Gewissen in Religion, Staat und Gesellschaft
Was bedeutet Gewissen in Staat und Gesellschaft? – Die Themenstellung hat mich zunächst etwas überrascht. Denn »Gewissen« ist normalerweise kein Begriff, der mit der Gesellschaft in Verbindung gebracht wird. Denn das »Gewissen« ist in der westlichen Philosophie eigentlich etwas individuelles, persönliches, eine Sache des einzelnen Menschen, und nichts, das ganze Gruppen von Menschen haben.
Gesellschaften oder Staaten haben kein Gewissen, sie haben Werte, Also zum Beispiel Werte wie Nächstenliebe oder dass man den Armen helfen muss oder dass niemand unfaire Nachteile haben soll oder dass alle politisch mitbestimmen dürfen oder dass man Kinder nicht verprügeln soll, oder Verantwortung für die Schöpfung. Um diese Werte zu schützen, machen Staaten Gesetze, etwa für demokratische Wahlen oder ein Sozialsystem oder Recyclingprogramme, oder es gibt die öffentliche Meinungen, gesellschaftliche Normen von dem, »was sich gehört«.
Aber sich an diese Werte und Regeln zu halten, also ein guter Bürger, ein braves Kind zu sein, das hat nicht unbedingt etwas mit dem Gewissen zu tun. Es kann viele Gründe geben, der vorherrschenden Meinung nicht zu widersprechen und sich an die Gesetze zu halten: Bequemlichkeit, der Wunsch nach Anerkennung, Desinteresse, seine Ruhe haben wollen, die Angst vor Bestrafung oder davor, ein Außenseiter zu sein. Es ist nicht die Moral, die dafür sorgt, dass Menschen sich an die staatlichen Gesetze halten und an die Sitten in ihrer Gesellschaft, sondern äußerer Druck: Polizei, Gerichte, Soziale Kontrolle usw.
Man muss also kein moralisch guter Mensch sein, um ein treuer Staatsbürger zu sein, sondern man wird mehr oder weniger gezwungen, sich an die Werte und Regeln der Gesellschaft und des Staates zu halten, unabhängig davon, ob man ihnen persönlich zustimmt oder nicht.
Die Bedeutung, die das Wort »Gewissen« – oder ein gutes oder schlechtes Gewissen zu haben – in der Alltagssprache hat, nämlich, dass man ein guter Bürger ist, der sich an die Gesetze hält und nichts Verbotenes tut, ist daher, so gesehen, falsch. Ich habe in Vorbereitung dieses Vortrags ein wenig im Katalog der Frankfurter Unibibliothek gestöbert, und festgestellt: Viele Bücher, in deren Titel das Wort »Gewissen« vorkommt, sind Biografien oder Autobiografien oder Festschriften zu Ehren irgendeiner Persönlichkeit. Persönlichkeiten, die sich dadurch auszeichneten, dass sie ein »Gewissen« hatten. Und was bedeutete das konkret? Es bedeutete keineswegs, dass sie schön brav waren, nichts Verbotenes taten. Sie taten im Gegenteil gerade das: Sie halfen Juden in Deutschland während des Nationalsozialismus, traten für Umweltschutz ein, als das noch nicht modern war, und so weiter. Sie folgten nämlich dem eigenen Gewissen mehr als den Gesetzen, dem Zeitgeist, dem Mainstream, waren aufrechte Streiter für das Gute, moralisch integre Menschen, die keine Angst davor hatten, sich unbeliebt zu machen und oder gar verfolgt und verurteilt zu werden.
Im Philosophen-Jargon heißt das: das Gewissen folgt dem »Unbedingten Sollen«, das Gewissen sagt uns, was wir unbedingt tun sollen, diese Aufforderung ist an keine Bedingungen geknüpft, das Gewissen gilt ohne Wenn und Aber, es steht sogar über dem Gesetz.
So gesehen ist das Gewissen also gerade das Gegenteil von Recht und Gesetz. Die Gesetze, die Verträge also, die in Staat und Gesellschaft gemacht werden, sind nämlich kein »unbedingtes Sollen«, sondern an Bedingungen geknüpft. Zum Beispiel an Mehrheitsverhältnisse, an die Wirtschaftsentwicklung, an den Zeitgeist und so weiter. Ändern sich diese Bedingungen, dann werden auch die Gesetze irgendwann geändert.
Der Staat steht also für all das, was Menschen untereinander auf politischem Wege an Entscheidungen hinbekommen: Durch Verträge, Abstimmungen, Aushandeln, diktatorische Befehle. Aber egal wie so ein Gesetz zustande gekommen ist, es ist niemals hundertprozentig richtig, hundertprozentig gut. Es ist eben relativ. Deshalb muss ihm ein Gewissen gegenüber gestellt werden, etwas das Unbedingt gilt, das auch durchgesetzt werden muss, wenn der Gewissensträger nur eine kleine Minderheit ist, notfalls gegen die Mehrheit.
Gewissen in seiner politischen Bedeutung heißt also: Es gibt neben den Gesetzen, also den Dingen, über die man diskutieren kann und bei denen man dieser oder jener Meinung sein kann, auch Dinge, über die man nicht diskutieren kann. Eben die Gewissensfragen. Hier ist im Zweifelsfall Widerstand gefragt.
Klassisches Beispiel ist die Antigone – Geschichte erzählen –
Das Gewissen gilt also als Korrektiv zur Politik. Es sorgt dafür, dass sich das »Eigentlich« Gute durchsetzt, es setzt dem, was man politisch diskutieren kann, eine Grenze: Bis hierhin und nicht weiter. Wenn es um Dinge geht, die nicht in diesen Bereich des »unbedingten Sollens« fallen, dann muss ich mich an die Gesetze halten, auch wenn ich anderer Meinung bin. Nicht jede Opposition ist eine Frage des Gewissens. So kann man darüber streiten, ob die Mehrwertsteuer ein Prozent höher oder niedriger liegen sollte – aber man wird kaum eine Gewissensfrage daraus machen. Anders ist es vielleicht bei Einführung der Todesstrafe. Oder bei Tyrannei. Bei Ausländerfeindlichkeit.
Politisch gesehen ist das Gewissen also eine Frage des Widerstandsrechtes gegen den Staat. Dass die Einzelnen ein Gewissen haben, und manche Mutigen wie Antigone danach handeln, schützt die Gesellschaft vor falschen Entscheidungen ihrer Herrschenden – und zwar egal, ob diese Herrschenden Diktatoren, Könige oder demokratisch gewählte Parlamente sind. Aber es ist trotzdem keine egoistische, nur subjektive Entscheidung. Es geht, wenn ich meinem Gewissen folge, nicht darum, was ich tun will , sondern darum, was ich tun muss . Nur dass ich das, was ich laut meinem Gewissen tun muss, eben nicht an den Gesetze ablesen kann oder daran, was alle anderen tun oder was gerade gesellschaftlich gefragt ist.
Gewissen befindet sich also an der Schnittstelle zwischen Allgemeinheit und Individuum, zwischen Mehrheitsmeinung und Minderheitsmeinung (Gesellschaft) und zwischen Freiheit und sozialer Verantwortung (Einzelne). Diese Eckpunkte stehen nicht ein einem starren Verhältnis zueinander, Gewissen ist zurecht ein etwas schwammiger Begriff, weil er all diese vier Punkte in einer Balance halten muss.
Damit entsteht aber natürlich ein Problem: Denn es gibt keine objektive Möglichkeit, festzustellen, was eine Gewissensfrage ist, und was nicht. Die Gewissensfrage stellt sich als einsame Entscheidung. Die meisten Menschen schildern diese Erfahrung, dass sich das »Gewissen« meldet als eine innere Stimme, es ist die so genannte »Stimme des Gewissens«, die da zu mir spricht.
Stellt sich also die Frage: Wem gehört diese Stimme, die da spricht? Wo kommt sie her? Ich möchte diese Frage nicht psychologisch verstehen, auch wenn es ja längst Forschungen gibt, die diese Frage zu beantworten versuchen.
Ich möchte Ihnen zunächst zwei klassische Interpretationen unserer westlichen Kultur vorstellen und dann eine neue, die mir besser geeignet erscheint, diese Stimme des Gewissens zu verstehen. Nicht, um zu sagen, die eine Interpretation ist richtig und die anderen sind falsch, sondern weil ich glaube, die alten Erklärungen sind nicht hilfreich, die heutigen politischen Herausforderungen zu bewältigen. Es geht mir eher darum, neue Denkmöglichkeiten zu schaffen, die mir jedenfalls viel geholfen haben und nützlich sind.
Die alte Antwort war: Diese Stimme gehört Gott. Beispiel: Märtyrer, Jeanne d’Arc und so weiter. Gottes Wille ist in der Bibel etc. überliefert, gegen Gottes Willen kann keine Regierung Gesetze erlassen. Schon Jesus sagte: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist«. Daraus entstand dann die so genannte Zwei Reiche –Lehre: In weltlichen Dingen soll sich der Christ dem Staat unterwerfen, die Gesetze beachten und ein guter Bürger sein, in »Bekenntnisdingen«, also wenn es um das »Unbedingte« geht, muss er sich nach Gottes Geboten richten.
Zwangsläufig gab es da schon bald Streit darüber, was denn Gottes Wille ist. Und: Mit der engen Verbindung zwischen Kirche und Politik standen die Religionsverwalter bald schon auf Seiten der Herrschenden. So wurde das Gewissen, der Appell an die Moral, auch von den Obrigkeiten gebraucht, um die Menschen klein zu halten und gehorsam zu machen. Das Gewissen konnte also kein Korrektiv mehr sein, sondern es lief bald auf dasselbe hinaus: Ein moralisch guter Mensch ist, wer sich an die Gesetze hält.
Es gab verschiedene Versuche, dieses Dilemma zu lösen, eine davon war die
Mystik, eine andere Reformation. Beide haben nämlich versucht, die direkte Beziehung zwischen dem einzelnen Menschen und Gott stark zu machen, und damit sozusagen die Erkenntnis von Gottes Willen wieder unabhängig zu machen von der Position der offiziellen Kirche. In der Mystik durch Visionen und Kontemplation, in der Reformation durch das Diktum »sola scriptura«, also allein an die Schrift gebunden zu sein in der Auslegung dessen, was Gottes Wille ist.
Trotzdem blieb das Dilemma der Kirchen bestehen: Wenn man die Stimme des Gewissens als die Stimme Gottes versteht, dann entsteht unweigerlich ein Streit darüber, was denn nun Gottes Wille ist. Es ist ein unfruchtbarer Streit, der häufig mit harten Bandagen geführt wurde, denken Sie nur an die Kreuzzüge, die Inquisition, die Hexenverfolgungen. Das heißt: Die Stimme des Gewissens als Stimme Gottes zu interpretieren, das macht eine offene Diskussion über verschiedene Standpunkte fast unmöglich. Wer glaubt, im Namen Gottes unterwegs zu sein, hat dann keine Skrupel mehr, gewalttätig zu sein und die eigene Meinung den anderen aufzuzwingen, ich denke der derzeitige Aufwind des Fundamentalismus im Islam, aber auch im Christentum, ist ein gutes Beispiel dafür.
Die christliche Interpretation, die Stimme des Gewissens als die Stimme Gottes zu verstehen, ist abgelöst worden von der Aufklärung. Der Streit darüber, woran man Gottes Willen denn erkennen kann, sollte damit überflüssig werden. Denn die Stimme die uns sagt, was richtig und was falsch ist, ist nach der Philosophie der Aufklärung nämlich nicht die Stimme Gottes, sondern die Stimme der Vernunft. Man glaubte also, die neu entstehenden Naturwissenschaften, die Logik, das vernünftige Denken böten eine Möglichkeit, herauszufinden, was objektiv das Richtige, eben das Vernünftige wäre, und dass Menschen dieses Vernünftige selbst erkennen könnten. Die Stimme des Gewissens wurde also nicht mehr als eine interpretiert, die von außen kommt, von Gott, sondern als eine innere Stimme, die Stimme der Vernunft, die alle Menschen als vernunftbegabte Wesen hören.
Die ersten Aufklärer waren der Meinung, dass es im Menschen ein Organ gibt, das erkennt was vernünftig ist, was moralisch ist, und was nicht. Der deutsche Philosoph Gottfried Wilhelm Leibnitz glaubte Ende des 17. Jahrhunderts, es wäre ein angeborenes Wissen der Menschen, der Engländer David Hume erklärte sich das im 18. Jahrhundert als eine natürlich Neigung.
Allerdings war das ziemlich optimistisch gedacht. Denn es stellte sich bald heraus, dass man sich darüber, was vernünftig ist, genauso gut streiten kann, wie darüber, was der Wille Gottes ist. Das Dilemma blieb also bestehen.
Bis dann Immanuel Kant eine Lösung vorschlug, mit der er glaubte, das Problem ein für alle mal gelöst zu haben: sein berühmter kategorischer Imperativ: Handle stets so, dass die Maxime deines Handelns jederzeit Grundlage für eine allgemeine Maxime sein könnten. Oder: Handle so, dass die Grundsätze, nach denen du handelst, jederzeit ein allgemeines Gesetz sein könnten. Was wollte er damit erreichen? Er wollte eine ethische Norm aufstellen, die sich aus der reinen Vernunft herleiten lässt, also unabhängig von jeder weltanschaulichen Prägung und Inhalt ist. Eine ethische Norm, über die sich nicht streiten lässt, weil sie überhaupt nichts Inhaltliches mehr aussagt, sondern eine reine Formalie ist.
Das, was das Gewissen nach Kant zu mir sagt, ist also nichts Konkretes, wie früher die Stimme Gottes, also es sagt nicht zum Beispiel: Du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen. Die Stimme der Vernunft stellt eine rein formale Frage, und sie ist auf jede ethische Entscheidung anwendbar, es ist ihr also ganz egal, in welcher konkreten Situation ich mich grade befinde. Die Stimme der Vernunft fragt: Wie wäre es, wenn alle so handeln würden, wie du?.
Auf den ersten Blick sieht dieses Konzept auch recht gut aus: Schließlich ist es sozusagen weltanschaulich neutral, was ich glaube und was meine Meinung ist, ist der Vernunft vollkommen egal.
Nach Kant braucht man keine Vorannahme wie Gott oder die Existenz eines inneren Sinnesorganes dafür, um herauszufinden, was vernünftig ist. Denn Vernunft zu haben, das macht für ihn genau das Wesen des Menschen aus: Der Mensch ist Mensch, weil er vernünftig ist – im Gegensatz zu den Tieren eben, die nur ihren Trieben und Instinkten folgen. Die Frage ist also nur: Kommt ein seiner moralischen Pflicht nach oder nicht?
Obwohl diese beiden Konzepte, das christliche und das aufklärerische, immer als Gegensätze verstanden wurden und teilweise auch heute noch werden, haben sie doch aus meiner Sicht etwas ganz Frappierendes gemeinsam: Nämlich das Prinzip der Allgemeingültigkeit, der Verallgemeinerbarkeit. Genauso wie man darauf beharrte, dass Gottes Gebote für alle gelten, genauso gilt auch die Vernunft für alle, sogar noch mehr. Zwar sagte Kant: Ihr könnt eure Inhalte nicht verallgemeinern, etwa die zehn Gebote oder den Glauben an die Hölle, indem ihr sie anderen aufoktroiert. Aber damit hat sich keineswegs von der Verallgemeinerbarkeit dessen, was Grundlage einer Gewissensentscheidung ist, verabschiedet. Im Gegenteil: Er hat die Verallgemeinerbarkeit ja gerade zum aller-einzigen Kriterium für eine Gewissensentscheidung erklärt, indem er sagt: Eine Handlung ist ethisch richtig, wenn sie sich verallgemeinern lässt. Wenn der Handelnde es wollen kann, dass alle so handeln.
In gewisser Weise ist dieses Konzepte von Kant deshalb noch totalitärer als der religiöse Fundamentalismus. Und zwar deshalb, weil es keinen Ausweg mehr zulässt: Ich kann zwar nicht an Gott glauben, aber ich kann nicht unvernünftig sein. Denn wenn ich nicht auf die Stimme der Vernunft höre, dann bin ich nämlich nach Kants Definition kein Mensch mehr. Es ist sozusagen ein geschlossener Zirkel, aus dem es kein Entrinnen gibt.
Natürlich haben die Philosophen, die nach ihm kamen, diese Tendenz der Aufklärung zum Totalitarismus, erkannt und problematisiert. In gewisser Weise hat das dazu geführt, dass die Moral schlechthin in Verruf geraten ist: Denn zwingt man, wenn man auf die Moral pocht, nicht letzten Endes immer anderen seinen Willen auf? »Du sollst« – dieser Befehl allein war schlecht angesehen, Moral wurde als Gegenteil von Freiheit verstanden, die Stimme des Gewissens als Trick der Obrigkeit.
Manche Philosophen, etwa der Amerikaner John Rawls – der kürzlich gestorben ist – entwickelten daher die Ansicht, die Entstehung demokratischer Strukturen hätten eine individuelle Moral vollkommen überflüssig gemacht. Die Form der Verallgemeinerbarkeit, in der Kant die Vernunft ausmacht, ist sozusagen auf die äußeren Rahmenbedingungen ausgelagert worden, sie hat nichts mehr mit der persönlichen Einstellung des Einzelnen zu tun. Gesetze, Polizei, soziale Kontrolle usw. sorgen dafür, dass das richtige geschieht, die Einzelnen können gar nichts dagegen unternehmen. Deshalb ist es ganz unerheblich, ob sie ein Gewissen haben. Natürlich ist das sehr problematisch für den Freiheitsbegriff.
Deshalb ist diese Meinung unter den Philosophen eine Minderheitenposition, aber sie stimmt doch mit dem unmittelbaren Eindruck vieler Menschen überein: Der Staat wird’s schon regeln, mein persönliches Engagement ist gar nicht von Bedeutung. Alles wird gut, auch ohne mein Zutun. Unsere Verfassung, die Grundrechte usw. werden schon dafür sorgen, dass im Großen und Ganzen alles stimmt.
Diese heutzutage weit verbreitete Einstellung in den westlichen Industrieländern hat aus meiner Sicht vor allem zwei Probleme.
Im Zeitalter der Globalisierung zeigt sich, dass Demokratie nur im Westen ein Wert ist, andere Kulturen funktionieren nach anderen Regeln. Die demokratischen Verfassungen sind keineswegs nur eine Formalie, sondern sie sind selbst ein Inhalt, die westliche Aufklärung ist nur eine Weltanschauung unter vielen. Und es ist nicht möglich, sie anderen Kulturen so ohne weiteres aufzudrücken.
Das zweite Problem ist: Auch wenn die Form akzeptiert wird, wie im Westen, funktioniert sie nicht von alleine. Auch demokratische Gesellschaften brauchen Moral, also das persönliche Mitmachen der Einzlnen. Man kann nicht alles gesetzlich regeln, das wäre ein Überwachungsstaat. Denn aus dieser Überzeugung, die da oben, der Staat und die Gesetze, sorgen schon für alles, ist der Eindruck entstanden, wenn ich nur nicht erwischt werde, kann ich nehmen, was ich kriegen kann. Es gilt als »cool«, möglichst viele Gesetzeslücken aufzutun und das Beste für sich rauszuholen – und zwar keineswegs bei den Unmoralischen, sondern bei den ganz normalen Leuten. Kants kategorischer Imperativ ist für viele nicht überzeugend: Was wäre, wenn das alle tun würden ? Aber es tun ja gar nicht alle! Das ist doch unwahrscheinlich.
Konservative Politiker fordern daher eine Rückkehr zu den alten Werten, zu der Moral von Kant also, oder zu denen des Christentums. Aber sie haben auch keine Lösung für die alten Probleme, die sich da stellten. Die Frage ist also: Wie kann man Kants Stärke, also das Formale, das keine konkreten Inhalte vorgibt, erhalten, ohne dabei totalitär zu werden, in dem Sinne, dass man Menschen, die sich nicht nach unseren Vorstellungen von Vernunft verhalten, ihr Mensch-Sein abzusprechen?
Die italienische Philosophin Diana Sartori hat in der Auseinandersetzung mit Kant eine Vorstellung entwickelt, die meines Erachtens eine Alternative sein könnte, die uns hilft, diese »Stimme des Gewissens« besser zu verstehen. Ich möchte Ihnen das vorstellen, nicht als Patentrezept, sondern als Denkmöglichkeit, um in unserer Vorstellung sozusagen Raum für weitere Optionen zu schaffen.
Auch Sartori geht von der Erfahrung aus, dass sich das Gewissen sozusagen als innere Stimme immer dann meldet, wenn wir eine Entscheidung treffen müssen. Sozusagen als eine Stimme aus dem Off, die sich – als unser Gewissen – bei ethischen Entscheidungen Gehör verschafft. Aber sie gibt eine andere Antwort darauf, wem diese Stimme gehört: Ich zitiere eine längere Passage:
«In meiner Erfahrung finde ich leicht eine vergleichbare Tatsache, die sich ebenso durchsetzt und die sich ebenfalls als eine Stimme darstellt, die mir eine Verpflichtung des Handelns anzeigt, zu dem, »was ich tun muss«. Es ist eine Stimme, die ich gut, ja sogar sehr gut kenne: Es ist nämlich die Stimme meiner Mutter.« …
»Wenn sich mir, was unter ganz verschiedenen Umständen vorkommt, die Frage stellt »Was soll ich tun?« dann zwingt sich auch meinem Gewissen, wie dem von Kant, die Tatsache eines Imperativs auf. Er spricht mich aber nicht mit der kalten und unpersönlichen Stimme der Vernunft an, sondern mit dem sehr vertrauten Tonfall meiner Mutter. Trotzdem präsentiert sich auch dieser Imperativ nicht in Form eines Verbotes oder eines Befehles, der ein bestimmtes Gutes anzeigt. Er sagt nicht so etwas wie »Du sollst nicht stehlen« oder »Du sollst nicht Lügen« und auch nicht »Sei ehrlich« oder »Sag immer die Wahrheit« oder »Liebe deinen Nächsten« und so weiter. Er befiehlt mir also keinen bestimmten Inhalt der Handlung, er ist eher ein Kriterium als eine Maxime, und er stellt sich wie die Erinnerung an das dar, was meine Mutter mir auf die eine oder andere Weise immer wieder gesagt hat, als ich ein Kind war:
»Handle immer so, wie du es tun würdest, wenn ich dabei wäre« oder
»Handle immer auf eine solche Weise, dass ich auch dabei sein könnte«.
Soweit Diana Sartori. Der innere Dialog, der hier abläuft, wenn ich eine Entscheidung treffen muss, ist also kein Scheindialog, wie bei Kant (meine Vernunft spricht mit meinem Gewissen), sondern ein realer Dialog, er hat wirklich stattgefunden, und es ist völlig klar, wer da mit mir spricht.
Die Szenarien, die Kant und Sartori sich vorstellen, wenn ein Mensch sich die ethische Frage stellt: Was soll ich tun? sind in gewisser Hinsicht gleich, weil die Entscheidung muss ich immer noch selbst treffen. Sie sind formal, es gibt keine inhaltliche Antwort nach dem Motto: Du sollst nicht lügen, du sollst nicht stehlen. Was ich letzten Endes tue – ob ich in einer bestimmten Situation lüge oder die Wahrheit sage zum Beispiel – muss ich selber entscheiden, das Gewissen gibt mir nur den Maßstab für meine Entscheidung, nicht den konkreten Inhalt. Die letztendliche Entscheidung bleibt bei mir.
Aber ansonsten sind die Szenarien bei Kant und Sartori völlig verschieden. Bei Kant stellt man sich die Frage: Was würde passieren, wenn alle sich so verhielten? Das Szenario ist also eine Welt von identischen Atomen, die nichts mit einander zu tun haben, außer dass sie gleich sind, weil sie alle von dem gleichen Gesetz bewegt werden. Man handelt also – vorgestellt – in der Anwesenheit aller.
Beim mütterlichen Imperativ von Diana Sartori handelt man nur in Anwesenheit einer: Der Mutter – oder ihr Ersatz, unter Mutter ist hier zwar meistens in der Tat die leibliche Mutter zu verstehen, es kann aber auch eine andere Person sein, die uns »wie eine Mutter« erzogen hat, in dem Sinne, dass sie als erste zwischen uns und der Welt vermittelte, uns also »zur Welt brachte«, indem sie uns sprechen lehrte, uns zeigte, wie wir uns in der Welt bewegen können, wie wir also mit anderen Menschen kommunizieren und uns auseinander setzen können.
Das heißt, nach Sartoris Interpretation des Gewissens ist das Kriterium für eine ethische Entscheidung nicht, was alle tun möchten und auch nicht, dass das, was ich tun möchte, von allen gebilligt werden muss. Ich binde mich in meiner ethischen Entscheidung nicht an die abstrakte Menschheit, sondern an einen konkreten Menschen, meine Mutter. Das heißt: Ich stehe der Welt nicht als autonomes Individuum gegenüber, sondern als eine, die von einer anderen »zur Welt gebracht« wurde, deren Verbindung zur Welt von dieser anderen, meiner Mutter, erst ermöglicht wurde. Der mütterliche Imperativ sagt, dass es für meine Subjektivität und für meine Freiheit eine Vorbedingung ist, eine Mutter zu haben. Und zwar geht es um die reine Tatsache, nicht um die Frage, ob ich eine gute oder eine schlechte Mutter hatte. Es geht nicht darum, was genau unsere Mutter uns beibrachte, sondern darum, dass sie da war: Die erste Beziehung, die uns lehrte, dass wir nicht allein auf der Welt sind, sondern dass wir auf andere angewiesen sind, und wie wir mit ihnen in Verhandlungen treten können.
Sartori glaubt also, wenn wir eine ethische Entscheidung zu treffen haben, dann fragen wir nicht: Was würde passieren, wenn alle so handeln würden wie wir? Sondern wir fragen uns: Könnte ich meine Entscheidung vor meiner Mutter vertreten? Würde ich genauso handeln, wenn sie dabei wäre?
Natürlich ist dieses Modell erst einmal eine Herausforderung für unsere eingefahrenen Denkmuster. Oft wurde in unserer Kultur ja das Erwachsen werden, also ein moralisches Subjekt, als Trennung von der Mutter interpretiert. Das ist symbolisch falsch. Erwachsen werden heißt nicht, unabhängig zu werden, sondern meine Beziehungen zu anderen frei gestalten zu können – ohne dass ich dadurch aber weniger auf Beziehungen angewiesen wäre, und zwar konkrete Beziehungen zu den Menschen, die mir wichtig sind, und mit denen ich zusammen leben möchte. Erwachsen sein heißt, dass ich auch dann ethisch handeln kann, wenn meine Mutter nicht körperlich anwesend ist, weil ich die Beziehung zu ihr, meine Bindung an das Beziehungsgefüge, in dem ich stehe, verinnerlicht habe, weil ich mir die Verhandlungen mit meiner Mutter vorstelle, auch wenn sie selber nicht da ist.
Sartoris Modell hat aus meiner Sicht den großen Vorteil, dass es sich nicht an einer abstrakten Annahme orientiert, sondern an der Realität: Es ist ein sehr unwahrscheinliches und sehr unglaubwürdiges Szenario, dass alle dasselbe machen wie ich. Aber zumindest für mich war das Gefühl, ein »schlechtes Gewissen« zu haben, sehr oft mit der Vorstellung verbunden, irgend jemand (und zwar jemand, den ich mir gut vorstellen kann, den ich kenne, meine Mutter eben zum Beispiel), würde sehen, was ich da tue. So ist es eben auch: Wir sind keine autonomen Individuen, sondern eingebunden in ein Beziehungsgeflecht. Dem sind wir in unseren ethischen Entscheidungen verpflichtet, nicht der abstrakten Menschheit als solcher. Nicht ein Gott (mit seinen Inhalten) und auch nicht die abstrakte Vernunft aller Menschen, sondern dieses konkrete Beziehungsgeflecht, in das meine Mutter mich im Augenblick meiner Geburt hineinbrachte, ist der Bezugspunkt für mein ethisches Handeln. Noch einmal Diana Sartori: »In der Öffnung zur Welt werde ich sicher »alle« antreffen, aber die Begegnung mit ihnen wird nur durch die Vermittlung einer Beziehung stattfinden, die schon die Bedingungen der Beziehung mit den anderen begründet. Ich muss mich nicht mit »allen« auseinandersetzen, sondern vor allen Dingen mit ihr«.
Um Missverständnisse zu vermeiden: Nach dem mütterlichen Imperativ zu handeln heißt nicht, dass ich immer das tun muss, was meine Mutter von mir will. Es heißt nur, dass ich meine Entscheidung mit ihr verhandeln muss – tatsächlich oder in der Vorstellung. Ich muss bereits sein, mir ihre Argumente anzuhören, mich ihrer Kritik zu stellen. Und mich dann entscheiden, wenn nötig auch gegen ihren Rat.
Der mütterliche Imperativ ist nicht in erster Linie psychologisch gemeint – obwohl er den Vorteil hat, mit den psychischen Prozessen im Menschen kompatibel zu sein – aber ich will ihn hier philosophisch-politisch verstanden wissen. Die reale Bindung an die Mutter liefert sozusagen das Modell der Art und Weise, wie wir mit der Welt in Beziehung stehen. Sie sagt: Die Menschen sind nicht autonome Individuen, die verbindungslos nebeneinander stehen, sondern sie sind eingebunden in ein Geflecht von Beziehungen, teils automatisch, wie etwa die Religion, in der sie getauft werden oder die Kultur des Landes, in dem sie als Kinder leben, teilweise aber auch selbst gewählt, so wie ich zum Beispiel gewählt habe, mit an die Feministinnen zu binden, die das Denken der Differenz voranbringen und der patriarchalen Kultur die Glaubwürdigkeit entziehen.
Das Gewissen zeigt uns ein »unbedingtes Solen« an. Dies kann nun aber anders interpretiert werden: Sowohl Gott als auch Vernunft gehen von der Idee aus, wenn ich etwas unbedingt soll, dann heißt das automatisch, dass auch alle anderen dasselbe unbedingt sollen. Sartoris Modell dagegen ist offener. Verschiedene Mütter stellen verschiedene ethische Regeln für ihre Kinder auf. Meine Mutter zum Beispiel achtete sehr auf Ehrlichkeit. Das heißt, bevor ich einmal eine Unwahrheit sage, muss ich sehr genau mit mir und ihr verhandeln, ob das wirklich okay ist. Die Mütter einiger meine Freundinnen dagegen achteten sehr auf Sozialverträglichkeit, also darauf, niemanden vor den Kopf zu stoßen. Könnte es nicht auch in moralischen Dingen so sein, dass zwar ich etwas unbedingt soll, dass das aber nicht automatisch auch für alle anderen gilt? Damit wäre nämlich das Problem des Totalitarismus gelöst – wir alle haben unterschiedliche Mütter. Der mütterliche Imperativ gibt uns zwar Gewissheit, einen Maßstab bei der Überlegung: Was soll ich tun? Aber seine Gültigkeit hängt nicht davon ab, ob alle anderen dasselbe tun wie wir.
Auch im Modell von Sartori dient der moralische Imperativ dazu, die Freiheit gegenüber Staat und Gesetz zu gewährleisten. Sie schreibt: »Nebenbei bemerkt glaube ich, dass ich, wenn auch nicht völlig bewusst, dieses Gebot meiner Mutter schon immer als eine Art Führung gesehen habe, mit deren Hilfe ich mich in einer potentiell feindlichen Ordnung der Welt zurechtfinden kann. Mein Gebot sieht ab von der Bindung an das soziale Urteil darüber, was richtig ist, und auch von dem, was das Gesetz als solches sanktioniert, indem es sich als vorrangige Bindung an eine Autorität darstellt, die der Autorität der Gesellschaft oder des Gesetzes vorausgeht«.
Das heißt sowohl Kant als auch Sartori lösen die Frage nach dem politischen Grundproblem, wie sich der oder die einzelne gegenüber der Gesellschaft auf sein Gewissen berufen kann, so, dass ihr Imperativ die Freiheit ermöglicht, sich dem entgegenzusetzen. Bei Kant jedoch ist die Basis dafür die reine Vernunft, also das autonome Individuum, bei Sartori ist die Basis jedoch die Bindung an eine Autorität – die Mutter. Das verhindert Größenwahn und Überheblichkeit.
Das Modell lässt also die Möglichkeit zu, dass es in Staat und Gesellschaft nicht nur ein Gewissen und eine Moral gibt, sondern mehrere. Es geht nicht von der Gleichheit der Menschen aus, die ja nur ein abstraktes Modell ist, das in der Realität niemals vorkommt, sondern von der Unterschiedlichkeit der Menschen. Diese Unterschiedlichkeit ist eine Tatsache, die mit der Globalisierung immer deutlicher vor Augen tritt, die aber das weibliche Denken schon immer kannte. Es ist daher meines Erachtens auch kein Zufall, dass Frauen, Philosophinnen diese Ideen, ein solches Denken der Differenz, entwickelt haben. Denn die Frauen wussten schon immer und zwangsläufig, dass es neben dem, was in unserer Gesellschaft im Patriarchat als normal galt, als die Norm (der weiße Mann) noch etwas anderes gab, nämlich die Frau. Die Geschlechterdifferenz ist das grundlegende Paradigma dafür, dass es mehr als eine Kultur gibt – mindestens nämlich schon einmal zwei, die männliche und die weibliche, und mit einer enger zusammen rückenden Welt mit viele Göttern, Kulturen und Religionen noch viel mehr als nur zwei.
Seit den Anschlägen vom 11. September macht das Schlagwort vom »Kampf der Kulturen« die Runde. In der Tat ist das die große Herausforderung unserer Zeit, wie wir mit verschiedenen Kulturen umgehen, ohne dabei entweder totalitär zu werden – also eine Position mit Gewalt durchsetzen – oder aber in die Beliebigkeit abrutschen, gar keine Werte mehr haben, nach dem Motto: Eins ist so gut wie das andere. Leider haben unsere politischen Meinungsführer keine Vorstellung davon, wie mit dieser kulturellen Differenz umzugehen ist. Ihr Problem ist, dass sie das Modell von Kant für selbstverständlich halten. In Kants Modell aber gibt keine Differenz der Kulturen und damit auch keine unterschiedlichen Gewissen und Moralen. Denn sein Imperativ gilt für alle vernunftbegabten Wesen, er ist eben kategorisch. Wer nicht vernünftig handelt, sagt Kant, der ist kein Mensch. Nun sind wir aber mit vielen Kulturen Konfrontiert, die – nach unseren Maßstäben – nicht vernünftig handeln. Sartoris Modell bietet uns, anders als das von Kant, eine Möglichkeit, mit ihnen zu kommunizieren, mit ihnen auch zu streiten, aber ohne ihnen das Menschsein abzusprechen.
Damit bietet der mütterliche Imperativ meiner Meinung nach eine bessere Möglichkeit, mit der Frage umzugehen: Wie kann ich entscheiden, ob jemand seinem Gewissen folgt oder einfach nur ein Verbrecher ist? Der Kant’sche Imperativ sagt: Ethisches Handeln ist gut, wenn es verallgemeinerbar ist. Das heißt aber: wir können in Menschen, deren Handeln nicht verallgemeinerbar ist, nur Verbrecher sehen.
Der mütterliche Imperativ dagegen sagt: Ethisches Handeln ist nur dann gut, wenn es verhandelt wurde. Das heißt: Auch Menschen, die etwas tun, was nicht verallgemeinerbar ist, kann die Frage gestellt werden: Habt ihr versucht, das zu vermitteln, zu verhandeln? Habt Ihr alles getan, um euren Standpunkt klar zu machen? Habt Ihr mit euren Müttern, mit euren Familien, mit euren Freunden darüber diskutiert? Oder habt ihr das nur ganz allein in eurer Phantasie, in geheimen Zirkeln ausgeklüngelt?
Eine Gewissensentscheidung ist immer eine Entscheidung des/der Einzelnen. Aber in dem Moment, wo es die Allgemeinheit betrifft, ist man auf Vermittlung angewiesen. Das Gewissen ist nicht nur eine Sache des Einzelnen, insofern haben Sie mit dem Titel Ihrer Veranstaltung ganz recht, aber auch nicht eine der »abstrakten Menschheit« schlechthin, sondern es entsteht immer in Beziehungsgeflechten ganz konkreter Menschen.
Das heißt aber auch: Die tollsten Menschenrechte sind unethisch, wenn sie eingeführt werden, ohne dass darüber verhandelt wurde. Es gibt nichts absolut richtiges und falsches. Sondern gut ist nur das, was Ergebnis einer Vermittlung ist. Denn das macht den Menschen aus: Nicht, dass er Vernunft hat, sondern dass er sprechen kann, dass er sich anderen mitteilt, mit ihnen in Austausch tritt.
Aber: Damit sind nicht schalen Kompromisse gemeint, an die wir heute meistens denken, wenn das Wort »Vermittlungen« auftaucht. Da denken wir an diese Männer in Anzügen aus dem Fernsehen, die vorformulierte Reden austauschen, die sich gar nicht gegenseitig wirklich zuhören, die mehr an Publicity interessiert sind, als am wirklichen Gespräch. Um diesen Unterschied zu verstehen, kann man sich einfach an die Verhandlungen mit der eigenen Mutter erinnern – oder mit ihrem Ersatz. Da ging es nicht um Diplomatie, sondern da flogen manchmal die Fetzen. Bei echten Verhandlungen gibt es keinen objektiven Schiedsrichter, es kommt nicht auf Einschaltquoten oder Mehrheitsverhältnisse an. Und, noch einmal: Ich kann mit der Mutter verhandeln, und mich dann anders entscheiden, als ihr es lieb wäre. Trotzdem ist dies eine ethische Entscheidung. Denn sie war daran beteiligt.
Ein reines Gewissen zu haben, das bedeutet: Ich habe nicht allein für mich entschieden, was gut und richtig ist, was also die Stimme des Gewissens sagt, ich bin auch nicht einfach irgendwelchen Gurus nachgefolgt, sondern ich habe die betreffende Frage offen und ehrlich überlegt und diskutiert – nicht mit allen Menschen, sondern mit meiner Mutter, mit denen, die mir wichtig sind und mit denen ich zusammen leben möchte. Ich habe eine wirkliche Auseinandersetzung geführt, und mir dabei eine Meinung gebildet und eine Entscheidung getroffen. Nicht der Inhalt – die Übereinstimmung mit Gottes Geboten – und auch nicht die Verallgemeinerbarkeit – dass es »vernünftig ist – macht sie zu einer ethischen Entscheidung, sondern der Prozess, wie sie zustande gekommen ist. Dass sie mit der Mutter (oder ihrem Ersatz) verhandelt wurde.
Dieses Kriterium kann ich auch in der Debatte mit Menschen anderer Kulturen anwenden. Denn Sartoris Modell knüpft an die allgemeine Lebenserfahrung aller Menschen anknüpft, denn jeder Mensch ist von einer Mutter zur Welt gebracht worden, die ihm die Muttersprache gab und damit die Möglichkeit, zu kommunizieren, zu verhandeln, nach Vermittlungen zu suchen – kurz: ethisch zu handeln.
Vortrag am 10. Dezember 2002 auf Einladung des Eltern-Kind-Forums in Vaduz/Liechtenstein