Antje Schrupp im Netz

Maria – die Mutter Jesu

Stellen Sie sich das mal vor: Da ist eine junge Frau, sie hat einen Freund, sie hat Eltern, sie hat eine Clique. Vielleicht arbeitet sie als Verkäuferin in der Bäckerei an der Ecke, oder sie studiert an der Uni Germanistik. Vielleicht macht sie auch eine Lehre zur Industriekauffrau, nichts besonderes jedenfalls, sie führt ein ganz normales Leben.

Eines Tages kommt ein Mann zu ihr und verwickelt sie in ein Gespräch. Er sagt: Hallo, Maria, du bist ausgesucht worden. Spontan denkt sie: Am Ende will er mich als Kandidatin für eine neue Star-Show werben. Offensichtlich steht ihr der Schrecken ins Gesicht geschrieben.

Nein, keine Angst, nichts dergleichen, beschwichtigt der Mann. Es ist Gott, der dich ausgesucht hat. Ich soll dir einen Vorschlag überbringen. Gott will, dass du schwanger wirst und ein Kind zur Welt bringst, einen Jungen. Er wird später mal ein großer und berühmter Mann werden, er wird die Welt retten.

Was für ein Spinner – denkt sich Maria wahrscheinlcih. Andererseits ist sie aber irgendwie auch geschmeichelt. Sie will den Typen nicht einfach so wegschicken. Also verwickelt sie ihn erstmal in ein Gespräch: »Ich und schwanger werden? Wie soll das denn gehen? Ich hab zwar einen Freund, aber der will noch keine Kinder. Er nimmt immer Kondome«.

»Kein Problem«, antwortet der Mann, der in Wirklichkeit der Engel Gabriel ist, »Keine Sorge, da wird sich Gott drum kümmern. Er wird dich mit dem Heiligen Geist befruchten, dazu brauchen wir deinen Freund gar nicht. Deshalb werden sie dein Kind später auch Gottes Sohn nennen.«

Ganz offensichtlich ist Maria immer noch nicht überzeugt. Ein Kind vom Heiligen Geist? Das widerspricht doch jeder Vernunft und wissenschaftlichen Erkenntnis. Gabriel sieht ihr die Skepsis wohl an und sucht nach weiteren Argumenten: »Denk doch nur an deine Tante Elisabeth. Jahrelang hat sie Hormontherapien gemacht, und vor ein paar Monaten, als sie die Hoffnung schon ganz aufgegeben hatte und die Hormone längst wieder abgesetzt waren, wurde sie plötzlich doch schwanger. Für Gott ist nämlich nichts unmöglich.«

Die meisten von uns würden dem Typen wohl ins Gesicht lachen. Würden aufstehen und sagen: Träum weiter! So ein Quatsch. So was gibt’s doch gar nicht. Wir würden abends unseren Freundinnen diese absurde Geschichte erzählen und uns gemeinsam mit ihnen kaputt lachen.

Und am nächsten Tag würden wir wieder zur Arbeit gehen oder an die Uni, wir würden irgendwann unseren Freund heiraten und mit ihm ein Kind bekommen oder zwei, wir würden vielleicht Teilhaberin der Bäckerei, oder wir würden unseren Uni-Abschluss machen und in einem Verlag anfangen. Kurz und gut, wir würden ein ganz normales Leben führen, nichts Spektakuläres, aber zufriedenstellend.

Maria aber tut etwas Komisches. Sie überlegt einen Moment. Sie weiß zwar nicht genau warum, aber irgendetwas lässt sie ahnen, dass hier tatsächlich von etwas ungeheuer Wichtigem die Rede ist. Sie schaut den Engel an und sagt: »Okay, ich mache mit. Von mir aus kann’s losgehen«.

Sie wissen, wie die Geschichte ausgegangen ist, wir feiern das Ergebnis jedes Jahr an Weihnachten. Weil Maria, eine junge, bis dahin ganz unscheinbare Frau eingewilligt hat, Gottes Sohn zu gebären, kam Jesus auf die Welt, den wir als Erlöser und Retter feiern.

Sicher werden Sie mir zustimmen, dass das eine ganz und gar merkwürdige Geschichte ist, die da am Anfang des Lukasevangeliums erzählt wird. Merkwürdig übrigens nicht so sehr wegen der Jungfrauengeburt, über die sich so viele Leute Gedanken gemacht haben. Inzwischen können wir Menschen das ja auch: Eizellen im Reagenzglas befruchten, ganz ohne Sex. Dass also Gott vor 2000 Jahren schon etwas konnte, was menschliche Wissenschaftler erst jetzt fertig bringen – nun, so spektakulär finde ich das eigentlich nicht.

Ich finde etwas anderes an dieser Geschichte viel merkwürdiger: Warum braucht Gott eigentlich die Einwilligung der Maria, um seinen Sohn auf die Welt zu schicken? Warum dieser umständliche Weg mit dem Engel, der quasi als Kuppler auftritt und mit diesem Mädchen Maria herumdebattiert in der Hoffnung, sie von seinem verrückten Plan überzeugen zu können – unweigerlich fragen wir uns ja, von wie vielen potenziellen Gottesmüttern er zuvor schon abgewiesen wurde…

Hat Gott also keine andere Möglichkeit? Er könnte Jesus doch einfach von einer Wolke herunter schweben oder aus dem See Genezareth auftauchen lassen! Das wäre ja auch viel spektakulärer als so eine ganz normale Geburt. Oder er könnte sich einfach irgend ein schon geborenes Kind auswählen und ihm den Heiligen Geist später einpflanzen.

Aber das tut er nicht. Ganz offensichtlich braucht Gott, um Mensch zu werden, genau das, was alle Menschen brauchen, wenn sie auf die Welt kommen: eine Mutter nämlich. Ohne das bewusste Ja einer Frau, die einwilligt, Jesus zu gebären, gäbe es keinen Erlöser – ohne Maria kein Jesus, kein Weihnachten, kein Karfreitag, keine Auferstehung, keine Kirche, kein Christentum.

Ich finde das, beim ersten Nachdenken, ziemlich verrückt. So ein allmächtiger Gott und so eine riesige Religion und dann hängt alles an dem Ja oder Nein von irgend so einer Frau, die außerdem noch nicht mal besonders berühmt oder speziell war. Denn wäre Maria das gewesen, dann hätte die Bibel sicher etwas in der Art erwähnt.

Nein, Maria war eine ganz normale Frau. Jedenfalls zu ihrer Zeit. Später freilich hat Maria eine ziemlich eindrucksvolle Karriere in der Kirche gemacht. Sie ist sozusagen zu einer Übermutter worden, zu einem Vorbild für alle Frauen. Und da wurde allerlei hinzu erfunden. Zum Beispiel wurde hinzu erfunden, dass Maria nicht einfach nur die Mutter Jesu war, sondern auch eine besonders gute Mutter.

Fast alle Leute haben ja eine Meinung dazu, was eine gute Mutter ist. Und auch dazu, was eine schlechte Mutter, eine Rabenmutter ist. Eine gute Mutter opfert sich für ihre Kinder auf, eine schlechte Mutter lässt ihre Kinder im Stich. Eine gute Mutter, hieß es noch in den sechziger und siebziger Jahren, geht nicht arbeiten, sondern bleibt zu Hause, um sich um ihre Kinder zu kümmern. Eine Rabenmutter drückt ihren Kindern einen Schlüssel in die Hand, und sie müssen nach der Schule allein zurecht kommen. Wenn Mütter aber andererseits zu viel Zeit mit ihren Kindern verbringen, dann ist es auch wieder nicht richtig: Dann glucken sie nämlich, und die Kinder werden überbehütet und Egoisten.

Eine solche Kultur, die vorgibt, ganz genau zu wissen, was eine gute Mutter zu tun hat und was sie auf gar keinen Fall tun darf, kann realen Müttern das Leben ziemlich schwer machen. Denn dauernd müssen sie sich rechtfertigen, sich fragen, ob dies oder jenes nun richtig oder falsch ist. Das hat bei vielen Frauen zu einer großen Verunsicherung geführt. Sie sehen sich einer Flut von Erziehungsratgebern und Experten gegenüber, die angeblich viel besser wissen, was eine gute Mutter zu tun und zu lassen hat, als sie selber.

Was hätte wohl die biblische Maria zu all dem gesagt? Erstaunlicherweise steht in der Bibel überhaupt nichts davon, dass Maria eine gute Mutter war. Nur kleine Hinweise am Rande gibt es, die von dem Verhältnis zwischen Jesus und seiner Mutter berichten: Als er 12 Jahre war und aus dem Tempel nicht nach Hause kam, ging sie ihn suchen, und als er als politischer Aufrührer hingerichtet wurde, hat sie ihn betrauert – nun, das ist ja wohl noch keine besonders großartige mütterliche Leistung.

Davon, dass Maria ihren Sohn sonderlich gefördert hätte, berichten die Evangelien nichts. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass Maria und Jesus als Erwachsene kein wirklich gutes Verhältnis zueinander hatten. Wahrscheinlich hat sie es nicht gutgeheißen, dass er als Wanderprediger umherzog. Denn einmal predigt Jesus vor der Menge, und als Maria mit ihm sprechen möchte, lässt er sie nicht zu sich. Er behauptet, seine Freundinnen und Freunde, die mit ihm umherziehen, seien jetzt seine Familie. Und als er in seiner Heimatstadt Nazareth einmal als Angeber beschimpft wird, hat Maria ihn ganz offenbar nicht verteidigt.

Wenn wir Maria also als Vorbild dafür nehmen, welche Bedeutung die Mutterschaft hat, dann heißt das ganz sicher nicht, dass Mütter zu ihren Kindern immer ein herzliches und gutes Verhältnis haben müssen, dass sie ihnen gegenüber die eigenen Bedürfnisse zurückschrauben und sie in allem fördern müssen. Maria hat das jedenfalls nicht getan.

Auch die Frauenbewegung hat sich gegen diese Zumutungen gewehrt, dagegen, dass Frauen auf eine bestimmte Mutterrolle fixiert werden, dass ihr ganzer Lebenszweck darin bestehen soll, sich ihren Kindern zu widmen. Und heute gestehen wir Müttern in der Tat viel größere Freiheiten zu, als früher, wir nehmen auch die Väter in die Pflicht.

Leider aber ist in diesem Zusammenhang auch noch etwas anderes passiert. Und zwar ist in letzter Zeit das Wort Mutter selbst weitgehend aus der öffentlichen Diskussion verschwunden. Hier in Frankfurt hatte die evangelische Kirche zum Beispiel früher eine Mütterschule, wo es Nähkurse, Kurse in Säuglingspflege, Geburtsvorbereitung und so weiter gab. Diese Kurse gibt es immer noch, nur heißt die Einrichtung heute »Familienbildung«. Das ist nur ein Beispiel von vielen. Aus dem Mutterschaftsurlaub ist der Erziehungsurlaub geworden, aus der Muttersprache die Erstsprache, und ganz generell spricht man nicht mehr von Müttern, sondern von Eltern, auch wenn die Menschen, von denen dabei im konkreten Fall die Rede ist, meistens nach wie vor Frauen, also Mütter sind.

Natürlich liegt darin auch eine gewisse Berechtigung: Auch Väter übernehmen heute tatsächlich Aufgaben, für die früher nur Mütter zuständig waren, sie wechseln Windeln, kümmern sich um die Erziehung, stehen nachts auf, wenn das Baby brüllt, kochen den Brei. Es sind zwar noch eher wenige, und die Hauptverantwortung für das gute Eltern-Sein liegt nach wie vor bei den Frauen, aber es hat sich hier etwas verändert, und das ist ganz unbestreitbar gut so.

Aber heißt das gleich, dass das Wort Mutter keine Bedeutung mehr hat? Dass Mutter sein und Vater sein dasselbe ist? Ich meine nein, und Maria würde mir, glaube ich, zustimmen. Denn ihr Mutter sein bestand eben gerade NICHT darin, dass sie Windeln wechselte und Jesus fütterte. Das hat Josef ganz genauso gemacht – es gibt übrigens viele Bilder und Darstellungen der heiligen Familie, in denen Josef das Kind im Arm hält, während Maria in einem Buch liest. Marias Muttersein besteht nicht darin, dass sie dies oder jenes für das Kind tut. Sondern ihr Muttersein besteht darin, dass sie Jesus geboren hat. Sie hat – und zwar aus freien Stücken und nach reiflicher Überlegung – Ja dazu gesagt, Mutter zu werden, Gottes Sohn zur Welt zu bringen.

Eine Mutter ist also nicht eine, die Windeln wechselt und Brei kocht, denn das können Väter ganz genauso gut. Wenn wir Maria als Vorbild nehmen, dann ist eine Mutter ist eine, die aus freien Stücken einwilligt, etwas zur Welt zu bringen.

Was bedeutet das eigentlich, etwas zu Welt zu bringen?

Ich sehe das so: Eine Geburt ist die einzige Weise, auf die etwas Neues in die Welt kommen kann. Etwas wirklich Unvorhergesehenes, Einzigartiges. Deshalb brauchte Gott eine Mutter für seinen Sohn. Weil Jesus etwas Einzigartiges, etwas ganz Neues, etwas noch nie da gewesenes sein sollte.

Hätte Gott Jesus einfach von einer Wolke herunterschweben oder ein schon geborenes Kind zu seinem Sohn erklären lassen, dann hätte er sich vorher davon einen genauen Plan machen müssen. Er hätte sich überlegen müssen, wie dieser Jesus sein soll, ob er dieses oder lieber jenes Kind auswählen soll.

Bei einer Geburt ist das anders. Da gibt es vorher keinen Plan. Es gibt zwar einen Anfang, das heißt Mann und Frau (oder im Falle Marias: Gott und Frau) zeugen ein Kind, Samen und Eizelle vereinigen sich. Aber ob daraus auch was wird, und vor allem was, ob das Kind gesund ist oder nicht, ob es ein Mädchen wird oder ein Junge, ob es ein nettes Kind wird oder ein unleidliches – das können sie vorher nicht wissen. Sie können nur Abwarten. Eine Geburt ist immer ein Wagnis. Darin einzuwilligen, Mutter zu werden, erfordert deshalb Mut, denn es ist immer etwas Unwägbares dabei. Oft erfordert es auch den Mut, sich gegen die Konventionen zu stellen und das, was die Leute sagen. Denn die Leute fanden es bestimmt nicht gut, dass Maria ein uneheliches Kind bekam. Auch ihr Mann Josef war verständlicherweise ziemlich ärgerlich über diese Schwangerschaft. Eine Mutter muss bereit sein, Konflikte auszutragen.

Etwas zu Gebären bedeutet, sich auf etwas Neues einzustellen. Ein Risiko einzugehen. Zum Beispiel das Risiko, dass sich das eigene Leben durch die Mutterschaft von Grund auf verändert. Eben deshalb, weil jedes Kind, das zur Welt gebracht wird, etwas Einzigartiges und etwa ganz Neues ist. Gibt es eine also eine passendere Möglichkeit für Gott, in diese Welt zu kommen, als die, geboren zu werden?

Übrigens wird vieles, was neu in die Welt kommt, eher geboren, als produziert oder erfunden. Nicht nur Kinder und Gott werden geboren. Auch Ideen können geboren werden. Oder Bücher. Überhaupt komplexe Dinge. »Es war eine schwere Geburt«, sagt man ja auch häufig, und das ist keine Metapher. Sondern es ist geben genau das, wenn etwas Überraschendes, Einzigartiges, Neues entsteht: eine Geburt.

Das Beispiel der Maria von Nazareth zeigt uns – und zwar uns Frauen genauso wie Ihnen, den Männern – dass Gott darauf angewiesen ist, dass wir Menschen uns befruchten lassen. Dass wir etwas mit ihm (oder mit ihr) zu tun haben wollen. Wenn wir alle immer weglaufen, sobald ein Engel uns anspricht, dann kann Gott nicht auf die Erde kommen. Genau genommen kann Gott dann überhaupt nichts machen. Aber ich bin mir ziemlich sicher, das wird nicht passieren. Denn es gibt immer Menschen wie Maria, die offen sind für Gottes überraschende Einfälle, auch wenn sie sie nicht sofort verstehen. Die Gott nicht einfach als Prinzip oben im Himmel herumschweben lassen, sondern die sich persönlich darauf einlassen.

Ich frage mich: Was könnten wir alles gebären, wenn wir uns von Gott befruchten ließen, so, wie Maria es tat? Wenn wir bereit wären, Mütter zu sein – Mütter von Kindern, von Ideen, von Projekten?

Was könnten wir Frauen alles zur Welt bringen, wenn wir Marias Mut hätten, das Risiko einzugehen, dass unser Josef sauer ist und die Nachbarn sich das Maul zerreißen, weil wir eben in dieser Welt etwas Wichtigeres zu tun haben, als ihren Erwartungen zu entsprechen? Wenn wir nicht immer so darum besorgt wären, dass alle uns mögen, sondern den Weg gehen, den wir als richtig erkannt haben – weil wir wissen, dass Gott an unserer Seite ist? Wenn wir unseren eigenen Überlegungen mehr Glauben schenken, als den Konventionen, die uns sagen: Das macht man aber so und das macht man so?

Und was könnten Sie, die Männer, alles zur Welt bringen, wenn Sie Marias Mut hätten, sich auch mal auf einen Prozess einzulassen, dessen Ende Sie nicht voraussehen können? Wenn Sie die Geduld hätten, Dinge ohne Kontrolle wachsen und reifen zu lassen, weil sich die wichtigsten, besten und neuesten Sachen nun mal nicht herbeizwingen lassen, sondern geboren werden müssen?

Was könnten wir, Frauen und Männer, alles zur Welt bringen, wenn wir uns von Gott befruchten ließen? Es muss ja nicht immer ein Erlöser sein. Die eine oder andere Lösung für das ein oder andere Problem wäre ja auch schon etwas.

Maria war eine ganz normale Frau. Und gleichzeitig war sie ein ganz ungewöhnlicher, außergewöhnlicher Mensch. Oder besser gesagt: Sie war ein ganz normaler Mensch, der aber etwas Außergewöhnliches tat. Maria willigte nämlich ein, sich von Gott befruchten zu lassen und sein Kind zur Welt zu bringen. Und hat so hat sie etwas unerhört Neues zur Welt gebracht. Sie hat mit Jesu Geburt einen neuen Anfang für uns alle ermöglicht. Wir können ihr dankbar sein. Für das Kind, das sie uns geboren hat, und von dem wir glauben, dass es der Welt die Erlösung bringt. Aber auch für das Beispiel, das sie uns – den Frauen und den Männern – gegeben hat.


Predigt am 20.3.2005 in der Philippuskirche in Frankfurt/Main