Es ist Zeit, zu widersprechen: Die Soldatin Lynndie England und der Feminismus
Toleranz und Terror oder die symbolische Bedeutung von Ereignissen
Gibt es eine weibliche Bedeutung von Terror und Krieg?
Ich bedanke mich sehr für die Einladung zu dieser Veranstaltung, und hoffe, dass meine Denkanregungen Sie bei Ihrem politischen Engagement weiterbringen und dafür hilfreich sind. Es sind allerdings möglicherweise ungewohnte Gedanken, die ich Ihnen hier anbieten möchte. Aber ich glaube, die Situation, mit der wir es zu tun haben – nicht erst seit dem 11. September, nicht erst seit dem Krieg in Afghanistan – ist so ernst, dass wir nicht weiterkommen, wenn immer wieder die gleichen, alten Glaubensbekenntnisse wiederholt werden, sondern dass tatsächlich ein neues Denken gefordert ist.
Ich selbst bin keine Antikriegsaktivistin oder Frauenrechtlerin, sondern Politikwissenschaftlerin und Journalistin, und das weibliche Denken ist sozusagen mein »Spezialgebiet«: Ich untersuche die weibliche Philosophie und Ideengeschichte. Die Frage, was Frauen im Bezug auf Politik zu sagen haben, ist derzeit ja allgegenwärtig, gerade wenn wir uns Afghanistan anschauen, wo Frauen per Gesetz jedes öffentliche Auftreten verboten wurde. Wir haben uns hier im Westen nach den Erfolgen der Frauenbewegung daran gewöhnt, eine gewisse Präsenz von Frauen in der Öffentlichkeitzu haben, so dass uns diese Männergruppen, die da im Fernsehen oder in Politikerrunden und Konferenzen zu sehen sind, zunehmend absurd vorkommen. Mir geht es jedenfalls so. Das alles könnten wir großmütig tolerieren – so wie wir ja auch die Männerspielwiese Fußball tolerieren – wenn diese Männer nicht so viel Leid verursachen würden. Wenn sie nicht so unfähig wären, die Probleme der Welt zu lösen, eine Aufgabe, die sie für sich allein in Anspruch nehmen, ohne die Frauen um Hilfe zu bitten. Wenn sie nicht darauf bestehen würden, das alles untereinander regeln zu können.
Das gilt aber nicht nur für Länder wie Afghanistan oder Saudi-Arabien, sondern auch für den Westen. Wir haben uns hier als Frauen zwar den Zugang zu allen Orten erkämpft, auch zu den Parlamenten und Medien, aber die Voraussetzung für diesen Zugang ist noch immer allzu oft, dass wir uns an die männlichen Spielregeln halten müssen, dass wir von unserem Geschlecht sozusagen absehen – ein Beispiel dafür ist etwa Angela Merkel, die immer betont, dass sie nicht als Frau Parteivorsitzende der CDU ist, sondern als Mensch, als geschlechtsneutrales Wesen sozusagen.
Die Themen, um die es in der offiziellen Politik geht, sind Männerthemen. Das ist nicht unbedingt als Vorwurf gemeint und ich will damit nicht sagen, dass Frauenthemen besser wären, als Männerthemen. Es ist einfach eine Feststellung. Die Regeln, Riten, Abläufe der offiziellen Politik, all das ist aus einer männlichen Kultur heraus entstanden, zu der Frauen erst seit relativ kurzer Zeit Zugang haben. Es ist keine weibliche Kultur, und das ist eine historische Tatsache. Das erklärt meiner Meinung nach auch, warum Frauen häufig unsicher und ambivalent sind, wenn sie an diesen Orten tätig sind oder sich zu den dort diskutierten Themen eine Meinung bilden sollen. Mir jedenfalls geht es so. Ich muss mich zum Beispiel zwingen, die Nachrichten zu schauen oder den politischen Teil der Zeitung zu lesen, weil mich dabei immer das Gefühl beschleicht, das alles gehe mich irgendwie nichts an. Es interessiert mich nicht, es ist langweilig, was da geschieht und diskutiert wird.
Viele Frauen haben aber das dringende Bedürfnis, sich in diesen Themen kundig zu machen und in dieser »offiziellen Politik« mitzureden. Angesichts der großen Probleme der Welt und ihres desolaten Zustands ist das auch nur zu verständlich. Allerdings stellt sich damit die schwierige Frage, was wir, was eine Frau hier sinnvoller Weise tun kann. Es handelt sich bei all den politischen Themen und Kontroversen nämlich gar nicht um einen Konflikt oder ein Themenfeld, das zwischen Männern und Frauen verhandelt wird (denn das würde voraussetzen, dass Frauen als ernstzunehmende Verhandlungspartnerinnen gesehen würden), sondern dort verhandeln Männer untereinander. Wenn wir uns als Frauen in diese Konflikte einmischen, besteht immer die Gefahr, dass wir uns in Schein-Diskussionen verstricken, die die Männer uns aufzwingen. Und zwar aus folgendem Grund:
Ereignisse haben immer eine symbolische und eine materielle Seite. Gerade am Beispiel der Terroranschläge in New York und der Reaktionen darauf kann man das sehr deutlich sehen. Es geht bei politischen Diskussionen niemals nur darum, was passiert oder passiert ist, sondern vor allem auch darum, welche Bedeutung ein Ereignis für uns haben soll, wie es interpretiert wird. Was die Weltpolitik angeht, so wird sogar immer deutlicher, dass die symbolische Seite eigentlich die wichtigere ist. Bis in die öffentliche Wahrnehmung hinein wurde ja immer wieder betont, dass es bei den Terroranschlägen in New York um einen Angriff auf die Symbole der westlichen Welt gegangen sei. Auch der anschließende Kriegsverlauf – Bomben auf ein bereits zerstörtes Land, die kritiklose Solidaritätserklärung der deutschen Regierung an die USA – hat gezeigt, dass es hier vor allem darum geht, Symbole zu besetzen. Deutsche Soldaten waren in Afghanistan keineswegs aus militärischer Sicht vonnöten. Es ging um die symbolische Geste.
Diese symbolische Interpretation der Ereignisse folgt, so wie sie in der offiziellen Politik und in den Medien geschieht, aber einer patriarchalen Logik. Wenn wir über die Terroranschläge und den Krieg in Afghanistan diskutieren, dann geht es gar nicht um die Ereignisse als solche, sondern um die symbolische Bedeutung, die ihnen bereits gegeben wurde. Wenn ich mich nicht in der Symbolik des Patriarchats bewegen will, muss ich mir daher erst einmal die Frage stellen: Was ist überhaupt passiert? Welche Bedeutung haben die Ereignisse für mich, eine Frau oder für dich, eine Frau?
Es gibt kein Ereignis ohne Interpretation. Manche politischen Argumente versuchen, diese Interpretationen sozusagen »abzuschälen« und die Fakten dahinter hervorzuholen. Sie sagen zum Beispiel: In New York sind 5000 Menschen gestorben, aber in Afrika sterben täglich noch viel mehr Menschen und es regt auch niemanden auf. Aber selbst wenn das stimmt – es ist kein Argument. Denn im politischen Diskurs ist die symbolische Seite immer die wichtigere. 5000 Tote für sich genommen haben überhaupt keine »objektive« Bedeutung. Sie werden nur zusammen mit einer Bedeutung, die wir ihnen geben, Wirklichkeit. Wir müssen uns also auf diese symbolische Debatte einlassen, wenn wir politisch handeln und argumentieren wollen.
Anders gesagt: Die Aufgabe einer weiblichen Politik ist es, eine eigene, eine weibliche symbolische Bedeutung für Ereignisse zu finden. Es geht um die Frage, ob es eine weibliche Bedeutung für Terror und Krieg gibt. Wenn wir diese Frage beantworten möchten, geraten wir jedoch schnell in die Versuchung, von einem »Wir« der Frauen, von »den Frauen«, zu sprechen. Einige Frauen machen sich dann zu Repräsentantinnen aller Frauen, beanspruchen, im Namen der Frauen zu sprechen. Es ist dann zum Beispiel von Solidarität und Fraueninteressen die Rede. Dahinter steht die Hoffnung, dass Frauen, die mit einer Stimme sprechen, vielleicht eher gehört werden. Das ist aber nicht so. Denn, und diese These ist für einige von Ihnen vielleicht ungewohnt, aber sie ist mir sehr wichtig: Frauen haben keine gemeinsamen Interessen. Das Zusammenbinden »der Frauen« ist eine Sichtweise des Patriarchats, das die Frauen nur deshalb als Gruppe wahrnimmt, weil es sie immer sofort mit den Männern vergleicht. Es geht aber nicht um das Verhältnis der Frauen zu den Männern, sondern es geht um das Verhältnis der Frauen zur Welt.
Ich habe gesagt, die Aufgabe einer weiblichen Politik ist es, eine freie, weibliche Bedeutung für Ereignisse zu finden. Dabei hilft uns aber gerade nicht die weibliche »Solidarität« oder die Suche nach »Fraueninteressen«, sondern im Gegenteil gerade die Unterschiedlichkeit der Frauen. Diese Unterschiedlichkeit ist ein Reichtum. Wenn wir uns austauschen oder auch streiten über unsere unterschiedlichen Erlebnisse, Meinungen, Perspektiven, dann erst bekommen die Ereignissen eine Bedeutung, die auf weiblichen Erfahrungen und Urteilen beruht und nicht eine Reaktion auf die Symbole ist, die das Patriarchat an die Stelle der Ereignisse gesetzt hat.
Das heißt: Ich kann mir gegenwärtig zu der Frage, was jetzt in Afghanistan nötig ist, gar kein Urteil bilden, weil ich noch nicht gehört habe, welche unterschiedlichen Positionen Frauen in Afghanistan einnehmen. Was ist höre, sind entweder die Probleme der Männer, oder ich höre etwas von den angeblichen Interessen und Wünschen »der« Frauen. Aber erst, wenn ich die Auseinandersetzungen und Unterschiede zwischen Frauen kenne, weiß ich, worum es überhaupt geht, was das Problem ist. Ich möchte also wissen, worüber sich muslimische und nichtreligiöse Frauen streiten, welche unterschiedlichen Einschätzungen und Meinungen Städterinnen und Nomadinnen haben,alten und junge Frauen, konservative und fortschrittliche Frauen, Mütter und Alleinstehende. Erst wenn die diese Kontroversen kenne, kann ich auch meine eigene Meinung als Frau bilden, im breiten Konzert der vielen weiblichen Meinungen.
Worüber ich aber etwas weiß und wozu ich deshalb auch eine Meinung habe, das ist die westliche Geschichte, denn hier kenne ich schon unterschiedliche Frauenpositionen. Ich weiß, was Frauen hier zu Lande tun und worüber sie sich streiten. Deshalb kann ich auch Position beziehen dazu, wie das Thema Terror und Krieg derzeit hier im öffentlichen Diskurs symbolisch gedeutet wird. Und ich weiß, dass diese Interpretation keine ist, die mit den Themen der Frauen etwas zu tun hat. Wenn man sich die aktuelle Lage der Welt aus der Perspektive anschaut, mit denen sich Frauen beschäftigen, die ihnen wichtig sind, wo sie aktiv sind und Ideen entwickeln – durchaus unterschiedliche natürlich – dann ergibt sich eine neue Sicht auf die Ereignisse. Ein paar Beispiele:
Bei den Terroranschlägen am 11. September sahen wir entsetzt die Bilder von den einstürzenden Wolkenkratzern im Fernsehen, und es war spontan allen klar, was passiert. Das Ereignis war so einmalig und unerwartet, dass noch nicht sofort mediale symbolische Bedeutungen darüber gegossen werden konnten. Und ganz spontan breitete sich ein Gefühl und eine Einsicht aus, die eigentlich eine weibliche ist, in diesem Moment aber allen Menschen verständlich war: Ohnmacht. Die Erkenntnis, dass wir als Menschen in einer hochtechnisierten Welt mit hohem aggressiven Potenzial solchen Gefahren ausgeliefert sind. Wir können uns nicht hundertprozentig dagegen schützen, sondern wir müssen wohl mit diesen Gefahren leben und versuchen, sie möglichst gering zu halten. Dies war die unmittelbare Bedeutung, die die Menschen – Frauen wie Männer – diesem Ereignis im September gaben.
Ohnmacht, Schutzlosigkeit – das sind Erfahrungen, mit denen Frauen durch die Jahrhunderte hinweg gelernt haben, umzugehen, und auf die sie auch Antworten gefunden haben. Ohnmacht auszuhalten und sich einzugestehen, um Hilfe bitten zu müssen, nicht alles unter Kontrolle zu haben, auf gute Beziehungen mit anderen (und mit Gott) angewiesen zu sein – das ist zum Beispiel ein zentrales Thema der christlichen Mystikerinnen gewesen, und auch in der so genannten Frauenliteratur des 19. Jahrhunderts finden Sie viele gute Ideen dazu. Am ersten Tag nach den Terroranschlägen war diese weibliche Erfahrung allgemein, aber es wurde leider nicht die weibliche Kompetenz im Umgang mit dieser Erfahrung abgefragt – was ich damals, vielleicht etwas naiv, erwartet hatte. Ich dachte: Jetzt können sie doch nicht mehr so weitermachen, wie bisher, jetzt müssen sie doch einsehen, dass das Zurückschlagen nichts bringt, weil man dieser Gefahr so nicht begegnen kann. Aber ich habe mich leider geirrt. Schnell, innerhalb von ein bis zwei Tagen, schob sich über diese weibliche Bedeutung der Anschläge – wir sind schutzlos – die gegenteilige, männliche Parole: Wir sind nicht ohnmächtig, wir sind die Stärkeren, wir lassen uns nicht unterkriegen, wir schlagen zurück. Die Terroranschläge vom 11. September haben die Welt leider nicht verändert, auch wenn das manchmal immer noch behauptet wird, sondern es geht so weiter, wie bisher.
Ein anderer zentraler Begriff der weiblichen Kultur ist Zivilisation. Nach männlicher Interpretation ist Zivilisation offenbar eine in sich homogene Gesellschaft, die zivilisiert ist, weil sie gewisse Gesetze, Regeln, Bekenntnisse hat, die irgendwo niedergeschrieben sind und von offiziell anerkannten Gremien hochgehalten werden. Die Basis für Zivilisationen ist jedoch das, was im Alltagsleben geschieht, die Tatsache, dass Menschen lernen, miteinander umzugehen, dass ihnen beigebracht wird, Konflikte offen auszutragen und nach guten Lösungen im Sinne des Wohles aller Beteiligten zu suchen. Das geschieht nicht in Parlamenten (die geben eigentlich dauernd Beispiele für das Gegenteil), sondern in Schulen, in Familien, in Kindergärten, in Büros, beim Einkaufen, im konkreten Zusammenleben, überall da eben, wo Menschen mit unterschiedlichen Interessen miteinander leben. Und an diesem Zivilisierungsprozess sind Frauen ganz maßgeblich beteiligt, es sind mütterliche Tätigkeiten.
Auch in Afghanistan ist das natürlich so, auch da gibt es Zivilisation, auch da gibt es Familien, auch da werden Kinder erzogen und Konflikte werden gelöst. Daher ist es falsch, wenn in Flugblättern anprangert wird, die Männerherrschaft der Taliban hätte die Frauen in Afghanistan ausgeschaltet. Das stimmt nicht, sie haben es vielleicht versucht, aber es ist ihnen nicht gelungen, denn das gelingt ihnen nie. Keine Gesellschaft funktioniert ohne die Frauen. Das ist es, was wir lautstark betonen müssen und worauf wir aufbauen können. Es ist ein symbolisch falscher Weg, die Hilflosigkeit von Frauen hervorzuheben, in der trügerischen Hoffnunh, die Herren von der UNO oder irgend einer Regierung würden dann besser für uns sorgen. Wenn ich in einer Charta zur Verteidigung der Frauen in Afghanistan lese, dass während der Taliban-Herrschaft »jede Spur von Zivilisation in diesem Land vernichtet« wurde, dann ärgere ich mich: Denn das ist falsch. Die Befreiung Kabuls und das fast umgehende Wiedererwachen des öffentlichen Lebens, die Radios, die Schminke, das Tanzen – all das ist offensichtlich auch durch die Jahre der Gewaltherrschaft bewahrt worden, ein Werk der Mütter und der Frauen. Selbst wenn sie versklavt sind, leisten Frauen dieses Werk der Zivilisation. Es ist wichtig die Bedeutung dieser Tatsache immer wieder hervorzuheben.
Es gibt nicht zivilisierte und nicht-zivilisierte Gesellschaften, sondern es gibt in jeder Gesellschaft zivilisierte Anteile und unzivilisierte Anteile, und die zivilisierten Anteile spielen sich normalerweise nicht auf der politischen Bühne ab, sondern im Alltag, dort,wo Frauen aktiv sind und wo sie einen großen Anteil daran haben, dieser Zivilisation eine Grundlage zu geben. Auf dieses weibliche Werk der Zivilisierung bezieht sich übrigens auch ein FrauenKirchenManifest zur aktuellen Lage der Welt. Es ist auf einer Mailingliste entstanden, die seit einiger Zeit schon an dieser neuen, weiblichen symbolischen Ordnung arbeitet.
Ein dritter Punkt, der mir einfällt, ist Effektivität. Wenn es so ist, dass Gruppen von unberechenbaren jungen Männern die Möglichkeit haben, Zerstörung in einem solchen Ausmaß wie in New York anzurichten, dann muss etwas dagegen unternommen werden. Das Bedürfnis nach Schutz ist eines, das viele Frauen haben, auch, weil sie Verantwortung für Kinder und andere Menschen tragen. Ihr Kriterium dafür ist jedoch das der Effektivität, nicht das von Ehre und Männlichkeitsgehabe. Sie sind sich dabei nicht zu schade, andere davon zu überzeugen, Dinge umzusetzen, die sie selbst erreichen wollen. Dies zu tun ist für Frauen kein Gesichtsverlust. Frauen fragen: Wie kann ich die Dinge zum besseren verändern? Und sie sind sich da nicht zu schade, wenn es darauf ankommt, sich selbst als Persönlichkeit zurück zu nehmen, um der Sache willen. Auch dies ist ein Wissen, von dem Politiker in einer solchen Situation hätten lernen können.
Es gibt vermutlich noch viel mehr Punkte, an denen ein freies, weibliches Denken ganz andere Bedeutungen für Ereignisse wie Terror und Krieg findet. Feministische Philosophinnen nennen das: Die Arbeit an einer weiblichen symbolischen Ordnung, an der wir uns orientieren können, wenn wir uns nicht mehr an den symbolischen Ordnungen des Patriarchats orientieren wollen, die eher Unordnungen sind. Daran sollten wir alle uns aktiv und laut und engagiert beteiligen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal zusammenfassen: Es ist keineswegs so, dass es eine einheitliche weibliche Meinung zu bestimmten politischen Fragen gibt, etwa zur Frage nach dem Krieg, zur Frage, wie der Wiederaufbau in Afghanistan vonstatten gehen soll, wie wir im Westen auf die neue Situation reagieren sollen. Wir sollten deshalb auch keine entsprechenden Stellungnahmen verfassen und Forderungen im Namen »der Frauen« erheben.
Worauf es ankommt ist, dass sich möglichst viele Frauen an der Arbeit an einer neuen symbolischen Ordnung beteiligen, daran mitarbeiten, dafür öffentlich und laut eintreten, indem sie von sich selbst ausgehen und als Frau daran mitwirken, die Ereignisse ernst zu nehmen, ihnen eine Bedeutung zu geben, ein Urteil zu fällen, gerade auch in der Auseinandersetzung mit anderen Frauen. Dies ist wichtig – nicht im Interesse der Frauen, sondern im Interesse der Welt! Ich vermute, dass mir gerade in diesem Punkt viele Afghaninnen recht geben würden, denn in der westlichen Geschichte, in der ich mich auskenne, war es zumindest immer so, dass Frauen in Kriegs- und Krisenzeiten weniger an sich selbst dachten, als daran, eine gute Lösung für die anstehenden Probleme zu finden. Die Männer machen das natürlich anders, es war ja schon fast ekelhaft, wie schnell die einzelnen Interessensgruppen versucht haben, aus den schrecklichen Ereignissen den größtmöglichen Profit für sich selber zu schlagen. Daran sollten wir uns wahrlich kein Beispiel nehmen.
Darüber, was für die Welt gut ist und wie wir die anstehenden Probleme lösen können, darüber müssen wir Frauen untereinander streiten – nicht mit den Männern. Christinnen und Musliminnen, konservative und liberale Frauen, Pazifistinnen und Befürworterinnen eines Kriegseinsatze, Mütter und Töchter, Familienfrauen und Frauen, die in Frauengruppen aktiv sind. Das, was wir überhaupt nicht brauchen, ist weibliche Solidarität. Wir brauchen kein einheitliches Auftreten der Frauen. Denn wenn wir versuchen, einen gemeinsamen Nenner zu finden, dann werden wir unsere Unterschiede verwischen, wir verlieren unsere Themen, unsere Stellungnahmen werden banal und vorhersehbar, und wir verlieren die wirklichen Probleme der Menschen und der Welt aus den Augen. Wir werden zu einem Spielball männlicher Interessen, werden instrumentalisiert und vor allem: Wir werden keinen Erfolg haben. Unsere Forderungen und Erklärungen werden dazu dienen, die eine oder andere Seite zu schmücken, aber sie werden nichts zur weiblichen Freiheit beitragen.
Die Liebe der Frauen zur Freiheit hat die Welt schon verändert. Wenn sie ihrem Begehren folgen, sind Frauen sehr stark und und kreativ. Sie bringen Neues in die Welt. Darin setze ich meine Hoffnung, nicht in die Gesetze und Konferenzen einer männlichen Kultur, die sehr impotent ist, was die Lösung der Probleme der Welt betrifft.
Was wir brauchen, ist die freie Auseinandersetzung unter Frauen darüber, was ihnen wichtig ist, was sie wollen, was sie glauben, was sie tun. Wir sollten nicht versuchen, etwas auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, wofür es keinen gemeinsamen Nenner gibt: Die Vielfalt der weiblichen Perspektiven, die Fülle unserer Erfahrungen, den Reichtum unserer Unterschiedlichkeit. Diesen Reichtum müssen wir sichtbar machen. Sprechen wir in erster Person von unseren Erfahrungen und Erlebnissen, und hören wir anderen zu, die anderes zu sagen haben. Lassen wir uns nicht vom patriarchalen Denken in die Solidaritätsfalle locken, damit sie uns dann wieder alle über einen Kamm scheren und für ihre Interessen vereinnahmen können. Sprechen wir nicht für die Frauen, sondern als Frauen, und zwar wo immer wie können, jede an dem Ort, an dem sie aktiv und engagiert ist. Und setzen wir uns dafür ein, dass immer mehr Frauen überall auf der Welt nicht nur im Verborgenen handeln, aufräumen, helfen und die Dinge in Ordnung bringen, sondern dass sie das selbstbewusst als Frauen und öffentlich tun. Setzen wir uns dafür ein, dass Frauen als Frauen sprechen – und hören wir vor allem hin, was sie zu sagen haben, auch wenn wir anderer Meinung sind.
Nicht nur wir, die Frauen, brauchen ein neues, weibliches Bewusstsein von Politik, sondern die Welt. Denn es ist inzwischen ziemlich klar, dass die alten Männerregeln und Clans die Probleme dieser Welt nicht lösen können.
Beitrag zu einer Podiumsdiskussion »Frauenbündnis gegen den Krieg« am 7.12.2001 in Frankfurt-Bockenheim.
veröffentlicht in: Hubertus Lutterbach und Jürgen Manemann (Hg.): Religion und Terror. Stimmen zum 11. September aus Christentum, Islam und Judentum, Aschendorf Verlag, Münster 2002.
Mehr zum Thema Gewalt – Toleranz und Terror oder: die symbolische Bedeutung von Ereignissen – Luisa Muraro zur Situation nach dem 11. September