Antje Schrupp im Netz

Hannah Arendt: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. Piper, 208 Seiten, 19,90 €

Moral ohne Hülle.

Nach dem Zusammenbruch aller Tugenden und Normen: Hannah Arendts Vorlesungen »Über das Böse«

Als Hannah Arendt im Jahr 1965 an der New School for Social Research in New York diese Vorlesung über »Einige Fragen der Moralphilosophie« hielt, war die Kontroverse um ihre Protokolle des Eichmann-Prozesses in Jerusalem, die sie zwei Jahre zuvor veröffentlicht hatte, noch in frischer Erinnerung. Die These von der »Banalität des Bösen« hatte Arendt viel Ärger beschert, ernsthafte Kritik wie auch pure Polemik. Indem der Piperverlag für die deutsche Übersetzung dieses von Arendt auf englisch formulierten Skripts – das kürzlich in den USA aus dem Nachlass publiziert wurde – den Titel »Über das Böse« wählte, stellt er explizit eine Verbindung zu dieser Kontroverse her. Und in der Tat nutzt Arendt die Gelegenheit jener Vorlesung, um ihre in der Eichmann-Debatte gewonnenen Einsichten noch einmal zu fundieren. Um das Böse als solches geht es dabei gar nicht in erster Linie. Ihr eigentliches Thema ist die Frage, worauf sich Moral gründet – und ob sich ein solcher Grund überhaupt finden lässt.

Daran nämlich muss man, glaubt Arendt, nach dem Holocaust zweifeln. Wie konnte es geschehen, dass moralische Tugenden und Normen, all das, was jahrhundertelang »für jede normale Person selbstverständlich gültig war, ohne große Vorwarnung über Nacht zusammenbrach«? Für Arendt markiert dieser Zusammenbruch eine einschneidende Wende, denn seither steht »die Moral plötzlich ohne Hülle im ursprünglichen Sinn des Wortes da, als ein Kanon von ›mores‹, Sitten und Manieren nämlich, der gegen einen anderen ausgetauscht werden konnte, ohne dass das mehr Mühe gekostet hätte, als die Tischmanieren zu ändern.«

Mit dieser Ausgangsfrage und dem Ehrgeiz, zu zeigen, dass Moral und Ethik wenn auch nicht selbstverständlich, so doch auch nicht ganz der Beliebigkeit des Zeitgeistes ausgeliefert seien, bringt Arendt ihren Studierenden das Denken ausgewählter Philosophen und ihre Interpretation desselben nahe. Ein Text, der auch heute noch extrem aktuell und dessen Lektüre von großem Gewinn ist.

Volle Gültigkeit konzediert Arendt der Sokratischen Maxime, wonach es besser ist, Unrecht zu erleiden, als Unrecht zu tun. Und zwar deshalb, weil der Mensch, insofern ein denkendes Wesen, immer »zwei in einem« ist, also im Zwiegespräch mit sich selbst stehend: Wer Unrecht tut, ist dazu verdammt, auf ewig mit dem Missetäter zusammen zu leben. Das ist nur möglich, wenn jede Erinnerung und jedes Nachdenken vermieden wird. Bei all dem geht es, glaubt Arendt, aber mehr um eine Frage der Wahrnehmung als um eine der Moral: Die wenigen Standhaften, die sich nicht an den Verbrechen der Nazis beteiligten, fühlten keine Verpflichtung, sondern eine Notwendigkeit: »Ihr Gewissen, wenn es das denn war, hatte keinen zwingenden Charakter; es sagte: ›Das kann ich nicht tun‹, anstelle von: ›Das darf ich nicht tun.‹«

Doch eine solche Standhaftigkeit ist nach Arendt nur in historischen Ausnahmesituationen gefragt. In halbwegs zivilisierten Zeiten sind Menschen selten genötigt, unverantwortbares Unrecht zu begehen, weshalb die Berufung auf das eigene Gewissen oft auch nur eine Ausrede ist. Was aber noch schwerer wiegt: Sokrates’ Leitspruch kann lediglich das Begehen einer bösen Tat vermeiden. Was aber könnte die Menschen dazu bringen, aktiv Gutes zu tun?

Hier setzt sich Arendt mit den beiden klassischen moralischen Begründungen auseinander: Mit der christlichen Vorstellung, das Gute zu tun sei eine Befolgung göttlicher Gebote – wobei der Ursprung des Guten also in der Transzendenz angesiedelt wird – sowie der sich auf die reine Vernunft berufenden Haltung des kategorischen Imperativs, wonach man jederzeit so handeln soll, dass die Maxime des eigenen Handelns ein allgemeines Gesetz werden kann.

Was letzteres, also Kant, betrifft, problematisiert Arendt zunächst die fehlende Möglichkeit, Unrecht nach seiner Schwere zu differenzieren: »In Kants Aussage ist das Böse dasselbe, ob es den Menschen zum Dieb oder zum Mörder macht.« Kants Irrtum, wenn man so will, ist aber vor allem seine Annahme, dass alle Menschen im Prinzip wüssten, was gut und was böse, was Recht und was Unrecht ist, für ihn ergibt sich das schlicht aus der Vernunft. Kant beschäftigt daher lediglich die Frage, warum Menschen nicht auch immer gut handeln. Arendt hingegen sucht nach Antworten auf die Frage, warum Menschen dazu kommen können, etwas geradezu Monströses tatsächlich für »gut« zu halten, wie im Nationalsozialismus geschehen.

Die christliche – eigentlich Jesuanische – Ethik, jene »merkwürdigen Selbstlosigkeit, der bewusste Versuch, sich selbst auszulöschen, Gottes oder meines Nächsten zuliebe«, ist nach Arendt ebenfalls eine, die aktiv versucht, das Gute zu tun. Den Nachteil dieser Haltung sieht sie in eben jener Selbstlosigkeit, die zunächst das Problem des Widerstreits zwischen dem eigenen Begehren und dem Willen, Gutes zu tun, hervorbringt und später die Institutionalisierung der Kirche und damit den notwendigerweise scheiternden Versuch, Gutes tun von oben zu verordnen.

Ihre eigene Antwort findet Arendt unter Rückgriff sowohl auf das Christentum als auch auf Kant. Die christliche Moral funktioniere nämlich dann, wenn Menschen sich Jesus als Vorbild für gutes Handeln nehmen. Hinweise auf eine solche sich nicht an abstrakten Begriffen, sondern an konkreten Beispielen orientierende Urteilsfindung entdeckt sie auch bei Kant – zwar nicht im Bezug auf das »Gute«, wohl aber auf das »Schöne«. In seiner Kritik der ästhetischen Urteilskraft zeigt Kant nämlich, dass, was schön und was hässlich ist, sich nicht in objektiven Begriffen fassen, wohl aber mit Beispielen belegen lässt.

Könnte man nicht, fragt nun Arendt, im Bezug auf die Moral ebenso verfahren? Sie kommt zu dem Schluss, »dass unsere Entscheidungen über Recht und Unrecht von der Wahl unserer Gesellschaft, von der Wahl derjenigen, mit denen wir unser Leben zu verbringen wünschen, abhängen werden.« Nicht falsche Ideen und Begriffe also, sondern Gleichgültigkeit in der Wahl von Beziehungen, die Weigerung, »durch Urteil zu Anderen in Beziehung zu treten«, sind für Arendt die größte Gefahr, in moralischer ebenso wie in politischer Hinsicht. Wer sich in Gesellschaft von Mördern bewegt, wird zwangsläufig selber einer werden: »Darin liegt der Horror der Bösen und zugleich seine Banalität.«


in: Frankfurter Rundschau, 17.10.2006