Antje Schrupp im Netz

Braucht Mädchenarbeit eine neue Philosophie?

Am Ende des Patriarchats: eine neue Politik der Beziehungen

Ich bin Politikwissenschaftlerin und Journalistin, spreche hier also nicht aus der Praxis der Mädchenarbeit heraus, die ich nämlich nicht kenne, sondern als Philosophin, die sich mit der Ideengeschichte des Patriarchats und des Feminismus beschäftigt hat. Ich kann Ihnen deshalb keine Handlungsstrategien oder konkrete Ratschläge geben, sondern nur Gedanken anbieten über die Bedeutung und den Sinn von Aussagen, die Frauen über die Welt treffen, über das Wirken weiblicher Freiheit und die politische Praxis der Beziehungen. Inwiefern diese Gedanken für Sie in Ihrer täglichen Arbeit von Nutzen sein können, das können nur Sie selbst entscheiden, und ich bin schon gespannt auf die Diskussion nachher.

1996 feierten italienische Feministinnen in Mailand ein Fest, und zwar feierten sie »das Ende des Patriarchats«. Das war natürlich ein bisschen provokativ, aber ihre dahinter stehende These sind folgende:

  1. Es ist an der Zeit, die Erfolge der Frauenbewegung zu feiern. Mehr als jeder anderen sozialen Bewegung ist es der Frauenbewegung in den letzten 30 Jahren gelungen, diese Gesellschaft zu verändern. Auch wenn heute nicht alles perfekt und optimal ist, so haben diese Veränderungen doch vielen Frauen viel Leid erspart. Das ist ein Ereignis von historischer Bedeutung.

  2. Der Grund für diese Veränderung liegt nicht darin, dass die Frauen Forderungen aufgestellt und die Männer, die offizielle Politik, ihnen Zugeständnisse gemacht hätten. Sondern das, was sich vor allem verändert hat, ist das Selbstbild der Frauen: Frauen – vielleicht noch nicht alle, aber doch sehr viele, und bestimmt die meisten von uns, die wir heute hier sind – Frauen haben dem Patriarchat die Glaubwürdigkeit entzogen, das heißt: Sie glauben nicht mehr daran, dass sie schwächer und weniger wert sind, als Männer, sie glauben nicht mehr, dass das, was im Patriarchat über Frauen gesagt wurde, zutrifft, sondern sie haben sich in der Diskussion untereinander neue Maßstäbe und Kriterien erarbeitet und damit auch neue Bedeutungen dafür gefunden, was Frau sein heißt. Sie haben eine politische Praxis der Beziehungen unter Frauen erfunden und aufgebaut – daher kommt das Wort »affidamento«, das einige von ihnen vielleicht schon mal im Zusammenhang mit den Italienerinnen gehört haben: Affidamento heißt übersetzt »sich anvertrauen«, dass eine Frau sich mit ihrem Begehren der Autorität einer anderen Frau anvertraut. Diese neue politische Praxis der Beziehungen unter Fauen hat natürlich wiederum zu neuen Wünschen und verändertem Handeln von Frauen geführt, das dann auch Auswirkungen auf die Gesellschaft und die Welt allgemein hatte und hat und

  3. Vom »Ende des Patriarchats« zu reden bedeutet auch, dass die Frauenbewegung heute vor neuen Herausforderungen steht. Seit Mitte der neunziger Jahre war ja immer mal wieder zu lesen und zu hören, dass die Frauenbewegung überflüssig geworden wäre. Grund: In dem Maße, wie die direkte Diskriminierung von Frauen abgenommen hat, sei »Frauenpolitik« nicht mehr nötig. Quasi als Gegenreaktion auf diesen Abgesang der Frauenbewegung gab und gibt es Feministinnen, die sich bemühen, nachzuweisen, dass diese Diskriminierung eigentlich immer noch besteht, und sich nur an der Oberfläche etwas verändert hätte. Aber die Existenzberechtigung der Frauenbewegung liegt ja nicht darin, gegen Diskriminierung und für Gleichheit mit den Männern zu kämpfen – was, historisch gesehen, auch noch nie ihr hauptsächliches Anliegen war. Sondern die Aufgabe der Frauenbewegung ist es, für weibliche Freiheit einzutreten, das heißt letzten Endes, für Freiheit überhaupt. Und auch wenn wir uns eine Gesellschaft ohne Frauendiskriminierung vorstellen können, so wird es doch niemals eine so perfekte Welt geben, dass das Streben nach Freiheit überflüssig wäre. Das heißt: Mit dem Ende des Patriarchats hören die Aufgaben der Frauenbewegung keineswegs auf, im Gegenteil, sie fangen erst an.

Ich stehe seit ungefähr zehn Jahren in Kontakt mit diesen italienischen Philosophinnen (es sind natürlich nicht alle Italienerinnen, um die es hier geht, sondern einige, genauer: Die Frauen vom Mailänder Frauenbuchladen und Philosophinnen an der Universität von Verona sowie ein Netz von Beziehungen, dass sie aufgebaut haben, und das längst bis nach Deutschland reicht). Da ich bereits einige Vorträge und Texte zu dem Thema geschrieben habe, wurde ich eingeladen, hier heute zu sprechen. Kirsten Langmaack, die mich einlud, schrieb mir in ihrer ersten Mail, zu den Hintergründen: »Viele Mädchen kriegen die Krise, wenn sie Feminismus hören, und sind keinesfalls bereit, sich damit auseinanderzusetzen, dass sie benachteiligt werden könnten, dass es Benachteiligung von Frauen in unserer Gesellschaft gibt«. Und als Titel für meinen Vortrag war im ersten Entwurf des Programmflyers vorgesehen: »Ist die Strategie, nicht mehr an patriarchale Strukturen zu glauben, der beste Weg, um sie abzuschaffen?« Gibt es also, so habe ich diese Anfrage verstanden, gibt es vielleicht Parallelen zwischen dem Satz der Feministinnen: »Das Patriarchat ist zu Ende« und der Behauptung vieler Mädchen: »Ich bin gar nicht benachteiligt?« – Verbirgt sich hinter ihrem Versuch, ihre immer noch vorhandenen Ungleichstellung weniger zu beachten, vielleicht eine erfolgreiche Abwehrstrategie gegen Diskriminierung? Und wie müsste, wenn das so wäre, die professionelle Mädchenarbeit damit umgehen?

Ehrlich gesagt hat mich diese Fragestellung zunächst etwas verblüfft. Die These vom Ende des Patriarchats stammt ursprünglich von der Philosophin Luisa Muraro, also von einer renommierten Professorin, die zudem über Jahrzehnte lang in der Frauenbewegung aktiv war. Natürlich hat so eine Aussage eine ganz andere Bedeutung wie die Behauptung einer, sagen wir, 15jährigen Schülerin, sie sei nicht diskriminiert. Hinter Muraros philosophischer These steckt eine lange Lebenserfahrung sowohl was die praktische feministisch-politische Arbeit als auch das wissenschaftliche Nachdenken und Forschen betrifft. Hinter dem Ausruf der Mädchen sehe ich nichz das Ergebnis einer genauen Reflektion über gesellschaftliche Verhältnisse als vielmehr einen großen Wunsch: Ich will frei sein, ich will mich nicht als Opfer sehen, ich will glücklich werden, und ich lasse mir von euch Bedenken-Trägerinnen meinen Optimismus nicht vermiesen. Insofern sind diese beiden Aussagen schon formal sehr unterschiedlich, indem sie nämlich von sehr unterschiedlichen Frauen gesagt werden.

Aber sie sind auch inhaltlich sehr verschieden: Denn während Luisa Muraro die These vom Ende des Patriarchats formuliert, um die Aufgaben und Herausforderungen der Frauenbewegung und des Feminismus zu bestimmen, ziehen die Mädchen ja offensichtlich genau die entgegen gesetzte Schlussfolgerung daraus: Dieser ganze Feminismus-Kram muss mich nicht interessieren, er ist Schnee von gestern.

Was mich als Philosophin, die in den Beziehungen unter Frauen den Grund dafür sieht, dass wir heute vom Ende des Patriarchats sprechen können, an der Aussage dieses Mädchens interessiert, ist deshalb nicht die Frage, ob das Mädchen vielleicht recht hat, ob sie also vielleicht eine genauso großartige Philosophin ist wie Luisa Muraro. Denn diese Frage ist ja leicht beantwortet: natürlich nicht. Viel wahrscheinlicher ist wohl, dass sie sich ihre eigene Situation schön redet. Oder dass sie kein Interesse an Politik hat. Sondern was mich an dieser Aussage des Mädchens interessiert, das ist der Autoritätskonflikt, der darin zum Ausdruck kommt: Was dieses Mädchen der feministisch engagierten Pädagogin, der Lehrerin, der Sozialarbeiterin oder Jugendreferentin sagt, ist doch: Ich glaube dir nicht, du hast für mich keine Autorität, ich will nichts von dir lernen. Du hast mir nichts zu sagen, du verstehst mich nicht, du kannst mir nichts beibringen, du bist kein Vorbild für mich.

Und diese Ablehnung betrifft ja auch den Feminismus insgesamt, es ist eine Anfrage an die Frauenbewegung, zu der ich selbst mich auch zähle. Ich frage mich also: warum ist das, was wir den Mädchen anbieten, nicht attraktiv?

Das heißt, womit wir es hier zu tun haben, ist nicht eine Frage von: wer hat Recht? Die Pädagogin, die auf die weiterhin bestehenden Diskriminierung von Frauen hinweist, oder das Mädchen, das behauptet, das sei doch alles gar nicht wahr oder nicht wichtig. Sondern womit wir es hier zu tun haben, ist ein Beziehungskonflikt. Hier gibt es offenbar kein »affidamento«, kein Sich-Anvertrauen einer Frau mit ihren Wünschen, Hoffnungen, Ideen an das Urteil einer anderen Frau. Womit wir es zu tun haben, ist das Problem der nicht vorhandenen weiblichen Autorität. Dieses Generationenproblem zwischen den feministischen Pädagoginnen und den »unfeministischen« Mädchen lässt sich deshalb auch nicht dadurch lösen, dass wir – wiederum mit Zahlen und Fakten – beweisen, wer von den beiden denn nun recht hat, sondern wir müssen zunächst auf die Beziehungsebene gehen: Warum läuft die Beziehung schief? Und was können wir tun, um weibliche Autorität in unseren Beziehungen zu den Mädchen zu ermöglichen?

Es ist kein Zufall, dass die Italienerinnen, bevor sie die These vom Ende des Patriarchats entwickelten, viel über weibliche Autorität nachgedacht haben. Denn das Wirken weiblicher Autorität ist ihrer Ansicht nach die Vorbedingung für das Ende des Patriarchats. Dass die Frauen dem Patriarchat die Glaubwürdigkeit entziehen, ist ja nur die eine Sache. Schön und gut: Sie glauben nicht mehr an die Ordnungssysteme und Rollenzuweisungen, die das Patriarchat den Frauen zugewiesen hat. Aber woran glauben sie dann? Wie fällen sie ihre Urteile? An welchen Maßstäben orientieren sie sich? Das Patriarchat kann nur zu Ende sein, wenn es einen neuen Anfang gibt, wenn eine Alternative besteht. Und diese Alternative sind nach den Italienerinnen eben die Beziehungen unter Frauen.

Lassen Sie mich daher etwas näher auf diese Überlegungen zum Thema weibliche Autorität eingehen, um dann zu sehen, ob sich daraus auch etwas über die Beziehungen zwischen Pädagoginnen und Mädchen schlussfolgern lässt. Ausgangspunkt der Italienerinnen war das Unbehagen darüber, dass in der Frauenbewegung das Bild der Gleichheit, der weiblichen Solidarität vorherrschend war. Als Gruppe von Benachteiligten, die gegen ihre Diskriminierung durch die männliche Gesellschaft kämpften, war das Bild von einem »Wir« der Frauen entstanden, die gemeinsam für ihre Rechte kämpfen. Es war ein Bild, das sich in der Praxis nicht bewährte: Denn erstens hatten keineswegs alle Frauen dieselben Interessen, und sie waren auch keineswegs alle einer Meinung, und sie wollten auch nicht dasselbe. Das Bild »der Frauen« als einer homogenen Gruppe, so stellte sich heraus, ist selbst schon ein Zerrbild des Patriarchats, das nämlich »die Frauen« immer als Nicht-Männer interpretiert hat. Nur insofern sie keine Männer sind, sind alle Frauen gleich. Für sich genommen sind Frauen vor allem unterschiedlich. Eine feministische Theorie, so folgerten die Italienerinnen, muss sich daher vor allem mit den Unterschieden unter Frauen beschäftigen und mit der Frage, wie wir am besten mit diesen Unterschieden umgehen können.

Diese Unterschiedlichkeit der Frauen ist nicht einfach das, was heut zu Tage gerne »diversity« genannt wird, also Unterschiedlichkeit im Sinne von »verschieden, aber gleich wertig«, wie etwa rot, blau, grün, gelb oder die bunte Vielfalt von Merci. Sondern es handelt sich wirklich um Ungleichheit in dem Sinn, dass die eine Frau der anderen gegenüber ein »Mehr« hat. Die Herausforderung bestand also darin, dieses »Mehr« der einen Frau in der Beziehung zu einer anderen so zu beschreiben, dass damit nicht Herrschaft oder Macht gemeint ist, sondern dass es fruchtbar wird im Sinne von weiblicher Freiheit. Und an dieser Stelle führten die Italienerinnen den Begriff der weiblichen Autorität ein.

Als grundlegendes Beispiel für eine solche Beziehung zwischen zwei Frauen, von denen eine ein »Mehr« hat, nahmen die Italienerinnen die Beziehung zwischen Mutter und Tochter. Wir alle sind als Töchter einer Frau zur Welt gekommen, die unsere Mutter ist, die also zu einer anderen Generation gehört. Dieser Tatsache haben wir unser Überleben zu verdanken. Hier ist das »Mehr« der Mutter der Tochter gegenüber ganz eindeutig: Und es besteht darin, dass die Mutter hat und geben kann, was die Tochter braucht: Nahrung, Sprache, Urteilsfähigkeit. Ich kann auf diese Gedanken, die in vielen Büchern und Aufsätzen der Italienerinnen entwickelt wurden, hier nur stichwortartig eingehen, wer sich dafür interessiert, findet dazu inzwischen auch auf deutsch genügend Publikationen, die Literaturhinweise dazu finden sich u.a. auch auf meiner Internetseite antjeschrupp.de.

Die Autoritätsbeziehung von Mutter und Tochter lässt sich auch auf andere Beziehungen zwischen Frauen übertragen, in denen eine der anderen gegenüber ein Mehr hat. Und folgende Punkte sind dabei wichtig:

  • das »Mehr« der einen Frau gegenüber der anderen ist keine objektiv feststellbare Fähigkeit oder Kompetenz, sondern steht immer in einem Bezug zu dem Begehren der anderen: Wenn ich Hunger habe, hat eine für mich Autorität, die mir Nahrung gibt. Wenn ich Philosophin werden will, werde ich einer Autorität zusprechen, die großartig philosophieren kann. Wenn ich glücklich werden will, werde ich eine Autorität suchen, dir mir zeigt, wie ich glücklich werden kann. Autorität auf der einen Seite kann nur da sein, wenn sie auf der anderen Seite auf ein Begehren stößt.

  • Das bedeutet aber auch: Weibliche Autorität ist etwas anderes als Macht: während Macht einer Person äußerlich zugesprochen wird, etwa durch Funktionen oder Positionen oder Entscheidungskompetenzen, ist Autorität nur da, wo sie freiwillig anerkannt wird. Weibliche Autorität kann der Macht entgegenwirken, indem uns die freiwillige Abhängigkeit von einer weiblichen Autorität (das Sich-Anvertrauen, affidamento) frei macht von der Abhängigkeit von Macht, also zum Beispiel von Mehrheitsmeinungen. Macht andersrum ist ein Zeichen dafür, dass Autorität fehlt.

  • Autorität ist also keine Eigenschaft, die eine Person haben kann oder auch nicht, eine Eigenschaft, auf die man sich berufen, die man herbeizwingen kann. Sondern sie ist etwas, das nur innerhalb einer konkreten Beziehung wirkt. Autorität ist eine Beziehungseigenschaft. Sie kann nur wirken, wenn beide Seiten das wollen: Wenn da eine ist, die bereit ist, Autorität auszuüben, und eine andere, die diese Autorität anerkennt, beides geht nur freiwillig.

Das heißt, in einer Autoritätsbeziehung gibt es immer eine, die in der Position der Tochter ist, und eine andere, die in der Position der Mutter ist. Die Tochter hat große Wünsche, ein starkes Begehren, sie glaubt, die ganze Welt steht ihr offen, sie trägt noch keine oder nur wenig Verantwortung. Die Mutter dagegen hat Erfahrungen, insbesondere hat sie die Erfahrung der Niederlage bereits gemacht, sie weiß, dass es nicht so leicht sein wird. Sie ist in der Lage und willens, ein Urteil zu fällen darüber, was die Tochter tun soll, ihr Wege zu zeigen, wie sie ihr Ziel erreichen kann, ihrem Begehren folgen kann, ohne dabei leichtsinnig oder maßlos zu werden. Zur Erinnerung: Es geht nicht um Eigenschaften der Frauen, sondern um ihre symbolische Positionierung im Hinblick auf ein bestimmtes Thema. Dieses Verständnis von Autorität scheint mir einiges herzugeben für die Generationenprobleme und Arbeitssituationen, mit denen Sie es in der Mädchenarbeit zu tun haben.

Erster Punkt: Es bringt nicht sehr viel, über »die Mädchen« nachzudenken. Erstens gibt es »die Mädchen« als homogene Gruppe genauso wenig wie »die Frauen«, und selbst wenn es sie gäbe, spielen »die Mädchen« als Gruppe oder soziologische Kategorie keine Rolle in der konkreten Beziehung, die Sie möglicherweise zu einigen Mädchen haben. Das »Feministische«, wenn man so will, ist nicht, dass es Mädchen sind, um die es hier geht (und keine Jungens), sondern dass es um eine sexuierte Beziehung geht: Um eine Beziehung zwischen zwei Frauen, der Pädagogin, die eine ältere Frau ist, und dem Mädchen, das eine jüngere Frau ist. Die Frage ist: Wie wird diese Beziehung gestaltet?

Wie bei jeder Beziehung werden auch in einer pädagogischen Beziehungen Entscheidungen von den Beteiligten getroffen darüber, welche Position sie innerhalb der Beziehung einnehmen möchten. Welche Position also nehmen Sie als Pädagoginnen, als Lehrerinnen, als Sozialarbeiterinnen in der Beziehung zu den Mädchen ein? Man könnte die Frage auch allgemeiner, gesellschaftspolitisch, stellen: Welche Position nimmt die alte Frauenbewegung, nehmen die Feministinnen, die in den 70er und 80er Jahren engagiert waren, den jungen Frauen heute gegenüber ein, die damals noch nicht auf der Welt waren? Und in diese zweite Frage kann ich mich selbst mit einschließen.

Von den äußeren Faktoren her gesehen – der Lebenssituation, in der wir, die »gestandenen Feministinnen«, sag ich mal, stehen und in der die Mädchen stehen, der Tatsache, dass wir älter und vermutlich auch lebenserfahrener sind, dass wir über Ressourcen und Möglichkeiten verfügen, die die Mädchen nicht haben – ist es nahe liegend, dass wir in der Position derjenigen sein könnten, die ein »Mehr« hat, die also eine Autorität sein könnte.

Was ist nun notwendig, damit solche Autorität auch in der konkreten Beziehung wirken kann? Dazu ist notwendig, dass das betreffende Mädchen etwas will, ein Begehren hat, und dass sie vermutet, Wir könnten ein Mehr haben, das ihr hilft, diesen Weg zu verfolgen.

Lassen Sie uns die Frage nach dem Begehren der Mädchen noch einmal etwas zurück stellen, ich komme später darauf zurück. Denn zunächst einmal geht es gar nicht um das Mädchen, sondern um uns als Pädagoginnen oder einfach nur als ältere Frauen. Sind wir bereit, in der Beziehung zu dem Mädchen eine Autoritätsperson zu sein? Bieten wir das »Mehr«, das wir sicherlich haben, an, bringen wir es in diese Beziehung ein? Das ist eine Entscheidung, die jede einzelne treffen muss. Wie gesagt, es geht nicht um objektive Fähigkeiten und Kompetenzen, sondern um einen symbolischen Akt: Welche Art von Beziehung bieten wir den Mädchen an?

Wenn wir uns jetzt mal als Negativfolie eine Sozialarbeiterin vorstellen, die, sozusagen mit »feministischem Impetus«, den Mädchen etwas von einer diskriminierenden Gesellschaft erzählt, vom Patriarchat, das den Frauen das Leben schwer macht, und die dann die Mädchen auffordert, sich zusammen mit ihr dagegen zu solidarisieren – ich übertreibe jetzt ein bisschen – dann stellt sich diese Sozialarbeiterin symbolisch nicht auf die Position der Mutter, sondern reiht sich zusammen mit den Mädchen in die Position der Töchter ein: Das Patriarchat, die Institutionen, die Männer, die Politik – sind an allem Schuld. Sie selbst hat nichts damit zu tun, trägt also keine Verantwortung, sie ist ja auch »nur« eine Frau, die dagegen kämpft, aber die nicht wirklich etwas zu sagen hat. Eine solche Sozialarbeiterin würde ihr »Mehr« den Mädchen nicht anbieten, sondern vorenthalten. Sie würde so tun, als hätte sie gar kein »Mehr«. Und das wäre verlogen. Denn als erwachsene Frauen mit einem Beruf und einer Geschichte trägt sie natürlich durchaus Verantwortung dafür, wie die Welt aussieht. Als Feministin, die sich in die Geschichte der Frauenbewegung stellt, hat sie sogar etwas sehr Positives dazu beigetragen, wie die Welt aussieht, die die Mädchen vorfinden.

Wohlgemerkt: Es geht mir nicht darum, ob diese fiktive Sozialarbeiterin möglicherweise recht hat mit ihrer Gesellschaftsanalyse, sondern darum, was sie symbolisch aussagt, wie sie sich in der Beziehung positioniert. Sie stellt sich nicht als eine dar, die etwas zu sagen hat, oder tun kann, die ein Urteil fällt und Wege aufzeigt, die also möglicherweise ein »Mehr« hat, das sie für das eine oder andere der Mädchen zu einer Autoritätsperson machen würde. Sie verhält sich wie eine arme Mutter, deren Tochter Hunger hat, und die ihrer Tochter erklärt, dass das Geld leider nicht reicht, um Lebensmittel zu kaufen, anstatt irgendwas zu tun. Möglicherweise muss die Mutter tatsächlich protestieren oder für höhere Löhne und bessere Nahrungsmittel kämpfen, aber das ist es nicht, was ihre Tochter in dieser Situation interessiert. Für die Tochter ist interessant, ob die Mutter eine ist, die ihren Hunger stillen kann, oder nicht. Daran wird sie entscheiden, ob es sich »lohnt«, eine Beziehung einzugehen, ihr Autorität zuzusprechen, oder nicht.

In gewisser Weise könnten wir diesen Vorwurf der Frauenbewegung insgesamt machen. Sie hat es teilweise noch nicht geschafft, aus der Tochterrolle herauszutreten (also aus einer Position, in der es darauf ankommt, gefördert zu werden, ermutigt zu werden, den eigenen Platz in der Gesellschaft finden, dafür zu sorgen, dass man gehört wird und eine Stimme hat) – und stattdessen in eine Mutterrolle zu kommen (die bedeutet: Position beziehen, fragen, was kann ich weiter geben und wie sorge ich dafür, dass das, wofür ich stehe, auch weitergeht). Ein Grund dafür ist der, dass auch die Instrumente, die in staatlichen und politischen Institutionen eingesetzt wurden, um Frauen stärker in diese Strukturen einzubinden, symbolisch diesen Platz der Tochter ausdrücken: Frauenförderpläne, Mentoring, Gleichstellung, Quotenregelung – das sind alles Mechanismen, die symbolisch dazu angelegt sind, ein Weniger der Frauen auszugleichen. Instrumente, die symbolisch die Frauen auf eine Tochterrolle festlegen, denn es sind Hilfen für solche, die ein Weniger haben.

Ich halte das übrigens für einen grandiosen Etikettenschwindel, denn meiner Ansicht nach ist der eigentliche Zweck dieser politischen Instrumente nicht der, die Frauen zu fördern, sondern der, den Institutionen zu helfen, indem ihnen durch die stärkere Einbindung von mehr Frauen frischer Wind und neue Ideen zugeführt werden, die sie aus der politischen Lähmung heraushelfen könnte, der diese Institutionen befallen hat. Instrumente wie Quoten, Gleichstellungsprogramme, Gender-Mainstreaming finden nicht im Interesse der Frauen statt, sondern vor allem im Interesse der Institutionen und Unternehmen, die sie anwenden. Ich halte es da mit der Anarchistin Louise Michel, die schon 1885 vorhersagte: »Eure Privilegien? Die Zeit ist nicht mehr weit, wo Ihr sie uns anbieten werdet, um durch diese Teilung zu versuchen, ihnen wieder Glanz zu verleihen. Behaltet diese Lumpen, wir wollen sie nicht«.

Statt die Frauen als defizitäre Wesen zu sehen, die gefördert, bequotet oder be-gender-mainstreamt werden müssen, wäre es im Sinne weiblicher Freiheit wichtig, gesellschaftlich die Stimme weiblicher Autorität zu vernehmen. Dieser Konflikt scheint mir auch hinter dem Phänomen zu stecken, dass erfolgreiche, intelligente Frauen, die etwas Großes vorhaben, sich häufig weigern, sich mit diesen Frauenfördermaßnahmen identifiziert zu werden. Sie wollen mit Autorität sprechen, sie wollen ihr »Mehr« in diese Gesellschaft einbringen, und sie haben recht damit, dass das nicht geht, wenn sie nicht sozusagen die Seiten wechseln, von der symbolischen Seite der Töchter auf die der Mütter. Da man die Frauenförderpolitik jedoch hier zu Lande häufig mit »Feminismus« oder »Frauenbewegung« gleichsetzt, wird dieser Wunsch von Frauen, nicht in der Position der Tochter zu verharren, jedoch häufig als Distanzierung von der Frauenbewegung und vom Feminismus verstanden, auch von ihnen selbst. Das ist ein sehr unglücklicher Zustand. Ich würde mir wünschen, und ich hoffe, mit meinen Überlegungen dazu beizutragen, dass wir in der Sprache und in unserem Denken Räume öffnen, um diese Frauen als Teil der Frauenbewegung, als Feministinnen zu verstehen, in dem Sinn, dass es Frauen sind, die mit Autorität sprechen können.

Natürlich ist es nicht so einfach, aus der Position der Tochter in die Position der Mutter zu wechseln. Denn das heißt, dass ich die Förderung verliere, ich muss mich aus einer angenehmen Situation zurückziehen, die darin besteht, für nichts Verantwortung zu tragen und immer nur Forderungen an andere stellen zu können. Aber ich glaube, dass genau das die jüngeren Frauen, und vielleicht auch die Mädchen, mit denen Sie es auf der Arbeit zu tun haben, von uns erwarten. Dass wir in dieser Gesellschaft als Frauen präsent sind, die über Erfahrungen, Ressourcen und Urteilsvermögen verfügen, und von dieser Position aus sprechen und mit den Mädchen und jungen Frauen in eine sexuierte Beziehung treten. Dass wir aus dieser Position der Mutter heraus als Frauen sprechen mit ihnen, die auch Frauen sind. Das bedeutet: Es geht nicht darum, sich mit den Mädchen zu solidarisieren, sondern darum, zu sehen, dass diese Mädchen Ansprüche an uns stellen. Und zwar zu recht. Weil wir zu einer älteren Generation gehören. Und dass wir uns in erster Person zu diesen Ansprüchen verhalten müssen, indem wir entweder zustimmen, sie zu erfüllen, also eine Autoritätsbeziehung einzugehen, oder eben nicht. Wir können uns nicht einfach mit ihnen solidarisieren, um sie dann zuständigkeitshalber an das Patriarchat, die Männer, die Gesellschaft, die Institution oder wen auch immer weiterreichen.

Dazu gehört, dass wir bereit sind, auch Urteile zu fällen und eine Position zu beziehen. Denn natürlich ist nicht alles, was die Mädchen wollen, toll. Es ist zwar richtig, dass für eine Autoritätsbeziehung ausschlaggebend ist, ob unser »Mehr« bei den Mädchen auf ein Begehren trifft, für das es eine Antwort sein kann, aber Autorität besteht ja nicht darin, einfach den Mädchen alle Wünsche zu erfüllen. Die Mutter ist ja auch keine Bonbon-Beschaffungsmaschine, die ihren Töchtern einfach jede Süßigkeit besorgt, die sie haben wollen. Sondern die Mutter steht für etwas, sie hat auch eigene Wünsche und Bedürfnisse.

Zu diesen Wünschen und Bedürfnissen vieler Pädagoginnen gehört es vermutlich unter anderem – hätte ich diesen Beruf, wäre es bei mir jedenfalls so – den Mädchen »Bewusstsein« beizubringen für die politischen Verhältnisse, sie zu ermutigen, ihren eigenen Weg zu gehen und sich nicht von Rollenerwartungen einschränken zu lassen. Nicht wegen Modediktaten ihr Geld unnütz zu verschleudern oder ihre Gesundheit zu ruinieren. Was mir in diesem Zusammenhang wichtig zu sein scheint, ist, sich klar zu machen, dass dies zunächst einmal der eigene Wunsch, das eigene Anliegen ist, und nicht etwa das der Mädchen. Und das ist auch gut so – denn hätten wir selbst kein Begehren in dieser Richtung, wären wir auch nicht bereit, eine Beziehung einzugehen. Das scheint mir in der gesamten pädagogischen Debatte häufig unter den Tisch zu fallen: Da wird viel herumspekuliert und theoretisiert, was denn wohl die Mädchen brauchen und welche Bedürfnisse sie angeblich haben und wie man ihre Interessen wahrt. Aber da es sich auch bei der pädagogischen Beziehung in erster Linie eben um eine Beziehung handelt, ist es wichtig, sich vor allem klar zu machen, mit welcher Motivation man selbst in dieser Beziehung steht. Denn das ist die Voraussetzung für alles weitere.

Die Frage, die sich Mädchenpädagogik meiner Meinung nach zu stellen hat, ist also nicht: Was brauchen die Mädchen? sondern: Was tun die Pädagoginnen? Welche Antworten haben sie, als erwachsene, politisch erfahrene Frauen den Mädchen zu geben? Wie können sie ihnen mit Autorität gegenüber treten, also als Frauen, die ein Mehr zu bieten haben, das auf die berechtigten Ansprüche der jungen Frauen an die älteren eine Antwort gibt?

Aber was, könnten Sie einwenden, wenn die Mädchen gar keine Ansprüche stellen? Das beklagte jedenfalls kürzlich eine Lehrerin in einem Workshop, an dem ich teilnahm. Sie sagte: Die Mädchen heute haben ja keine großen Ziele mehr, sagte, sie wollen sich nicht politisch engagieren und nichts in der Welt bewegen, sie streben ja nur nach ihrem kleinen, privaten Glück. Luisa Muraro, die an dem Workshop teilnahm, antwortete: Ja ist das denn nicht der größte aller möglichen Wünsche, der Wunsch, glücklich zu sein? Das hat mir die Augen geöffnet. Wie können wir, die älteren, auf diesen Anspruch der Mädchen antworten? Auf diesen Anspruch: Zeigt uns einen Weg, wie wir glücklich werden können? Zeigt uns einen Weg, wie dieses unser kleines Leben Sinn bekommen kann?

Was haben wir den Mädchen da zu bieten? Auf diese Frage kann ich natürlich keine allgemeingültigen Antworten geben. Es ist vielmehr eine Aufgabenstellung: Diese Frage zu beantworten, muss Gegenstand der Diskussionen, Debatten und Auseinandersetzungen unter uns sein. Aber ich möchte doch einen Vorschlag versuchen, sozusagen als Beitrag zu dieser Debatte.

In diese Zeiten am Ende des Patriarchats leben wir nicht mehr in einer symbolischen Ordnung des Vaters, die darin besteht, gesellschaftliche Rollen genau zu definieren und vorzuschreiben, zum Beispiel die, dass der Raum der Frauen das Private ist, während die Männer für sich das Feld der Politik und der Öffentlichkeit beanspruchen. Vor diesem patriarchalen Prinzip entstand ja der alte Slogan der Frauenbewegung: Das Private ist Politisch. Also die Aufforderung der Frauen, ihre privaten Lebensverhältnisse, Einsichten und Probleme in die öffentliche Diskussion zu bringen, sich selbst aus der Unsichtbarkeit in die Sichtbarkeit zu begeben.

Heute ist die Situation eine völlig andere. Es gibt fast nichts Privates mehr, alles ist Öffentlichkeit. Der Frauenkörper, der früher verhüllt werden musste, muss heute öffentlich ausgestellt werden. Wurden früher die inneren Werte der Frauen wie Tugendhaftigkeit, Empathie und Fürsorglichkeit gewürdigt und hochgelobt, so geht es heute um die Ausstellung, die Selbstdarstellung. Nicht nur der Frauen, auch der Männer.

Warum das so ist, dazu erscheint mir eine These sehr einleuchtend, die Chiara Zamboni kürzlich aufgestellt hat: Die Frauenbewegung hat zwar das Ende des Patriarchats öffentlich sichtbar gemacht und hat ihm eine alternative symbolische Ordnung entgegengestellt, nämlich die Politik der Beziehungen unter Frauen. Was jedoch nicht oder nicht ausreichend gelungen ist, ist die Männer in diesen Prozess der Veränderung mit einzubeziehen, und zwar im Rahmen ihrer männlichen Differenz. Denn natürlich hat das Ende der Autorität des Vaters unterschiedliche Folgen für Frauen und Männer. Nach Chiara Zambonis Analyse sind die Männer durch den Verlust der väterlichen Autorität orientierungslos geworden. Der Weg, so zu werden, wie ihre Väter, ist ihnen nun verschlossen. Der Weg, den die Frauen eingeschlagen haben, ist für Männer aufgrund ihrer sexuellen Differenz nicht so ohne weiteres gangbar. Nur wenige von ihnen haben angefangen, an dieser Differenz für sich zu arbeiten. In diesem Sinn ist die Revolution, die das Ende des Patriarchats bedeutet, noch unvollendet.

Die Männer – und das haben die Frauen in den siebziger Jahren nicht voraus gesehen, konnten es auch nicht, weil eine Revolution immer mit unvorhersehbaren neuen Wegen zusammen hängt – die Männer haben sich statt dessen als Brüder zusammengeschlossen. Sie gründeten sozusagen eine narzistische, homosexuelle Allianz unter Gleichen. Auch sie lehnen seit den sechziger Jahren die Autorität des Vaters ab. Sie finden ihre Identität nicht mehr in einer väterlichen Ordnung, sondern in ihrer gegenseitigen Spiegelung. Das Bild, das »Image«, die Inszenierung, die Selbstdarstellung wird sichtbares Zeichen des männlichen Narzismus. Diese narzistische Brüderallianz ist es zum Beispiel, die wir in den Medien sehen. Die offizielle Politik ist unter ihrer Regie zu einer Bühne der Selbstdarstellung geworden, bei der es nicht mehr um Inhalte geht, um das, was richtig oder falsch ist, sondern nur noch um den äußeren Schein, das Event. »Spektakel-Demokratie« nennt Chiara Zamboni das. Das Problem ist natürlich, dass diese Spektakel-Demokratie und die Unordnung, die sie hinterlässt, schädlich für die Welt und für die Gesellschaft ist. Politik scheint nur noch eine Bühne zu sein, die jeden Inhalt verschlingt. Nicht kann auf dieser Bühne mehr gesagt werden, ohne dass es in dem Getöse untergeht, nicht weil es nicht gehört oder gedruckt würde, sondern weil es als Teil des Getöses und des Spektakels interpretiert und damit nicht ernst genommen werden wird.

Diese Veränderung sollten wir im Auge haben, wenn wir mit Mädchen zu tun haben, die bereits in dieser Spektakel-Demokratie aufgewachsen sind und sich nicht mehr an die Zeiten »vor der Frauenbewegung« erinnern, nicht mehr wissen, dass es eine Zeit gab, in der von Frauen verlangt wurde, unsichtbar zu bleiben, zurückgezogen und tugendhaft. Im Gegenteil: Diese narzistische Gemeinschaft der Brüder macht den Frauen ein verlockendes Angebot: Sie lädt sie ein, sich ebenfalls auszustellen, diese Bühne zu betreten. Das heißt, die Mädchen sind nicht mehr damit beschäftigt, sich einen Weg in die Sichtbarkeit, in die Öffentlichkeit zu erkämpfen, sondern sie sind damit beschäftigt, die neuen Anforderungen zu erfüllen, die die totale Sichtbarkeit der Spektakel-Demokratie von ihnen verlangt: Die Arbeit an der eigenen äußerlichen Erscheinung, die Formung des eigenen Körpers, aber auch die Arbeit am eigenen »Image«, an der Erscheinung, der Inszenierung der eigenen Sichtbarkeit fällt in diese Anforderungen.

Komme ich also zu meiner Frage zurück: Was haben wir, was hat die Frauenbewegung und der Feminismus den Mädchen anzubieten? Die Politik der Frauen hat sich immer bemüht um den Zwischenraum zwischen Öffentlichem und Privatem. Meine These ist daher, in Anlehnung an Chiara Zamboni, dass es eine Aufgabe wäre, die Alternative zwischen totaler Unsichtbarkeit und totaler Sichtbarkeit als falsche Alternative zu entlarven. Deutlich zu machen, dass Politik und Weltgestaltung nicht auf der Bühne dieser Spektakel-Demokratie stattfindet (woran ohnehin kaum noch jemand glaubt), dass sie aber dennoch möglich ist: Nämlich genau in diesem Dazwischen zwischen öffentlicher und privater Welt. Vielleicht könnte ein Slogan heute heißen: Das Politische ist privat, das heißt, es spielt sich nicht auf dieser Spektakel-Bühne, im Fernsehen zum Beispiel, ab, sondern hier und jetzt, zwischen dir und mir. Was wir ältere Frauen den Mädchen bieten können, ist die persönliche politische Beziehung, die wir selbst für uns als Maßstab und Orientierung entdeckt haben, die uns auf neue Ideen gibt und Sinn. Eine Beziehung, in der weibliche Autorität anwesend ist, die den Mädchen ein Mehr bietet im Hinblick auf ihr je eigenes Begehren. Eine Beziehung, die persönlich ist, insofern die beteiligten Personen nicht austauschbar sind, und die politisch ist, insofern nicht Liebe oder Freundschaft ihre Grundlage ist, sondern der Wunsch nach Weltgestaltung, nach politischem Handeln, nach Engagement und Sinn.

Ist also die Strategie, nicht mehr an das Patriarchat zu glauben, die beste Voraussetzung für seine Abschaffung? Wohl eher nicht. Nicht mehr an das Patriarchat zu glauben, ist keine »Strategie«, sondern eine Feststellung, eine Entdeckung, die ich eines Tages gemacht habe.

Politisches Handeln ist keine Strategie, ist nicht instrumentell. Ich würde es eher als ein Spiel bezeichnen, als ein Experiment, bei dem wir mit unserem ganzen Körper, mit unserem ganzen Wesen der Spieleinsatz sind. Politisches Handeln ist ein niemals endendes Experiment mit offenem Ausgang. Das Spiel zwischen weiblichem Begehren und weiblicher Autorität, in dem Raum ist für Neues, für Unvorhergesehenes. Die »Strategie«, wenn man so will, die Basis, von der aus das möglich ist, sind die Beziehungen unter Frauen, das Affidamento, das sich-Anvertrauen an weibliche Autorität. Diese neue Politik hat die Frauenbewegung erfunden und etabliert. Und sie ist das Beste, was wir haben, um sie auch jungen Frauen anzubieten, wo und in welcher Rolle wir auch immer mit ihnen zu tun haben.

Enden möchte ich deshalb mit einem Zitat der italienischen Pädagogin Anna Maria Piussi zu der Frage, wie dieses Spiel geht, wie solche Beziehungen möglich sind. Sie schreibt: »Indem wir Vertrauen setzen in unseren Wunsch, etwas zu sagen, der der Anfang eines neuen Sprechens ist. Indem wir untereinander das Band des Begehrens knüpfen, in einer aneinander interessierten und engen Beziehung, was in dem konfusen und bewegten Meer der Universität nicht immer leicht ist (und sicher auch nicht in den Institutionen, in denen Sie arbeiten), aber unabdingbar, damit wenigstens hin und wieder geschieht, was Frauen geschehen lassen können: Eine Beziehung Dozentin-Schülerin, erwachsene-jüngere Frau, die wie ein Kunstwerk ist, das nicht reproduziert werden kann, weil es einmalig und einzigartig ist. Aber es ist eine mögliche Quelle der Inspiration, der Stärke, aus der ein Wissen entsteht, das dann auch für andere da ist« (1).


Vortrag am 23.6.2003 LAG Mädchenarbeit, Frankfurt

Veröffentlicht in: Mädchenpolitisches Forum, Rundbrief der Landesarbeitsgemeinschaft Mädchenpolitik in Hessen, Nr. 1/2006

Ein weiterer Artikel zum Thema: Mädchenarbeit in Genderzeiten

(1) aus: Approffitare dell’assenza, Napoli 2001.