Landkarten des Feminismus
Neulich im Zug beobachtete ich folgende Szene: Ein Mädchen und ihr Bruder, etwa acht und zehn Jahre alt, reisten alleine. Als wir nach Köln einfuhren, begann das Mädchen einen Karnevalshit zu schmettern, wo es ungefähr hieß »Und ich hielt mein Mädchen im Arm«. Daraufhin ihr Bruder: »Bist du vielleicht ein Junge? das würde mich wundern, dazu bist du viel zu faul.« Sie erwiderte: »Wieso, ich kann doch auch lesbisch sein!«
Als wir diese Veranstaltung planten, fragt mich Kathrin Eckert, ob der Titel lieber »Landkarten der feministischen Theorien«, oder im Singular »Landkarte der feministischen Theorien« heißen sollte. Spontan sagte ich damals, sollte im Plural bleiben, also Landkarten. Und wie sich zeigte, war genau dies – die Pluralität der Landkarten feministische Theorien – für mich an der Ausgangspunkt beim Schreiben dieses Vortrags.
Denn wenn man einmal genau überlegt, gibt es sehr viele Landkarten, also Verzeichnisse und Versuche, die Vielfalt feministische Theorien zu analysieren, zu unterscheiden, darzustellen.
Eine sehr bekannte Landkarte zum Beispiel zeichnet Alice Schwarzer schon immer und leider auch heute noch, nämlich eine die so aussieht: Sie zeichnet sozusagen zwei verschiedene Hälften, die von einem großen breiten Graben voneinander getrennt sind, über die es praktisch keinerlei Brücken gibt, und in der einen Hälfte sind die Gleichheitsfeministinnen, in der anderen Hälfte die Differenzfeministinnen. In dieser Sichtweise, die bis heute in fast keinem Überblick zur Entwicklung der feministischen Theorien fehlt, gibt es zwei grundsätzlich verschiedene Arten von Feminismus: der Gleichheitsfeminismus, der zum Ziel hat die Gleichheit zwischen Frauen und Männern, und auf der anderen Seite den Differenzfeminismus (Alice Schwarzer nennt sie Differenzialistinnen), der davon ausgeht, es gebe grundsätzliche und nicht zu leugnende Unterschiede zwischen den Geschlechtern.
Landkarten, wir wissen das, können nicht nur Orientierung bieten, sie können auch in die Irre führen. Diese Landkarte ist nicht nur sehr einfach, sie ist auch falsch, zumindest was den großen Graben zwischen den beiden betrifft. Denn fast allen Theorien des Feminismus geht es darum, Gleichheit und Differenz der Geschlechter in ihrer Wechselwirkung zu verstehen. Die Frage ist nicht so sehr, ob Frauen und Männer gleich oder verschieden sind, sondern eher in welcher Hinsicht sie gleiche und in welcher Hinsicht sie verschieden sind, oder noch anders: Welche Bedeutung wir der faktischen Geschlechterdifferenz (die es einfach in der Realität gibt, woher auch immer sie kommt) geben möchten. Und da variieren die Antworten eher zwischen zwei Extremen, das eine Extrem besagt, wir möchten dieser Geschlechterdifferenz überhaupt keine Bedeutung geben, also sie möglichst abschaffen, das andere Extrem besagt, dass diese Differenz eine alles überragende Bedeutung hat, weil sie ganz grundsätzlich im Menschsein angelegt ist, z.B. in der Biologie oder im göttlichen Schöpfungswillen. Aber zwischen diesen beiden Extremen gibt es natürlich eine ganze Bandbreite von möglichen Bedeutungen, zumindest müsste diese Landkarte also so verändert werden, dass der große Graben verschwindet und es eher einen fließenden Übergang zwischen beiden gibt.
Aber es werden natürlich auch noch viele andere Landkarten vom Feminismus gezeichnet. Eine derzeit sehr populäre ist die, die die Ordnung nicht in der Fläche ansiedelt, sondern auf einer Zeitschiene, die also von verschiedenen historischen »Wellen« des Feminismus spricht.
In dieser Ordnung wird zum Beispiel die erste Welle am Anfang des 20. Jahrhunderts angesiedelt, mit der Frauenwahlrechtsbewegung und der Erringung des Wahlrechts, die Zweite Welle spielte sich dann in den siebziger Jahren ab mit der Erringung der Gleichberechtigung und der Möglichkeit der Geburtenkontrolle und der Abschaffung der zivilrechtlichen Unterordnung von Ehefrauen unter Ehemänner. Eine dritte Welle hat es demnach in den Neunziger Jahren gegeben mit den emanzipierten Feministinnen, die sich von dem oft etwas bitteren Ton der »Altfeministinnen« distanzierten (auf diese werde ich später noch ausführlich eingehen). Und manche sagen, es gebe heute bereits eine vierte Welle des Feminismus, getragen von den jungen Frauen, denen, die heute so um die 20 sind, und die schon in Zeiten völliger Gleichberechtigung aufgewachsen sind.
Wenn man etwas genauer darüber nachdenkt, muss man dann diese Linie eigentlich auch noch weit in die Vergangenheit zurückziehen, denn Feminismus hat es natürlich nicht erst seit dem 20. Jahrhundert gegeben, sondern über die ganze Menschheitsgeschichte hinweg. Inzwischen gibt es ja eine große Fülle von Arbeiten aus dem Bereich der Frauengeschichte, sehr viele vergessene Frauen sind inzwischen erforscht worden, und die Historikerinnen haben diese Wellenbewegungen der Frauenbewegung auch in der Vergangenheit wieder gefunden. Große feministische Wellen waren etwa die Beginen im 13. und 14. Jahrhundert in Europa, aber natürlich auch die Frauen der Aufklärung, deren Namen und inzwischen geläufig sind, wie Mary Wollstonecraft oder Olympe de Gouges.
Eine weitere wichtige Landkarte der feministischen Theorien ist eine, die wirklich auch im engeren Sinne des Wortes eine Landkarte ist, und die vor allem seit der einflussreichen Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 wichtig geworden ist, nämlich die Aufmerksamkeit dafür, dass in verschiedenen Ländern, Erdteilen und Kulturen sich jeweils auch unterschiedliche Weisen des Feminismus herausbilden. Es ist eine Landkarte, die die Dominanz westlicher Feministinnen und ihrer Themen und Theorien infrage stellt, und darauf hinweist, dass es Bewegungen von Frauen für mehr weibliche Freiheit nicht nur in westlich emanzipierten Ländern gibt, sondern überall auf der Welt. Dass es afrikanische Feministinnen gibt, muslimische Feministinnen, auch innerhalb Europas gibt es sehr viele unterschiedliche Feminismen – vom skandinavischen Staatsfeminismus bis zum mediterranen eher anarchistischen Feminismus.
Nachdem man eine Weile mit dieser Landkarte gearbeitet hatte, stellte sich heraus, dass die Sache in Wirklichkeit noch viel komplizierter ist. Denn es zeigt sich, dass auch innerhalb einer geographischen Region viele unterschiedliche Arten von Feminismus existieren. In Amerika zum Beispiel haben sich schwarze Frauen von den weißen klassischen Feministinnen abgegrenzt, indem sie sich »Womanists« nennten, es gibt eigene feministische Strömungen der native americans, der Latinas, der asian americans usw., also alles was unter dem Begriff der »postcolonial studies« firmiert.
Ähnlich kann man auch in anderen Kontinenten vorgehen. Was in den USA der Rassismusdiskurs ist, das ist zum Beispiel in Europa der Klassendiskurs. So spielten die Konflikte zwischen bürgerlichen Frauenrechtlerinnen und Sozialistinnen bereits im 19. Jahrhundert eine sehr große Rolle. Und heute sind wir wieder zunehmend mit der »Klassenfrage« konfrontiert, wenn z.B. feministische Forderungen wie das Elterngeld faktisch bedeuten, dass arme Familien weniger Geld haben als früher. Unter dieser Perspektive könnte man auch die Debatten über das unterschiedliche Lohnniveau zwischen Frauen und Männern kritisch beleuchten, es ist zwar heute in der Tat statistisch so, dass Männer 30% mehr verdienen als Frauen, aber dies sagt eben nicht viel über den Einzelfall aus. In der Computerbranche zum Beispiel verdienen Frauen sogar mehr als Männer. Man muss also sehr genau hinschauen, um welche soziale Gruppe es sich handelt, und es ist heute einfach nicht mehr wahr, dass Frauen qua Geschlecht benachteiligt sind, oder zumindest sind die sozialen Unterschiede zwischen Armen und Reichen deutlich wichtiger als die zwischen Frauen und Männern. Andere Diskrepanzen gibt es zum Beispiel zwischen westlichen Feministinnen und muslimischen Feministinnen über die Frage, ob der Islam grundsätzlich frauenfeindlich sei oder nicht. Das heißt, in fast allen Ländern gibt es unterschiedliche Gruppen von Feministinnen, die je nach ihrer kulturellen, religiösen, ethnischen Zugehörigkeit unterschiedliche Anliegen haben, die häufig auch miteinander in Konflikt sind.
Aber es gibt noch eine vierte Möglichkeit, die Landkarten des Feminismus zu zeichnen. Es ist die Tortenstückvariante. Diese Tortenstücke unterscheiden sich eher nach der Art und Weise des Engagements verschiedener Frauen. Da wäre zum Beispiel ein kleiner, aber relativ einflussreicher Bereich des akademischen Feminismus an den Universitäten. Hier ist der Ort, wo am systematischsten feministische Theorie betrieben wird, aber inzwischen ist doch der Einfluss, den diese Arbeit hat auf den Alltag der meisten Frauen, verschwindend gering. Es hat seit den siebziger Jahren definitiv ein Auseinanderdriften gegeben zwischen den normalen Frauen und den akademischen feministischen Forscherinnen. Dafür gibt es sicherlich sehr viele Gründe, von denen der allgemeine Niedergang der Universitäten wahrscheinlich ein wichtiger ist.
Speziell was die feministische akademische Arbeit betrifft, so kommen dazu, zumindest für Deutschland (für andere Länder kann ich es nicht so genau beurteilen) zwei Punkte hinzu, die meiner Ansicht nach entscheidend sind. Das erste ist die extrem übergroße Bedeutung, die die Theorien von Judith Butler hierzulande haben. Judith Butler hat das Buch »das Unbehagen der Geschlechter« geschrieben, das in Deutschland 1991 erschienen ist, und darin stellt sie die sehr interessante These auf, dass nicht nur das soziale Geschlecht, sondern auch das biologische Geschlecht konstruiert sei. Das Problem dieses Buches ist, dass es extrem unverständlich geschrieben ist, und deshalb von kaum einer Nichtakademikerin gelesen wurde. Andererseits gibt es aber fast keine akademischen Publikationen seither, die sich mit feministischer Theorie beschäftigen, und die sich nicht sehr maßgeblich mit genau diesem Buch befassen. Das ist übrigens der anders als in den USA selbst, wo Judith Butler zwar geschätzt wird, aber keineswegs als Ikone des Feminismus auf den Sockel gestellt.
Der zweite Punkt, der den akademischen Feminismus etwas ins Abseits getrieben hat, ist die Tatsache, dass auf der Suche nach Anerkennung seitens ihrer männlichen akademischen Kollegen dort nicht mehr feministische Studien, sondern vielmehr gender studies betrieben werden. Es gibt sicherlich viele gute Gründe, warum gender studies betrieben werden sollten. Problematisch ist aber, wenn sie feministische Studien ersetzen. Denn gender studies beschäftigen sich naturgemäß mit beiden Geschlechtern also mit Frauen und Männern, und ihrem Verhältnis zueinander. Der Maßstab für das, was Frauen interessiert, ist damit also sehr eingeengt, nämlich auf das Vergleichen mit dem Männlichen. Damit steht aber dann mehr die Positionierung feministischer Wissenschaftlerinnen innerhalb der Universität im Vordergrund, und damit weniger ihre Anwendung oder Einmündung in eine außeruniversitäre Frauenbewegung.
Das zweite Tortenstück, das seit den achtziger Jahren in Deutschland sehr gewachsen ist, ist das der institutionalisierten Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten. Fast jede Kommune, öffentliche Institution usw. hat inzwischen eine. Sie sind sozusagen die professionellen Frauen-Frauen, und es ist ein Segment, das vielen Frauen Lohn und Brot sichert. Wobei aber inzwischen nicht mehr nur Feministinnen diese Positionen besetzen, während in den achtziger Jahren es oft Vorkämpferinnen der Frauenbewegung waren, die sich um diese Stellen beworben haben, oder sie ins Leben riefen, so sind es in der letzten Zeit zunehmend ganz normale Frauen aus den Verwaltungen, ohne feministischen Hintergrund, die sich erst wegen dieses Amtes mit dem Thema anfangen zu beschäftigen. Was aber nicht immer unbedingt ein Nachteil sein muss.
Das dritte Tortenstück sind die heute etwas geschrumpften, aber immer noch vorhandenen und sehr aktiven autonomen Frauenprojekte. Also Frauenzentren, Frauen-Bildungseinrichtungen, Landprojekte, Vereine, Initiativen und all das. Heute gibt es einen wachsenden Bereich im Bezug auf das gemeinsame Älterwerden von Frauen, also die Wiederbelebung von Beginenhöfen, Wohngemeinschaften und so weiter und sofort.
Und das vierte und größte Tortenstück das sind die ganz normalen Frauen, die mehr oder weniger feministisch sind. Ganz ohne Feminismus kommt man heute nicht mehr aus, sogar jede x-beliebige Frauenzeitschrift hat heute solche Einsprengsel, und kaum eine Frau befürwortet heute noch die Unterordnung der Frauen unter die Männer, wie es zurzeit meine Mutter noch war.
Erster Teil eines Vortrags am 27.11.2008 bei cid-femmes in Luxemburg. Der zweite Teil des Vortrags steht hier