Die biblische Mutter Maria
Stellen Sie sich das mal vor: Da ist eine junge Frau, sie hat einen Freund, sie hat Eltern, sie hat eine Clique. Vielleicht arbeitet sie als Verkäuferin in der Bäckerei an der Ecke, oder sie studiert an der Uni Germanistik. Vielleicht macht sie auch eine Lehre zur Industriekauffrau, nichts besonderes jedenfalls, sie führt ein ganz normales Leben.
Eines Tages kommt ein Mann zu ihr und verwickelt sie in ein Gespräch. Er sagt: Hallo, Maria, du bist ausgesucht worden. Spontan denkt sie: Was ist das denn für ein Spinner? Will er mich etwa als Kandidatin für eine neue Star-Show werben? Der Schrecken steht ihr ins Gesicht geschrieben.
Nein, keine Angst, nichts dergleichen, beschwichtigt der Mann. Es ist Gott, der dich ausgesucht hat. Ich soll dir einen Vorschlag machen. Gott will, dass du schwanger wirst und ein Kind zur Welt bringst. Der Junge wird später mal ein großer und berühmter Mann werden, er wird nämlich die Welt retten.
Sie merken, ich erzähle ihnen hier die Verkündigung an Maria aus dem Lukasevangelium, so als würde sie sich heute zutragen. Es ist nämlich, genau besehen, eine wirklich verrückte Geschichte. Würde sie heute geschehen, könnte sie etwa so weiter geben:
Was ist denn das für ein Verrückter – denkt sich Maria wahrscheinlich. Andererseits ist sie aber irgendwie auch geschmeichelt. Sie will den Typen nicht einfach so wegschicken. Also verwickelt sie ihn erstmal in ein Gespräch: »Ich und schwanger werden? Wie soll das denn gehen? Ich hab zwar einen Freund, aber der will noch keine Kinder. Er nimmt immer Kondome«.
»Kein Problem«, antwortet der Mann, der natürlich in Wirklichkeit der Engel Gabriel ist, »Keine Sorge, da wird sich Gott drum kümmern. Er wird dich mit dem Heiligen Geist befruchten, dazu brauchen wir deinen Freund gar nicht. Deshalb werden sie dein Kind später auch Gottes Sohn nennen.«
Kein Wunder, dass Maria immer noch nicht überzeugt ist. Ein Kind vom Heiligen Geist? Das widerspricht doch jeder Vernunft und wissenschaftlichen Erkenntnis. Gabriel sieht ihr die Skepsis wohl an und sucht nach weiteren Argumenten: »Denk doch nur an deine Tante Elisabeth. Jahrelang hat sie Hormontherapien gemacht, und vor ein paar Monaten, als sie die Hoffnung schon ganz aufgegeben hatte und die Hormone längst wieder abgesetzt waren, wurde sie plötzlich doch schwanger. Für Gott ist nämlich nichts unmöglich.«
Die meisten von uns würden dem Engel wohl ins Gesicht lachen. Würden aufstehen und sagen: Träum weiter! So ein Quatsch. So was gibt’s doch gar nicht. Wir würden abends unseren Freundinnen diese absurde Geschichte erzählen und uns gemeinsam mit ihnen kaputt lachen.
Und am nächsten Tag würden wir wieder zur Arbeit gehen oder an die Uni, wir würden irgendwann unseren Freund heiraten und mit ihm ein Kind bekommen oder zwei, wir würden vielleicht Teilhaberin der Bäckerei, oder wir würden unseren Uni-Abschluss machen und in einem Verlag anfangen. Kurz und gut, wir würden ein ganz normales Leben führen, nichts Spektakuläres, aber zufrieden stellend.
Maria aber tut etwas Komisches. Sie überlegt einen Moment. Sie weiß zwar nicht genau warum, aber irgendetwas lässt sie ahnen, dass hier tatsächlich von etwas ungeheuer Wichtigem die Rede ist. Sie schaut den Engel an und sagt: »Okay, ich mache mit. Von mir aus kann’s losgehen«.
Sie wissen, wie die Geschichte ausgegangen ist, wir feiern das Ergebnis jedes Jahr an Weihnachten. Weil Maria, eine junge, bis dahin ganz unscheinbare Frau eingewilligt hat, Gottes Sohn zu gebären, kam Jesus auf die Welt, den wir als Erlöser und Retter feiern.
Sicher werden Sie mir zustimmen, dass das eine ganz und gar merkwürdige Geschichte ist,die da am Anfang des Lukasevangeliums erzählt wird. Merkwürdig übrigens nicht so sehr wegen der Jungfrauengeburt, über die sich so viele Leute Gedanken gemacht haben. Inzwischen können wir Menschen das ja auch: Eizellen im Reagenzglas befruchten, ganz ohne Sex. Dass also Gott vor 2000 Jahren schon etwas konnte, was menschliche Wissenschaftler erst jetzt fertig bringen – nun, so spektakulär finde ich das eigentlich nicht.
Ich finde etwas anderes an dieser Geschichte viel merkwürdiger: Warum braucht Gott eigentlich die Einwilligung der Maria, um seinen Sohn auf die Welt zu schicken? Warum dieser umständliche Weg mit dem Engel, der quasi als Kuppler auftritt und mit diesem Mädchen Maria herumdebattiert in der Hoffnung, sie von seinem verrückten Plan überzeugen zu können – unweigerlich fragen wir uns ja, von wie vielen potenziellen Gottesmüttern er zuvor schon abgewiesen wurde…
Hat Gott also keine andere Möglichkeit? Er könnte Jesus doch einfach von einer Wolke herunter schweben oder aus dem See Genezareth auftauchen lassen! Das wäre ja auch viel spektakulärer als so eine ganz normale Geburt. Oder er könnte sich einfach irgend ein schon geborenes Kind auswählen und ihm den Heiligen Geist später einpflanzen.
Erstaunlicherweise hat sich die Theologie bisher nur wenig mit der Frage beschäftigt, warum Gott eigentlich geboren wurde. Zwar haben sie die Tatsache, dass Gott ungefähr im Jahr Null durch Geburt in die Welt eingetreten ist, in ihrer Dogmatik immer wieder bestätigt und zum offiziellen christlichen Glaubensinhalt gemacht. Dennoch, schreibt die Schweizer Theologin Ina Praetorius in ihrem neuen Buch »Handeln aus der Fülle«, »findet sich in theologischen Standardwerken so gut wie kein ernst zu nehmendes Denken des Geborenseins, taucht das Stichwort »Weihnachten« in den Sachregistern theologischer Lehrbücher kaum je auf, isolieren Theologen seit Jahrhunderten die Geschehnisse um Tod und Auferstehung Jesu Christi von seiner Geburtlichkeit.«1
Seit den 1970er Jahren haben feministische Theologinnen dieses Defizit erkannt. Mary Daly schrieb zum Beispiel, dass ein Christentum, das göttliches Geborensein zwar verkündet, aber nicht zum Gegenstand des Denkens macht, sei nekrophil, also todesversessen.
Vor allem die Protestanten haben ja traditionell so ihre Probleme mit Maria. Vor zwei Jahren hatten wir in der Redaktion von »Evangelisches Frankfurt« einen regelrechten Streit darüber, ob wir Maria in einem Artikel als »Mutter Gottes« bezeichnen können. Ich hatte das hingeschrieben und mir nichts weiter dabei gedacht, aber die Männer in der Redaktion – teilweise evangelische Pfarrer – waren vehement dagegen. Das sei nicht evangelisch. Ich habe, ehrlich gesagt, bis heute ihre Argumente nicht so richtig verstanden. Es hatte irgend etwas damit zu tun, dass es ein katholisches Dogma gibt, wonach Maria die Gottesgebärerin sein soll, und das scheint im Umkehrschluss zu bedeuten, dass sie für uns Evangelische nicht die Mutter Gottes sein darf. Es scheint dahinter die Vorstellung zu stecken, dass Maria sozusagen nur die menschliche Seite von Jesus geboren hat, aber nicht seine göttliche, was ich mir, ehrlich gesagt, nicht so richtig vorstellen kann.
Das vierte ökumenische Konzil von Chalcedon im Jahr 451 hat die so genannte »Zweinaturenlehre« beschlossen, der zufolge in Jesus Christus menschliche und göttliche Natur unvermischt und ungewandelt, ungetrennt und unzerteilt zusammen finden. Diese Lehre wurde auch von den evangelischen Kirchen anerkannt. Die christliche Tradition ehrt also – eigentlich – das Geborenwerden, indem sie auch in Jesus Christus geboren sein lässt.2
Ich halte deshalb den protestantischen Widerstand gegen die Vorstellung, dass Gott von einer Frau geboren wurde, für inkonsequent und auch irrational. Die Leute lassen sich davon aber sowieso wenig beeindrucken. Sie feiern Weihnachten genauso intensiv wie Ostern, in vielen Gegenden der Welt sogar intensiver und mit deutlich größerer Begeisterung. »Sie geben damit zu erkennen«, schreibt Ina Praetorius, »dass sie sich nicht davon abbringen lassen, das Geborensein Gottes und der Menschen zu feiern. Zwar gilt Weihnachten vielen als harmloses Fest der Sinne, das man vor allem den Kindern zuliebe begeht und über das man nicht viel nachdenken muss, versteht sich doch, wie es scheint, die Freude an Wohlgerüchen, Geschenken und Kerzen von selbst. Dennoch: Die allgemeine Lust am vermeintlichen theologischen Nichts scheint sich nicht aus der Welt schaffen zu lassen.«
Ich sehe in diesem Widerstand gegen die Idee der Gottesgebärerin, der nicht nur protestantisch ist, sondern sich trotz aller Marienverehrung auch in der katholischen Theologie findet, auch einen Widerhall von dem, was die französische Philosophin Luce Irigaray den »symbolischen Muttermord am Anfang unserer Kultur«3nennt. Das bedeutet, dass die von Männern gemachte Philosophie und Theologie verdrängt und vergessen haben, dass wir Menschen nur eines miteinander gemeinsam haben, nämlich die Tatsache, dass wir Töchter und Söhne sind, also geboren, dass wir von einer Frau, unserer Mutter, zur Welt gebracht wurden. Stattdessen stellen sie sich die Menschen als autonome Wesen vor, die sozusagen als erwachsene Männer plötzlich da stehen, so als seien sie fix und fertig vom Himmel geplumpst – und sich fragen: was richtig und was falsch ist, woran sie glauben sollen, welche Gesetze sie machen sollen und so weiter.
Der ganze Bereich des Körperlichen, der Geburt, der gegenseitigen Abhängigkeit, der familiären Beziehungen – also all das, was eng mit der Mutter verknüpft ist – wurde aus dem öffentlichen, politischen Bereich und dem Nachdenken verbannt und in eine so genannte »private Sphäre« verschoben, die angeblich nicht zur Kultur gehört, sondern zur Natur, die nicht geistig ist, sondern nur materiell, die nicht gepflegt und bewusst durchdacht werden muss, sondern irgendwie von selbst nach rein biologischen und nicht zu hinterfragenden Prinzipien funktioniert. Und wenn man die Welt einmal so in Gegensätze aufgeteilt hat – in Gegensätze von Geist und Materie, von Seele und Körper, von gut und böse, von politisch und privat, von männlich und weiblich – dann ist es natürlich schwierig, einzusehen, dass Gott selbst aus dieser untergeordneten, körperlichen, als weiblich definierten Seite hervor gegangen ist.
Meine Interpretation der Verkündigung an Maria wird Sie deshalb vielleicht auch etwas überrascht haben, denn schließlich sind wir alle in dieser zweigeteilten Weltsicht erzogen worden und aufgewachsen. Üblicherweise wird deshalb die biblische Geschichte von Maria auch nicht als eine Geschichte über eine selbstbewusste, freie Frau erzählt, die ein Angebot bekommt, das sie aus freien Stücken annimmt, sondern als eine Art Befehlsabgabe: Der Engel befiehlt Maria, gefälligst die Mutter des Erlösers zu werden, und sie haucht ein demütiges Ja und ergibt sich in ihr Schicksal. Vom biblischen Text her ist diese herkömmliche Interpretation aber nicht zu rechtfertigen. Schließlich berichtet die Bibel tatsächlich von einem Dialog, einer Art Streitgespräch zwischen Maria und dem Engel.
Nicht der Bibeltext selbst, sondern die Tradition über Maria bringt uns dazu, in Maria Vorstellungen eines klischeehaften Frauenbildes hineinzuinterpretieren, einer Frau, die still und brav zuhause sitzt und von Hausherrn Befehle empfängt, und zu der die Kinder kommen können, wenn sie von Papa etwas wollen, aber sich nicht trauen, ihn selbst zu fragen.
Gott aber ist nicht so ein Hausherr, kein strenger Papa, dem die Kinder gehorchen und die Mama auch, die höchstens hin und wieder ein gutes Wort bei ihm einlegen mag. Gott ist keiner, der Maria vor die Alternative stellt: Entweder du bringst mir meinen Sohn zur Welt, oder ich lasse ihn eben vom Himmel runter schweben. Gott demonstriert seine Allmacht nicht, und vielleicht ist er gar nicht allmächtig in diesem weltlichen Sinn, den wir allzu leicht mit dem Wort verbinden.
Ganz offensichtlich ist es eben einfach so, dass auch Gott, um Mensch zu werden, genau das braucht, was alle Menschen brauchen, wenn sie auf die Welt kommen: eine Mutter nämlich. Ohne das bewusste Ja einer Frau, die einwilligt, Jesus zu gebären, gäbe es keinen Erlöser – ohne Maria kein Jesus, kein Weihnachten, kein Karfreitag, keine Auferstehung, keine Kirche, kein Christentum.
Ich finde das, beim ersten Nachdenken, ziemlich verrückt. So ein allmächtiger Gott und so eine riesige Religion und dann hängt alles an dem Ja oder Nein von irgend so einer Frau, die außerdem noch nicht mal besonders berühmt oder speziell war. Denn wäre Maria das gewesen, dann hätte die Bibel sicher etwas davon erwähnt.
Maria war eine ganz normale Frau. Jedenfalls zu ihrer Zeit. Erst später hat Maria diese ziemlich eindrucksvolle Karriere in der Kirche gemacht. Sie ist sozusagen zu einer Übermutter worden, zu einem Vorbild für alle Frauen. Und da wurde allerlei hinzu erfunden. Zum Beispiel wurde hinzu erfunden, dass Maria nicht einfach nur die Mutter Jesu war, sondern auch eine besonders gute Mutter.
Fast alle Leute haben ja eine Meinung dazu, was eine gute Mutter ist. Und auch dazu, was eine schlechte Mutter, eine Rabenmutter ist. Eine gute Mutter opfert sich für ihre Kinder auf, eine schlechte Mutter lässt ihre Kinder im Stich. Eine gute Mutter, hieß es noch vor kurzem, geht nicht arbeiten, sondern bleibt zu Hause, um sich um ihre Kinder zu kümmern. Eine Rabenmutter drückt ihren Kindern einen Schlüssel in die Hand, und sie müssen nach der Schule allein zurecht kommen. Wenn Mütter aber andererseits zu viel Zeit mit ihren Kindern verbringen, dann ist es auch wieder nicht richtig: Dann glucken sie nämlich, und die Kinder werden überbehütet und Egoisten.
Eine solche Kultur, die vorgibt, ganz genau zu wissen, was eine gute Mutter zu tun hat und was sie auf gar keinen Fall tun darf, kann realen Müttern das Leben ziemlich schwer machen. Denn dauernd müssen sie sich rechtfertigen, sich fragen, ob dies oder jenes nun richtig oder falsch ist. Das hat bei vielen Frauen zu einer großen Verunsicherung geführt. Sie sehen sich einer Flut von Erziehungsratgebern und Experten gegenüber, die angeblich viel besser wissen, was eine gute Mutter zu tun und zu lassen hat, als sie selber.
Was hätte wohl die biblische Maria zu all dem gesagt? Erstaunlicherweise steht in der Bibel überhaupt nichts davon, dass Maria eine gute Mutter war. Nur kleine Hinweise am Rande gibt es, die von dem Verhältnis zwischen Jesus und seiner Mutter berichten: Als er 12 Jahre war und aus dem Tempel nicht nach Hause kam, ging sie ihn suchen, und als er als politischer Aufrührer hingerichtet wurde, hat sie ihn betrauert – nun, das ist ja wohl noch keine besonders großartige mütterliche Leistung.
Davon, dass Maria ihren Sohn sonderlich gefördert hätte, berichten die Evangelien nichts. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass Maria und Jesus als Erwachsene kein wirklich gutes Verhältnis zueinander hatten. Wahrscheinlich hat sie es nicht gutgeheißen, dass er als Wanderprediger umherzog. Denn einmal predigt Jesus vor der Menge, und als Maria mit ihm sprechen möchte, lässt er sie nicht zu sich. Er behauptet, seine Freundinnen und Freunde, die mit ihm umherziehen, seien jetzt seine Familie. Und als er in seiner Heimatstadt Nazareth einmal als Angeber beschimpft wird, hat Maria ihn ganz offenbar nicht verteidigt.
Wenn wir Maria also als Vorbild dafür nehmen, welche Bedeutung die Mutterschaft hat, dann heißt das ganz sicher nicht, dass Mütter zu ihren Kindern immer ein herzliches und gutes Verhältnis haben müssen, dass sie ihnen gegenüber die eigenen Bedürfnisse zurückschrauben und sie in allem fördern müssen. Maria hat das jedenfalls nicht getan.
Auch die Frauenbewegung hat sich gegen diese Zumutungen gewehrt, dagegen, dass Frauen auf eine bestimmte Mutterrolle fixiert werden, dass ihr ganzer Lebenszweck darin bestehen soll, sich ihren Kindern zu widmen. Und heute gestehen wir Müttern in der Tat viel größere Freiheiten zu, als früher, wir nehmen auch die Väter in die Pflicht.
Leider aber ist in diesem Zusammenhang auch noch etwas anderes passiert. Und zwar ist in letzter Zeit das Wort Mutter selbst weitgehend aus der öffentlichen Diskussion verschwunden. Hier in Frankfurt hatte die evangelische Kirche zum Beispiel früher eine Mütterschule, wo es Nähkurse, Kurse in Säuglingspflege, Geburtsvorbereitung und so weiter gab. Diese Kurse gibt es immer noch, nur heißt die Einrichtung heute »Familienbildung«. Das ist nur ein Beispiel von vielen. Aus dem Mutterschaftsurlaub ist der Erziehungsurlaub geworden, aus der Muttersprache die Erstsprache, und ganz generell spricht man nicht mehr von Müttern, sondern von Eltern, auch wenn die Menschen, von denen dabei im konkreten Fall die Rede ist, meistens nach wie vor Frauen, also Mütter sind.
Natürlich liegt darin auch eine gewisse Berechtigung: Auch Väter übernehmen heute tatsächlich Aufgaben, für die früher nur Mütter zuständig waren, sie wechseln Windeln, kümmern sich um die Erziehung, stehen nachts auf, wenn das Baby brüllt, kochen den Brei. Es sind zwar noch eher wenige, und die Hauptverantwortung für das gute Eltern-Sein liegt nach wie vor bei den Frauen, aber es hat sich hier etwas verändert, und das ist ganz unbestreitbar gut so.
Aber heißt das gleich, dass das Wort Mutter keine Bedeutung mehr hat? Dass Mutter sein und Vater sein dasselbe ist? Ich meine nein, und Maria würde mir, glaube ich, zustimmen. Denn ihr Mutter sein bestand eben gerade NICHT darin, dass sie Windeln wechselte und Jesus fütterte. Das hat Josef ganz genauso gemacht – es gibt übrigens viele Bilder und Darstellungen der heiligen Familie, in denen Josef das Kind im Arm hält und sich um den kleinen Jesus kümmert.
Und was tut Maria währenddessen? Etwas Erstaunliches: Maria liest. Kunstwerke durch die Jahrhunderte zeigen uns Maria mit einem Buch, das auf ihrem Schoß, neben ihr auf dem Boden, vor ihr auf dem Tisch oder Lesepult liegt. Als der Engel zu ihr kommt, um ihr Gottes Vorschlag zu unterbreiten, findet er sie nicht beim Wäsche waschen oder beim Boden schrubben. Sondern er findet sie – jedenfalls stellten es sich die Menschen zum Beispiel im Mittelalter so vor – lesend vor, über ein Buch gebeugt. Das Lesen, schreibt die Philosophin Andrea Günter in ihrer Einleitung zu dem Buch »Maria liest«, steht dabei für geistige Beschäftigung, für die Öffnung hin zum Geistigen, zum Wort, zum Angesprochenwerden, zum Nach- und selbst Denken. Lesen kann als Sinnbild für geistiges Leben und Transzendenz verstanden werden.4
Und, fragt Andrea Günter weiter, kann Lesen dann nicht auch als Sinnbild des menschlichen Geborenseins verstanden werden? Denn mit dem zentralen Ereignis der Geburt beginnt das Menschsein als eigenständige körperliche, aber eben auch seelische und geistige Existenz einer Person. Eine Mutter, die solches Leben zur Welt bringt, ist kein nur biologisches Wesen. Sie gibt dem Kind nicht nur körperliche Nahrung, sondern auch geistige.
Nur eine Maria, die liest, ist ansprechbar. Nur der des Wortes mächtigen Maria kann etwas verkündigt werden. Maria kann selbst sprechen und urteilen – das sagen diese Bilder der lesenden Maria aus. Sie kann Nein oder Ja sagen.
Marias Muttersein besteht nicht darin, dass sie dies oder jenes für das Kind tut. Sondern ihr Muttersein besteht darin, dass sie Jesus geboren hat. Sie hat – und zwar aus freien Stücken und nach reiflicher Überlegung – Ja dazu gesagt, Mutter zu werden, Gottes Sohn zur Welt zu bringen.
Eine Mutter ist also nicht eine, die Windeln wechselt und Brei kocht, denn das können Väter ganz genauso gut. Wenn wir Maria als Vorbild nehmen, dann ist eine Mutter ist eine, die aus freien Stücken einwilligt, etwas zur Welt zu bringen.
Was bedeutet das eigentlich, etwas zu Welt zu bringen?
Ich sehe das so: Eine Geburt ist die einzige Weise, auf die etwas Neues in die Welt kommen kann. Etwas wirklich Unvorhergesehenes, Einzigartiges. Deshalb brauchte Gott eine Mutter für seinen Sohn. Weil Jesus etwas Einzigartiges, etwas ganz Neues, etwas noch nie da gewesenes sein sollte.
Hätte Gott Jesus einfach von einer Wolke herunterschweben oder ein schon geborenes Kind zu seinem Sohn oder seiner Tochter erklärt, dann hätte er sich vorher davon einen genauen Plan machen müssen. Er hätte sich zum Beispiel überlegen müssen, ob er dieses oder lieber jenes Kind auswählen soll.
Bei einer Geburt ist das anders. Da gibt es vorher keinen Plan. Es gibt zwar einen Anfang, das heißt Mann und Frau (oder im Falle Marias: Gott und Frau) zeugen ein Kind, Samen und Eizelle vereinigen sich. Aber ob daraus auch was wird, und vor allem was, ob das Kind gesund ist oder nicht, ob es ein Mädchen wird oder ein Junge, ob es ein nettes Kind wird oder ein unleidliches – das können sie vorher nicht wissen. Sie können nur Abwarten. Eine Geburt ist immer ein Wagnis. Darin einzuwilligen, Mutter zu werden, erfordert deshalb Mut, denn es ist immer etwas Unwägbares dabei. Oft erfordert es auch den Mut, sich gegen die Konventionen zu stellen und das, was die Leute sagen. Die Leute zu ihrer Zeit fanden es ja bestimmt nicht gut, dass Maria ein uneheliches Kind bekam. Auch ihr Mann Josef war verständlicherweise ziemlich verärgert über diese Schwangerschaft. Eine Mutter muss bereit sein, Konflikte auszutragen.
Etwas zu Gebären bedeutet, sich auf etwas Neues einzustellen. Ein Risiko einzugehen. Zum Beispiel das Risiko, dass sich das eigene Leben durch die Mutterschaft von Grund auf verändert. Eben deshalb, weil jedes Kind, das zur Welt gebracht wird, etwas Einzigartiges und etwa ganz Neues ist. Gibt es eine also eine passendere Möglichkeit für Gott, in diese Welt zu kommen, als die, geboren zu werden?
Übrigens wird vieles, was neu in die Welt kommt, eher geboren, als produziert oder erfunden. Nicht nur Kinder und Gott werden geboren. Auch Ideen können geboren werden. Oder Bücher. Überhaupt komplexe Dinge. »Es war eine schwere Geburt«, sagt man ja auch häufig, und das ist keine Metapher. Sondern es ist geben genau das, wenn etwas Überraschendes, Einzigartiges, Neues entsteht: eine Geburt.
Das Beispiel der Maria von Nazareth zeigt uns – und zwar uns Frauen genauso wie Ihnen, den Männern – dass Gott darauf angewiesen ist, dass wir Menschen uns befruchten lassen. Dass wir etwas mit ihm (oder mit ihr) zu tun haben wollen. Wenn wir alle immer weglaufen, sobald ein Engel uns anspricht, dann kann Gott nicht auf die Welt kommen. Genau genommen kann Gott dann überhaupt nichts machen. Aber ich bin mir ziemlich sicher, das wird nicht passieren. Denn es gibt immer Menschen wie Maria, die offen sind für Gottes überraschende Einfälle, auch wenn sie sie nicht sofort verstehen. Die Gott nicht einfach als Prinzip oben im Himmel herumschweben lassen, sondern die sich persönlich darauf einlassen.
Wer sich, wie Maria, von Gott befruchten lässt, ist selbst wieder schöpferisch und kreativ. Nicht wie die Handwerker, die genau nach Plan vorgehen. Sondern so wie die Mütter, die einwilligen, das zur Welt zu bringen, was in ihnen wächst. Die kein Copyright auf ihre Produkte beanspruchen, sondern die ihre Kinder körperlich und geistig in das Beziehungsgeflecht der Menschen einführen. Die sie zur Welt bringen, jedes Kind und jeder Gedanke ein Neuanfang, die Möglichkeit zur Veränderung.
Nicht nur Jesus hat Maria zur Welt gebracht, sondern auch Gedanken. Gedanken- und ideenlos werden Kinder nicht erwachsen.
*Ihr wird auch das Magnifikat zugeschrieben, das sie nach der Verkündigung des Engels verfasst haben soll und das ich ihnen gerne in einer neuen Übersetzung von Claudia Janssen vorlesen möchte:
«Meine Seele lobt Gott,*
und mein Geist jubelt über Gott, meine Rettung,
Gott hat auf die Herabsetzung seiner Sklavin geschaut.
Seht, von nun an werden mich selig preisen alle Geschlechter,
denn Großes hat die göttliche Macht an mir getan
und heilig ist ihr Name,
und ihr Mitgefühl schenkt sie Generation auf Generation denen,
die Ehrfurcht vor ihr haben.
Sie hat Gewaltiges mit ihrem Amt bewirkt;
sie hat die auseinander getrieben,
die ihr Herz darauf gerichtet haben,
sich über andere zu erheben.
Sie hat die Mächtigen vom Thron gestürzt
und die Erniedrigten erhöht,
Hungernde hat sie reichlich mit Gütern beschenkt
und die Reichen leer weggeschickt.Sie hat sich Israel, ihres Kindes, angenommen
und sich an ihre Barmherzigkeit erinnert,
wie sie es unseren Vorfahren gesagt hat,
Abraham, Sara, Hagar und ihren Nachkommen für alle Zeit.
Ich frage mich: Was könnten wir alles gebären, wenn wir uns von Gott befruchten ließen, so, wie Maria es tat? Wenn wir »geistesgegenwärtig« wären, wie Ina Praetorius das nennt? Wenn wir bereit wären, Mütter zu sein – Mütter von Kindern, von Ideen, von Projekten?
Was könnten wir Frauen alles zur Welt bringen, wenn wir Marias Mut hätten, das Risiko einzugehen, dass unser Josef sauer ist und die Nachbarn sich das Maul zerreißen, weil wir eben in dieser Welt etwas Wichtigeres zu tun haben, als ihren Erwartungen zu entsprechen? Wenn wir nicht immer so darum besorgt wären, dass alle uns mögen, sondern den Weg gehen, den wir als richtig erkannt haben – weil wir wissen, dass Gott an unserer Seite ist? Wenn wir unseren eigenen Überlegungen mehr Glauben schenken, als den Konventionen, die uns sagen: Das macht man aber so und das macht man so?
Und was könnten Sie, die Männer, alles zur Welt bringen, wenn Sie Marias Mut hätten, sich auch mal auf einen Prozess einzulassen, dessen Ende Sie nicht voraussehen können? Wenn Sie die Geduld hätten, Dinge ohne Kontrolle wachsen und reifen zu lassen, weil sich die wichtigsten, besten und neuesten Sachen nun mal nicht herbeizwingen lassen, sondern geboren werden müssen?
Was könnten wir, Frauen und Männer, alles zur Welt bringen, wenn wir uns von Gott befruchten ließen? Es muss ja nicht immer ein Erlöser sein. Die eine oder andere Lösung für das ein oder andere Problem wäre ja auch schon etwas.
Maria war eine ganz normale Frau. Und gleichzeitig war sie ein ganz ungewöhnlicher, außergewöhnlicher Mensch. Oder besser gesagt: Sie war ein ganz normaler Mensch, der aber etwas Außergewöhnliches tat. Maria willigte nämlich ein, sich von Gott befruchten zu lassen und sein Kind zur Welt zu bringen. Und hat so hat sie etwas unerhört Neues zur Welt gebracht. Sie hat mit Jesu Geburt einen neuen Anfang für uns alle ermöglicht. Wir können ihr dankbar sein. Für das Kind, das sie uns geboren hat, und von dem wir glauben, dass es der Welt die Erlösung bringt. Aber auch für das Beispiel, das sie uns – den Frauen und den Männern – gegeben hat.
Vortrag am 10.11.2005 im Diakonissenhaus Frankfurt
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