig zu bleiben und sich selbst nicht zu überschätzen – das ist zum Beispiel ein zentrales Thema der christlichen Mystikerinnen gewesen und auch in der so genannten Frauenliteratur des 19. Jahrhunderts finden Sie viele gute Ideen dazu. Am ersten Tag nach den Terroranschlägen war diese weibliche Erfahrung allgemein, aber es wurde leider nicht die weibliche Kompetenz im Umgang mit dieser Erfahrung abgefragt – was ich damals, vielleicht etwas naiv, erwartet hatte. Ich dachte: Jetzt können sie doch nicht mehr so weitermachen, wie bisher, jetzt müssen sie doch einsehen, dass das Zurückschlagen nichts bringt, weil man dieser Gefahr so nicht begegnen kann. Aber ich habe mich leider geirrt. Schnell, innerhalb von 1-2 Tagen, schob sich über diese weibliche Bedeutung der Anschläge – wir sind schutzlos – die gegenteilige, männliche Parole: Wir sind nicht ohnmächtig, wir sind die Stärkeren, wir lassen uns nicht unterkriegen, wir schlagen zurück. Wir haben alles im Griff. Die Terroranschläge vom 11. September haben die Welt leider nicht verändert, auch wenn es manchmal immer noch behauptet wird, sondern es geht so weiter, wie bisher.

Ein anderer Begriff, der in einer weiblichen Kultur etwas anderes bedeutet, als in einer männlichen, ist Zivilisation. Nach männlicher Interpretation ist Zivilisation eine Eigenschaft von Gesellschaften. Eine Gesellschaft ist zivilisiert, weil sie gewisse Gesetze, Regeln, Bekenntnisse hat, die irgendwo niedergeschrieben sind und von offiziell anerkannten Gremien hochgehalten werden. Also z.B. eine Demokratie mit einem parlamentarischen System. Deshalb kann man in dieser Logik auch Gesellschaften einteilen in zivilisierte und nicht zivilisierte, man kann zum Beispiel von Schurkenstaaten reden. Die Basis für Zivilisationen ist jedoch – sage ich im Rahmen einer weiblichen symbolischen Ordnung – das, was im Alltagsleben geschieht. Zivilisation, das ist die Tatsache, dass Menschen lernen, miteinander umzugehen, dass ihnen beigebracht wird, Konflikte offen auszutragen und nach guten Lösungen im Sinne des Wohles aller Beteiligten zu suchen. Das geschieht nicht in Parlamenten, es geschieht zuerst einmal in Schulen, in Familien, in Kindergärten, in Büros, beim Einkaufen, im konkreten Zusammenleben eben, überall da, wo Menschen mit unterschiedlichen Interessen miteinander leben. Und an diesem Zivilisierungsprozess sind Frauen ganz maßgeblich beteiligt. Es sind mütterliche Tätigkeiten, und sie bilden die Grundlage jeder Zivilisation.

Es gibt deshalb nicht zivilisierte und nicht-zivilisierte Gesellschaften, sondern es gibt in jeder Gesellschaft zivilisierte Anteile und unzivilisierte Anteile. Auch in Afghanistan ist das natürlich so, auch da gibt es Zivilisation, auch da gibt es Familien, auch da werden Kinder erzogen und Konflikte werden gelöst. Daher ist es falsch, wenn anprangert wurde, die Männerherrschaft der Taliban hätte die Frauen in Afghanistan ausgeschaltet. Das stimmt nicht, bzw. es ist eine symbolische Interpretation, der ich nicht zustimme. Sie haben es vielleicht versucht, aber es ist ihnen nicht gelungen, denn das gelingt ihnen nie. Keine Gesellschaft funktioniert ohne die Frauen. Selbst wenn sie versklavt sind, leisten Frauen dieses Werk. Ein unzivilisiertes Afghanistan hat es also niemals gegeben.

Ein dritter Punkt, der mir einfällt, ist Effektivität. Wenn es so ist, dass Gruppen von unberechenbaren jungen Männern die Möglichkeit haben, Zerstörung in einem solchen Ausmaß wie in New York anzurichten, muss etwas dagegen unternommen werden, und zwar möglichst effektiv, das heißt ohne Rücksicht auf das eigene Ansehen, ohne Stolz und ohne Ehre, zur Not auch hintenrum, zur Not auch mit Zugeständnissen. Das Bedürfnis nach Schutz ist eines, das viele Frauen haben, und es gilt unbedingt, auch deshalb, weil sie Verantwortung für Kinder und andere Menschen tragen. Um Sicherheit zu erreichen, sind sie sich nicht zu schade, persönlich zurück zu stecken, andere dazu zu überreden, Dinge umzusetzen, die sie selbst erreichen wollen. Dies zu tun ist für Frauen kein Gesichtsverlust. Frauen fragen: Wie kann ich die Dinge zum besseren verändern? Und sie sind sich da nicht zu schade, wenn es darauf ankommt, sich selbst als Persönlichkeit zurück zu nehmen, um der Sache willen. Es geht nicht ums Prinzip, sondern nur darum, was am Ende dabei heraus kommt.

Es gibt noch viel mehr Punkte, an denen ein freies, weibliches Denken ganz andere Bedeutungen für Ereignisse wie Terror und Krieg findet. Dies zu formulieren bedeutet, den symbolischen Selbstverständlichkeiten des Patriarchats eine neue, symbolische Ordnung zur Seite zu stellen, an der sich Frauen – aber natürlich auch Männer – orientieren können, wenn sie die Symbolik des Patriarchats nicht mehr anerkennen.

Auch in der offiziellen Politik wird neuerdings eingestanden, dass es kulturelle Differenzen gibt. Diese werden aber immer noch als Problem betrachtet. Wir hätten es mit einem »Kampf der Kulturen« zu tun, wird da gesagt. Kampf ist ein falsches Wort, aber immerhin: Es wird eingestanden, dass kulturelle Differenzen eine Tatsache sind. Wie kann man nun am besten mit dieser Tatsache umgehen?

Ich glaube, das entscheidende Defizit liegt darin, dass zu wenig gesehen wird, dass kulturelle Differenzen sich nicht in erster Linie an bestimmten objektiv feststellbaren Dingen festmachen lassen, wie Regierungsformen, Religionszugehörigkeit, Sozialstrukturen, Kleiderordnungen zum Beispiel. Sondern es geht um die Zugehörigkeit und das sich Zugehörig-fühlen zu verschiedenen symbolischen Ordnungen.

Das Symbolische ist längst zum dominanten Faktor geworden, auch durch die Entwicklungen der Medienlandschaft, in der das Fernsehen fast zum alleinigen Informationsträger geworden ist, also dasjenige Medium, das am stärksten über Bilder, also Symbolträger, arbeitet. Aber statt zu verstehen, dass wir uns um das Symbolische streiten, das von verschiedenen Kollektiven und Kulturen so oder so interpretiert wird (zum Beispiel die weibliche und die männliche, die islamische und die westlich-demokratische) tun wir immer noch so, als würden wir uns über eine richtige und eine falsche Sicht der Welt streiten. Es gibt aber keine objektiven Ereignisse, sondern Ereignisse werden immer über Symbole vermittelt. Symbole sind Bewertungen, Interpretationen, Kontexte, in denen ein Ereignis interpretiert wird, und zwar immer für ein bestimmtes Kollektiv. Symbole gelten niemals für die gesamte Menschheit, sondern sie sind ein kulturelles Phänomen, sie gelten immer für Gruppen, die sich über dieses Symbol konstituieren bzw. sich im Rahmen einer gemeinsamen symbolischen Ordnung bewegen.

Mir ist das aufgefallen an den Diskussionen, die etwa darüber geführt wurden, welche Bedeutung die große Zahl der Toten bei den Terroranschlägen in New York hat. In linken, gut meinenden Kreisen habe ich oft das Argument gehört: Was sind schon 3000 Tote (damals dachte man noch, es seien 6000) – in Afrika sterben jeden Tag noch viel mehr Menschen an Hunger, und um die trauert auch niemand. Darum ging es aber bei den Reaktionen auf den 11. September nicht, sondern um die symbolische Bedeutung, dass auf diese Weise so viele Menschen gestorben sind. Es gibt keine objektive Bedeutung von 3000 Toten. Diese 3000 Toten bedeuteten etwas anderes als 3000 Tote in Afrika. Diese 3000 Tote bedeuteten für den Westen zum Beispiel: Ohnmacht oder auch: Angst oder auch: gekränkter Stolz. Für viele Araber bedeuteten sie: Jetzt haben wir’s denen aber mal gezeigt oder: Wir sind auch wer. Es nützt nichts, zu sagen, weil das nicht objektiv ist, ist es falsch, sondern wir müssen verstehen, dass diese symbolische Ebene die einzig bedeutsame ist.

So ist es auch bei anderen politischen Ereignissen. Die symbolische Seite ist immer die wichtigere. Gerade am Beispiel der Terroranschläge in New York und der Reaktionen darauf ist das ja sehr deutlich geworden. Es ging bei den Diskussionen zum 11. September nicht darum, was passiert oder was passiert ist, sondern darum, welche Bedeutung das für uns haben kann, wie es interpretiert wird. Bis in die öffentliche Wahrnehmung hinein wurde ja immer betont, dass es hier um einen Angriff auf die Symbole der westlichen Welt gegangen sei, und auch der Kriegsverlauf – Bomben auf ein bereits zerstörtes Land, die kritiklose Solidaritätserklärung der deutschen Regierung an die USA – hat gezeigt, dass es hier vor allem darum ging, Symbole zu besetzen.

Was heißt das für unser Verständnis von Politik und den so genannten »Kampf der Kulturen?« Es heißt vor allem, dass es keinen Sinn macht, hinter oder unter diesen Symbolen, das reale, wahrhaftige, tatsächliche Ereignis zu suchen. Sondern es geht darum, anzuerkennen, dass es diese symbolischen Ordnungen gibt, und diese Differenzen nicht nur wahrzunehmen, sondern auch Wege zu finden, damit kreativ umzugehen.

Wenn wir über den 11. September und die Folgen oder ein beliebiges anderes Thema sprechen wollen, müssen wir also erst einmal entscheiden: welche Symbolik ist das, in der ich mich bewege, in der die Diskussionen geführt werden? Bin ich mit ihr einverstanden? Das heißt, ich muss mir erst einmal die Frage stellen: Was ist überhaupt passiert? Welche Bedeutung haben die Ereignisse für mich, eine Frau oder für dich, eine Frau? – Welche Bedeutung haben die Ereignisse für mich? Für mich, eine Christin, für eine Muslimin? Für mich, einen deutschen Mann? Für mich, einen wehrpflichtigen Mann? Für mich, einen Muslim, der in Deutschland lebt? Für mich, einen Christen, der noch wegen der Kreuzzüge Schuldbewusstsein hat?

Die Bedeutung, die ich einem Ereignis gebe, ist aber niemals nur meine individuelle, sondern ich stehe unweigerlich im Rahmen einer bestimmten symbolischen Ordnung, die nicht nur mit mir als Individuum zu tun hat, sondern mit einer Zugehörigkeit zu einer Kultur, einem Geschlecht, einer Religion, je nachdem, worüber ich mich definiere, in dem Moment, wo ich spreche, wo ich mich einordne.

Dieser Fakt gehört zur Bedingtheit der menschlichen Existenz. In dem Moment, wo wir auf die Welt gekommen sind, sind wir auch in ein kulturelles Geflecht symbolischer Ordnungen eingetreten, die uns existenziell betreffen, die uns unseren Ort in der Welt und in der Gemeinschaft der Menschen zuweisen. Wir wurden von Beginn an nicht nur als Individuum, sondern als Teil eines Kollektivs interpretiert, sozusagen einer »Sorte« Mensch zugewiesen. Die grundsätzliche Differenz ist dabei die Geschlechterdifferenz, das Paradigma aller weiteren Differenzierungen, die später noch folgten. »Es ist ein Mädchen« sagte vermutlich die Hebamme zu meiner Mutter, als ich auf die Welt kam (damals war das noch zu diesem Zeitpunkt, heute findet diese Einordnung meist früher statt). Der Satz »Es ist ein Mädchen« ist ja nicht einfach eine Feststellung über meine körperliche Beschaffenheit, sondern bedeutet ein ganzes Geflecht von Zuordnungen, Rollen, Aussagen. Von meinem ersten Atemzug an, wurde ich also als eine bestimmte »Sorte« Mensch interpretiert. Und ich akzeptiere diese Interpretation jedes mal, wenn ich sage oder sonst wie deutlich mache »Ich bin eine Frau«. Das Beispiel der Transsexuellen zeigt, dass das nicht selbstverständlich ist. Aber es ist doch weitgehend üblich.

Bevor ich also überhaupt sprechen kann, bevor ich anfange, selbst symbolische Bedeutungen zu formulieren, bin ich als Individuum bereits in dieser Ordnung beheimatet. Aber nicht in Form einseitigen Festlegung, sondern als Wechselbeziehung: Einerseits konstituiert sich meine Zugehörigkeit zu der Gruppe dadurch, dass ich meine Zuordnung akzeptiere, und das heißt unweigerlich, dass ich die symbolische Ordnung anerkenne, die hier gilt. Gleichzeitig aber verändere ich mit meinem Handeln und Sprechen auch diese symbolische Ordnung. So wie zum Beispiel die Frauen, die anfingen, Hosen zu tragen und trotzdem weiter sagten: Ich bin eine Frau. Sie erweiterten die Möglichkeiten dessen, was es heißt, Frau zu sein, und heute ist es nichts besonderes mehr, als Frau Hosen zu tragen. Das heißt aber auch: Will ich eine symbolische Ordnung aktiv gestalten, so muss ich mir meine Zugehörigkeit zu der betreffenden Kultur bewusst machen und sie akzeptieren. Ein Mann, der Hosen trägt, kann nicht die Bedeutung von »Frau sein« verändern.

Es kommt also darauf an, das eigene Verhältnis zu dem Kollektiv, zu dem man gehört und sich zuordnet, zu reflektieren und bewusst zu gestalten, und zwar in der Differenz. Ich unterscheide mich ja von anderen Frauen, und gerade die vielen unterschiedlichen Weisen, eine Frau zu sein, machen die symbolische Bedeutung von »Frau sein« aus. Wenn alle Frauen Röcke tragen, dann heißt das überhaupt nicht, dass ich, eine Frau, ach Röcke tragen muss. Es geht gerade nicht darum, sich auf einen Idealtypus zu einigen, sondern darum, in der eigenen Individualität in den Austausch und die Vermittlung mit anderen Individuen zu treten. Der Satz: Ich bin … eine Frau (oder: Ich bin ein Moslem, ich bin Demokrat) drückt das aus. Er enthält sowohl die subjektive Seite aus (Ich bin) als auch die objektive Seite (eine Frau) aus, beides ist nicht voneinander zu trennen. Der Satz: Ich bin ein Mensch ist dagegen einfach eine Tautologie, denn nur Menschen können Ich sagen.

Wenn man die Literatur, die Philosophie, die religiösen Schriften von Frauen durch die Jahrhunderte anschaut, wird man feststellen, dass sie sich sehr ausführlich damit beschäftigt haben, Antworten auf diese Erfahrungstatsache zu finden, dass es grundsätzliche und nicht auflösbare Differenzen zwischen Menschen gibt. Die weibliche Kultur ist eine Kultur der Differenz. Dies haben vor allem italienische Philosophinnen in den letzten Jahrzehnten erforscht. Es war immer nur eine Minderheit von Frauen, die eine Lösung des Problems in der Angleichung an die Männer gesucht hat, etwa im Gleichheitsfeminismus. Die Gleichheit – das große Versprechen der männlichen Philosophie der Aufklärung – war und ist für die meisten Frauen nicht attraktiv. Und zwar einmal deshalb, weil das Versprechen für sie ja nicht galt, weil sie meist gar nicht »mitgemeint« waren (denken Sie nur an das so genannte allgemeine Wahlrecht, das die Frauen ganz lange erst einmal ausschloss), aber auch deshalb, weil Gleichheit in der Realität nirgendwo vorkommt. In der Realität, in der wirklichen Welt, gibt es nur Ungleichheit. Und mit dieser Realität, sagt etwa die italienische Philosophin Luisa Muraro, wird nicht der am besten fertig, der die schönsten Gleichheitstheorien entwirft, sondern der – oder die – die am besten mit der Ungleichheit umgehen kann.

Die männliche westliche Kultur dagegen ist tendenziell eine Kultur der Gleichheit. Das hat natürlich einen historischen Grund. Frauen sind seit Jahrhunderten gewohnt, das »andere« zu sein. Eine Frau ist niemals »normal«, sie wächst in dem Bewusstsein auf und ist sich ständig darüber im Klaren, dass es einen Unterschied gibt zwischen ihr als Individuum, und als Zugehörige zu einer bestimmten »Sorte« Menschen – den Frauen – und dem Menschen an sich. Der Mann hingegen kann leicht vergessen, dass Mensch sein und Mann sein zwei verschiedene Dinge sind – in manchen Sprachen gibt es ja sogar ja nicht einmal zwei verschiedene Wörter dafür, homme zum Beispiel heißt Mann und Mensch gleichzeitig. Offenbar dachten Männer, »Mann sein« und »Mensch sein« wäre dasselbe.

Eine Frau ist vor diesem gedanklichen Irrtum gefeit. In einem Soziologiebuch zum Beispiel habe ich mal gelesen: Der durchschnittliche Mittelständler, ich zitiere sinngemäß, hat einen Beruf, ein Auto und eine Frau. Oder so ähnlich. Im Kopf einer Frau, die diesen Satz liest, geht dann zum Beispiel folgendes vor: Ja, ich habe auch einen Beruf, ich habe auch ein Auto, oh – aber eine Frau habe ich nicht. Ich bin anders. Ich habe möglicherweise einen Mann. Oder ich bin lesbisch. Wie auch immer, hier ist ein Bruch, der ihr vor Augen führt: Du bist anders. Du bist nur teilweise die Norm – und teilweise nicht. Oder denken Sie an die zehn Gebote: Du sollst nicht töten. Du sollt nicht ehebrechen. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib. Eine Frau muss jederzeit überlegen: Gilt das für mich, bin ich gemeint? Oder gilt das jetzt nicht für mich?

Früher habe ich mich darüber aufgeregt, dass die patriarchale Tradition uns Frauen soviel »Transferleistung« abverlangt, aber inzwischen bin ich froh, dass es so ist. Denn es trainiert das Denken und hilft uns, unsere eigene Position in der Welt besser zu verstehen. Denn das ist ja eine Tatsache: Wir sind immer gleichzeitig gleich und anders. In gewisser Hinsicht gleich, in anderer Hinsicht anders. Die neuen politischen Diskussionen etwa mit Afroamerikanern oder mit 3.-Welt-Bewegungen haben dieses Problem seit einigen Jahren auch in den offiziellen »Männer«-Diskurs eingebracht. Aber Männer haben es schwerer, das zu verstehen und nachzuempfinden, denn sie sind so daran gewöhnt sich selbst für normal zu halten, obwohl es doch für das Mensch-sein gar keine Norm gibt. Sie haben Mühe, die Differenz zu denken. Sie müssen dafür komplizierte Modelle von Dialektik erfinden, wie der großartige Hegel, der die Identität von Identität und Nicht-Identität, wie er es nannte, entdeckte. Seine Philosophie hat aber das Problem, nur sehr schwer verständlich zu sein. Jedenfalls hatte ich bei der Lektüre immer den Eindruck, er schreibe wie ein Mathematiker, der zwar durch logisches Nachdenken abstrakt zur richtigen Lösung gekommen ist, aber nicht so recht nachvollziehen kann, dass es dafür auch in der Realität tatsächliche Anschauungen gibt. Dass es eigentlich ganz selbstverständlich ist, was er da beschreibt.

Jede Frau weiß, auch ohne Hegel gelesen zu haben, dass sie nur eine bestimmte Variante des Menschseins verkörpert. Der Mann wird durch unsere Kultur aber dazu verführt, zu glauben, er repräsentiere die Menschheit als solche. Deshalb hat sich die von Männern dominierte westliche Philosophie auch vor allem mit der Frage des Verhältnisses des Einzelnen zur Menschheit, von Individuum und Allgemeinheit, beschäftigt, während sie die Zugehörigkeit der Einzelnen zu verschiedenen »Sorten« Menschen vernachlässigt hat (abgesehen von Hegel wiederum, der in seiner Rechtsphilosophie dazu einige Anregungen hat, allerdings eher unglückliche, wie ich finde). Die Männer, die Philosophie trieben, hielten ihre eigene »Sorte« (weißer Mann) eben für den Normalfall und alle anderen, zum Beispiel Frauen, nur für ein unzulängliches Exemplar von sich selbst. »Differenz« kam als Konzept bei ihnen nur auf der Ebene der individuellen Verschiedenheit vor, und sie vernachlässigten es, das Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv zu untersuchen, das Beziehungsgeflecht, in dem Menschen konkret leben, und das nicht identisch ist mit dem Abstraktum der »Menschheit« als solcher: Die Gruppe, die Nation, das Volk, die Gemeinde. Das ändert sich erst seit kurzem, ausgelöst durch die Proteste von Schwarzen gegen den weißen Norm-Mann, aber die Resultate etwa des Kommunitarismus sind aus meiner Sicht noch eher dürftig.

Der grundlegende Fehler besteht darin, dass diese Bezugssysteme meist nur soziologisch, und nicht philosophisch betrachtet werden. Es wird sozusagen versucht, sie objektiv, anhand von Daten, zu beschreiben. Wenn es aber das Symbolische ist, das diese Kollektive konstituiert, dann ist solch ein Versuch immer zum Scheitern verurteilt. Denn er führt dazu, einen Idealtypus zu konstruieren und abweichendes Verhalten als »untypisch« außen vor zu lassen. Symbolische Ordnungen lassen sich aber nicht per Definition festlegen, denn sie sind lebendig, sie verändern sich ständig, und es ist gerade die Bandbreite der unterschiedlichen Mitglieder innerhalb des Kollektivs, die festlegt, was diese Gruppe ausmacht. Nicht die Vereinheitlichung, sondern die Differenz konstituiert eine symbolische Ordnung. Mein Beitrag zum Frau-sein ist, dass ich mich aktiv von anderen Frauen unterscheide. Ich bin eine Frau, ganz egal was ich tue, und auch dann wenn ich Bauarbeiterin bin oder Bundeskanzlerin. Ich höre – auf symbolischer Ebene – erst dann auf, eine Frau zu sein, wenn ich mich nicht mehr als Frau identifiziere oder die Bedeutung meines Frau-Seins leugne. Wenn ich etwa sage, wie Angela Merkel es mal getan hat: »Ich spreche hier nicht als Frau, sondern als Parteivorsitzende der CDU«.

Solange ich aber die Interpretation: »Sie ist eine Frau« akzeptiere, solange bestimme ich die symbolische Bedeutung des Frau-Seins mit, und niemand wird die Frauen verstehen, der mich wegen angeblich untypischen Verhaltens aus diesem kulturellen Kollektiv herausdefiniert. Dasselbe gilt für alle anderen Gruppen und Kulturen, zu denen ich gehöre. Es ist immer eine Wechselbeziehung zwischen mir als Einzelner und den Kollektiven, zu denen ich gehöre – sie prägen mich, aber ich präge auch sie. Ich bin nicht von ihnen unabhängig, und gleichzeitig verändere ich sich sie mit allem, was ich tue und sage.

Ein sehr eindrückliches Beispiel waren die Terrorattentäter vom 11. September: Elf Männer, also eine recht kleine Gruppe, haben schlagartig das symbolische Kollektiv »Islam« verändert. Durch das, was sie taten, und weil sie es ausdrücklich als Muslime taten, ist der Islam anders geworden. Das lässt sich nicht durch gegenteilige Behauptungen leugnen. Es gibt so wenig eine objektive Bedeutung vom Muslim sein, wie es eine objektive Bedeutung vom Frau-sein gibt. Deshalb finde ich es immer auch etwas albern, wenn Vertreter des Islam oder gut meinende Westler jetzt kommen und sagen: Der Islam ist aber gar nicht so, denn die meisten Muslime sind friedlich. Das mag natürlich stimmen, es ändert aber nichts daran, dass der Islam durch diese Attentate verändert wurde. Die symbolische Bedeutung von Muslim sein hat sich verändert, sowohl in der symbolischen Ordnung der westlichen Demokratien, als auch in der symbolischen Ordnung islamischer Kulturen selbst. Denken Sie nur an die symbolische Bedeutung des einfachen Kleidungsstückes Kopftuch, das noch vor zehn Jahren ein Zeichen für Rückständigkeit war, oder für eine bestimmte Mode, oder einfach Folklore oder individuelle Frömmigkeit. Wenn heute eine Muslimin Kopftuch trägt oder nicht trägt, dann wird das aber unweigerlich als politisches Symbol interpretiert, und zwar egal ob sie das beabsichtigt oder nicht.

Was können wir also tun? »Statt Rechenschaft von anderen zu fordern, sollten wir erst einmal unsere eigene Kultur von ihrer Dünkelhaftigkeit befreien«, sagte der libanesische Schriftsteller Abbas Beyhoun kürzlich als Aufforderung an arabische, muslimische Intellektuelle, und er hat recht. Das gleiche gilt aber natürlich auch für uns, die westlichen Demokraten. Es gilt auch für uns, die Frauen. Für jede Gruppe

Wie geht das aber, die eigene Kultur von ihrer Dünkelhaftigkeit zu befreien? Es ist ja auffällig, wie schwer das gelingt. Auch die Frauenbewegung war (und ist) streckenweise dünkelhaft, und vielleicht können andere Kulturen von den Fallen lernen, in die wir getappt sind. Die größte Falle ist die Versuchung, von einem »Wir« des eigenen Kollektivs zu träumen. So machten sich Frauen zum Beispiel zu Repräsentantinnen der Frauen, beanspruchten, im Namen der Frauen zu sprechen. Sprachen von Solidarität und Fraueninteressen, zum Beispiel. Dahinter steht natürlich die Hoffnung, dass Frauen, die mit einer Stimme sprechen, vielleicht eher gehört werden, was übrigens nicht stimmt. Ähnliches dachten wohl auch diejenigen, die den Anti-Kriegs-Kurs von Bundeskanzler Schröder kritisierten und als Argument vorbrachten, er würde die Interessen des Westens zu schwächen, indem er dem Irak die Möglichkeit gibt, ihn als Kronzeugen gegen die USA zu zitieren. Auch im westlichen Bündnis gibt es offenbar die Angst, wenn wir nicht mit einer Stimme sprechen, dann kriegt uns der Gegner. Ich weiß nicht viel über die Diskurse im Islam, aber ich glaube, sie laufen dort so ähnlich ab.

Aber jede Kultur, die sich bemüht, mit einer Stimme zu sprechen, wird bald nichts mehr zusagen haben, sondern nur noch Luftblasen und unglaubwürdige Floskeln von sich geben. Denn es ist gerade die Differenz, also die Tatsache der unterschiedlichen Stimme, die eine Kultur lebendig hält. Wenn ein Saddam Hussein stolz darauf ist, 100 Prozent der Stimmen bei 100 Prozent Wahlbeteiligung bekommen zu haben, dann ist das nicht nur lächerlich, sondern auch ein Beweis dafür, dass es eine politische Kultur im Irak nicht mehr gibt.

Aber es besteht kein Anlass zu Überheblichkeit. Für die Versuchung, die eigene Identität über Vereinheitlichung zu suchen, sind alle Kulturen anfällig. Frauen haben da auch ihre bitteren Erfahrungen gemacht. Ich sage bei meinen Vorträgen vor Frauengruppen fast immer den folgenden Satz: Frauen haben keine gemeinsamen Interessen. Das Zusammenbinden »der Frauen« ist eine Sichtweise des Patriarchats, das die Frauen immer sofort mit den Männern vergleicht. So kann man nie zu einer eigenen, wirklich freien Bedeutung des Frau-Seins kommen.

Genauso könnte man sagen: Westliche Demokraten haben keine gemeinsamen Interessen, Muslime haben keine gemeinsamen Interessen. Immer wenn eine Gruppe, eine Kultur, auf Solidarität eingeschworen wird, dann geht es nicht mehr darum, eine freie symbolische Bedeutung der eigenen Identität zu finden, eine symbolische Ordnung zu schaffen, in der man sich bewegen will, dann geht es nicht mehr darum, über die eigenen Ziele und Positionen nachzudenken, sondern nur noch darum, was uns von unseren Gegnern unterscheidet. Dann kommt man schnell dazu, Frauen in Abgrenzung von den Männern zu definieren, Muslime in Abgrenzung von den westlichen Zivilisationen, westliche Demokratien in Abgrenzung vom Islam und so weiter. Eine Kultur jedoch, die sich in Abgrenzung von anderen Kulturen definiert, ist gefesselt. Sie kann ihre Potenziale nicht entfalten, weil sie sich nicht in Freiheit mit der Welt verbindet, sich nicht mit den eigenen Werten und Idealen und Stärken beschäftigt, sondern sich vom Außenblick leiten lässt, und also von der Definition der anderen abhängig macht.

Wir Frauen haben das in Zeiten der Emanzipationsbewegung oft falsch gemacht und daraus gelernt. Wir haben gelernt, dass weibliche Freiheit gerade nicht aus der Abgrenzung von den Männern entsteht, zum Beispiel. Gleiches gilt, so meine ich, für alle Kollektive. Es schwächt jede Gruppe, jede Kultur, wenn sie sich in Abgrenzung zu anderen definiert. Es schwächt die westlichen Demokratien, wenn sie sich in Abgrenzung zu einem islamischen Politikverständnis definieren – das Beispiel der Einschränkung der Menschen- und Freiheitsrechte in den USA als Gegenreaktion zu den Terroranschlägen ist ja diskutiert worden. Auch der Islam mit seiner reichhaltigen Kultur wird geschwächt durch diejenigen, die einen guten Muslim jetzt in Abgrenzung zu den Westlern definieren.

Ich möchte noch etwas zu den beiden Begriffen Toleranz und Terror sagen. Toleranz und Terror sind zwei Antworten, die die männliche Kultur auf die Tatsache der Differenz gegeben hat. Und zwar, wie ich meine, zwei schlechte Antworten. Warum Terror eine schlechte Antwort ist, liegt auf der Hand: Terror zielt auf die Negierung des anderen, ein Terrorist kann die Existenz des anderen, die Differenz, nicht ertragen, und da er es nicht unterwerfen kann, will er es zerstören und bekämpfen.

Toleranz ist dagegen ein weitaus kleineres Übel. Aber es ist eine Position, die ebenfalls nicht zu einem kreativen Umgang mit der Differenz in der Lage ist. Wer tolerant ist, lässt das andere zwar bestehen, lässt sich aber nicht wirklich auf eine Auseinandersetzung ein. Man existiert nebeneinander her, ist sich gleich-gültig. Auch in der Forderung nach Toleranz steckt der Gedanke drin, dass die Differenz ein Problem, etwas Schlechtes ist – und um Gewalt zu verhindern, üben wir uns in Toleranz.

Die Denkerinnen der Differenz reden nicht von Toleranz, sie haben einen anderen Begriff gefunden: Vermittlung. Vermittlung bedeutet die Möglichkeit und Notwendigkeit, die eigene Position dem anderen zugänglich und verständlich machen zu wollen und gleichzeitig immer auch die Möglichkeit und Notwendigkeit, selbst etwas dazu zu lernen, das Risiko und die Chance, sich selbst zu verändern. Vermittlung ist der Prozess, aus dem Neues entsteht, die Motivation ist Interesse und Neugier, die Hoffnung, es könnte besser werden.

Wer auf Vermittlung setzt, gibt der Tatsache der kulturellen Differenz eine andere symbolische Bedeutung, als die, die zwischen Terror und Toleranz schwanken. Sieht sie nicht als Gefahr, sondern geradezu als Voraussetzung dafür, dass wir überhaupt in der Welt sein können. Von dem Moment an, wo wir auf die Welt kamen, machten wir alle nämlich die Erfahrung der Ungleichheit – die erste Person, mit der wir eine Beziehung hatten, unsere Mutter, war vor allem ungleich, und diese ihre Ungleichheit war die Voraussetzung für unser Überleben. Diese Erfahrung, dass es für mich existenziell notwendig ist, dass andere Menschen anders sind als ich, dass sie ein Mehr haben, an dem ich wachsen kann, das mir eine Möglichkeit gibt, mich selbst zu verändern, diese Erfahrung ernst zu nehmen, bedeutet, nicht mehr tolerant und gleichgültig zu sein in meiner Beziehung zu anderen, sondern nach Vermittlungen zu suchen. Also mit den anderen in einen wirklichen Dialog zu treten, was immer auch heißt, das Risiko einzugehen, sich selbst zu verändern. Dann geht es nicht mehr um Sieger und Verlierer, um Recht haben oder Unrecht haben, und auch nicht darum, wer am längeren Hebel sitzt, sondern einzig und allein um die Frage, ob Vermittlung gelingt oder nicht. Vermittlung hat etwas zu tun mit Sprache, mit Interpretationen, mit sich verständlich machen, mit zuhören. Mit Bedeutungen finden, eben mit dem Symbolischen. Gelingt sie, ist etwas Neues entstanden, zunächst auf der symbolischen Ebene, aber die Realität wird folgen. Gelingt sie nicht, verhärten sich die Fronten. Das heißt: Wir müssen uns dann eben von Neuem darum bemühen und nach Wegen der Vermittlung suchen. Ohne Vorbedingungen, ohne Einschränkungen, ohne Verbote und ohne political correctness.

Damit Vermittlung möglich ist, dafür braucht es Freiheit. Die Freiheit des oder der Einzelnen, in erster Person, nur für sich selbst sprechend, in die Verhandlung mit anderen zu gehen. Vermittlung ist etwas ganz anderes als Diplomatie. Sprachregelungen, Rituale und festgelegte Abläufe, sind Gift für echte Vermittlung. Sie gelingt nur, wenn wir ständig offen sind für das Neue, das Unerwartete, wenn wir den Mut haben, unkonventionell zu sein, wenn wir wagen, mal was anderes auszuprobieren, vielleicht erst einmal im Scherz, wenn wir keine Bedingungen stellen, wenn wir nichts sagen, woran wir nicht wirklich glauben können. Vermittlung braucht die Freiheit des oder der Einzelnen, in erster Person aufzutreten und zu handeln, sich nicht repräsentieren zu lassen von anderen. Wir können diese Arbeit der Vermittlung nicht delegieren an Volksvertreter oder Gremien. Sie ist eine tägliche Herausforderung, wo immer wir sind, mit wem auch immer wir es gerade zu tun haben. Wir müssen diese Entscheidung immer wieder neu treffen, bei jedem Gespräch und in jeder Begegnung neu.

Vermittlung braucht Freiheit, denn ohne Freiheit werden wir nicht den Mut finden, unkonventionell zu sein und das Unerwartete zu tun, etwas Neues zu wagen. Freiheit bedeutet aber in diesem Zusammenhang etwas ganz anderes, als in unserer westlichen philosophischen Tradition. Freiheit bedeutet nicht Unabhängigkeit und Autonomie. Unabhängigkeit und Autonomie gibt es in der Welt nicht, sie sind eine Illusion des männlichen Geistes. Freiheit bedeutet, die Möglichkeiten zu nutzen, die sich für mich daraus ergeben, dass ich nicht allein auf der Welt bin, sondern in einer Ordnung, in einem Beziehungsgeflecht stehe. Die Chancen der Differenz zu nutzen, indem ich einen echten Dialog, in eine Beziehung mit dem anderen eintrete. Frei zu sein, ist eine persönliche Entscheidung. Deshalb gibt es auch in jeder Kultur Menschen, die frei sind, und solche, die nicht frei sind. Auch die westliche Gesellschaft fördert Konformismus und Versklavung des Denkens, machen wir uns da nichts vor. Ob ein Mann oder eine Frau frei ist oder nicht, das kann ich nur in der persönlichen Begegnung heraus finden, ich kann es nicht an Äußerlichkeiten erkennen, wie etwa daran, ob sie ein Kopftuch trägt oder nicht.

Die persönliche Entscheidung, frei zu sein, kann einsam machen, denn die Freiheit steht im Konflikt mit der trügerischen Sicherheit der Rechte oder der staatlichen und gesellschaftlichen Anerkennung – in welcher symbolischen Ordnung auch immer wir beheimatet sind. Die Liebe zur Freiheit hat Frauen in der Frauenbewegung einsam gemacht, sie macht Muslime im Islam einsam, und Demokraten in westlichen Gesellschaften. Freiheit lässt sich nicht per Gesetz verordnen und auch nicht durch Kriege verbreiten. Wie aber dann? Was können wir für die Freiheit tun? Luisa Muraro, die italienische Philosophin, von der ich viel gelernt habe, hat dazu folgendes Bild vorgeschlagen, mit dem ich enden möchte: Die Freiheit, sagt sie, ist »ansteckend«. Sie verbreitet sich wie eine Krankheit, wenn die Abwehrkräfte nur genügend geschwächt sind. »Die Ansteckung erfolgt aber nicht, indem man den Feminismus lehrt« – oder, könnte man hinzufügen, die westliche Demokratie oder den Islam oder sonst irgend einen Inhalt – »sondern – indem wir unsere Freiheit und die Freiheit der anderen lieben«.


Vortrag am 18.10.2002 in der katholischen Akademie Franz Hitze Haus in Münster. Siehe auch:

Zeit, laut zu widersprechen: Die Soldatin Lynndie England und der Feminismus

Gibt es eine weibliche Bedeutung von Terror und Krieg?

Luisa Muraro zur Situation nach dem 11. September