Antje Schrupp im Netz

Vortrag: Was bedeutet Gewissen in Religion, Staat und Gesellschaft?

Interview im »Liechtensteiner Vaterland«

Das schlechte Gewissen ist ein Ausdruck, den man viel im Alltag hört. Sogar Phil Collins sagte kürzlich in einem Interview, der grosse Erfolg mache ihm ein schlechtes Gewissen. Wird der Ausdruck in Ihren Augen als Theologin manchmal gar missbraucht?

Antje Schrupp: Ich würde eher sagen, es wird zu selten nachgefragt, was die Leute sagen wollen, wenn sie den Ausdruck »Gewissen« brauchen. Meint Phil Collins, dass seine Musik nicht gut genug ist? Oder dass er zuviel Geld verdient? Oder dass die Musikindustrie schlecht organisiert ist? Wenn von »Gewissen« die Rede ist, bedeutet das meistens, irgend etwas ist nicht so, wie es sein sollte. Und das ist ein interessanter Einstieg in eine Diskussion darüber, wie etwas besser werden könnte.

Wie lautet die eigentliche Definition von Gewissen?

Antje Schrupp: Ich bin keine Freundin von Definitionen. Das Gewissen ist eine Erfahrung, ein Gefühl, das fast alle Menschen haben. Es hat etwas mit dem Eindruck zu tun, dass ein bestimmtes Handeln richtig oder falsch ist. Die spannende Frage ist, wie wir diese Erfahrung interpretieren, wie wir kreativ damit umgehen. Natürlich haben sich schon Generationen von Philosophen daran versucht, Gewissen zu definieren. Mich interessiert dabei nicht so sehr, wer von ihnen recht hat und wer nicht, als vielmehr zu fragen: Mit welcher Erklärung kann ich etwas anfangen im Alltag, was hilft mir, die Welt und meine Rolle in der Welt zu verstehen? Diese Frage muss sich jede und jeder selbst stellen und für sich beantworten.

Von Comics her kennt man das Bild von den Engelchen und den Teufelchen, die im Kopf eines Menschen regieren und entscheiden. Ist dies eine blosse Verbildlichung oder Humbug?

Antje Schrupp: Richtig daran ist, dass sich das Gewissen meistens als inneres Zwiegespräch darstellt: Auf der einen Seite unsere Bequemlichkeit oder unser Egoismus, und auf der anderen Seite die so genannte »Stimme des Gewissens«, die uns sagt, welches Verhalten ethisch richtig wäre. Die Frage, woher diese Stimme kommt oder wem sie gehört ist sehr spannend. Engelchen und Teufelchen, also gut und böse, ist eine mögliche Antwort. Andere sagen, es ist die Stimme Gottes oder die Stimme der Vernunft, die sich da zu Wort meldet. Ich persönlich finde einen Vorschlag der italienischen Philosophin Diana Sartori spannend, die das Gewissen einmal als die Stimme der Mutter interpretiert hat – aber nicht nur in einem psychologischen Sinn, sondern in einem philosophisch-politischen: Denn es ist unsere Mutter oder ihr Ersatz gewesen, die uns »zur Welt gebracht« hat, also als erste zwischen uns und der Welt, in der wir leben, vermittelt hat. Und diese Vermittlung ist meiner Meinung nach eine sehr wichtige Funktion des Gewissens: Es erinnert uns ständig daran, dass wir nicht allein auf der Welt sind, sondern in einem unauflösbaren Beziehungsgeflecht mit anderen Menschen stehen.

Wie wichtig ist es moralisch und ethisch gesehen, ein Gewissen zu haben?

Antje Schrupp: So, wie ich das Gewissen eben interpretiert habe, ist es lebensnotwendig, eines zu haben. Nur über die Beziehungen zu anderen Menschen kann ich überhaupt etwas Sinnvolles in der Welt tun. Das Gewissen ermöglicht mir, meine Beziehung zu anderen aktiv zu gestalten, also meine eigenen Wünsche und Interessen mit den anderen zu verhandeln. Damit ist es eine Voraussetzung für so etwas wie Freiheit. Ohne Gewissen bin ich allem ausgeliefert: den Gesetzen, den Moden, den gesellschaftlichen Normen.

Hat jeder Mensch ein Gewissen oder kann es abgehärtet oder gar abgeschaltet werden?

Antje Schrupp: Ich glaube schon, dass jeder Mensch ein Gewissen hat, schließlich hatte ja auch jeder eine Mutter. Aber man kann schon versuchen, es gewissermaßen abzuschalten, und zwar, indem man es für bedeutungslos erklärt. In unserer Kultur gibt es einige Tendenzen in diese Richtung. Es wird uns eingeredet, dass wir unabhängig sein könnten und alles im Griff haben. Die Bedeutung der mütterlichen Autorität wird häufig negativ bewertet, was dazu geführt hat, dass manche Mütter heute sehr unsicher sind, wie sie ihren Kindern gegenüber auftreten sollen. Gerade Söhne wachsen heute manchmal in dem Glauben auf, sie hätten auf alles Mögliche einen Anspruch, ohne dafür etwas tun zu müssen. Das Problem ist meiner Meinung nach aber eher ein kulturelles als ein individuelles. Die meisten Mütter kriegen es nach wie vor ganz gut hin, ihren Kindern ein Gewissen zu vermitteln.

Hängt das Gewissen mit dem Selbstbewusstsein zusammen?

Antje Schrupp: Auf jeden Fall. Wer wir selbst sind, das leitet sich aus dem ab, was wir tun, denn unser Handeln ist es, mit dem wir uns aktiv von anderen Menschen unterscheiden. Und wenn unser Gewissen der Maßstab ist, an dem wir uns dabei orientieren, ist es auch die Vorbedingung dafür, unsere Identität zu finden.

Kann es einen Menschen psychisch krank machen?

Antje Schrupp: Nur wenn man das Gewissen als Zwang versteht, als starres Regelwerk, das mir bestimmte Werte vorschreibt, die ich selbst gar nicht teile. Aber ich verstehe das Gewissen nicht so.

Wie entsteht ein Gewissen? Ist die Entstehung grösstenteils der Erziehung zuzuschreiben?

Antje Schrupp: Ich glaube schon. Aber eben nicht in dem Sinne, dass die Erziehung bestimmte Inhalte vermittelt, etwa: du sollst nicht lügen, du sollst nicht stehlen, du sollst vor der Ehe keinen Sex haben und so weiter. Schließlich vermitteln verschiedene Mütter ganz unterschiedliche Werte, etwa eine christliche und eine muslimische Mutter, eine fortschrittliche oder eine konservative. Aber etwas ist bei allen gleich, auch bei problematischen oder »schlechten« Müttern: In der Beziehung ihr haben wir gelernt, dass wir auf andere angewiesen sind, dass wir etwas tun können, um unsere Interessen durchzusetzen, was uns das manchmal gelingt und manchmal nicht, dass wir aber auf jeden Fall die anderen einkalkulieren müssen. Wir haben gelernt, dass wir Ansprüche an andere stellen können, dass andere aber auch Ansprüche an uns stellen. Im Alltag vergessen wir das manchmal, glauben, wir hätten auf dieses und jenes einen Rechtsanspruch oder könnten andere dazu zwingen, etwas mit uns zu tun zu haben. Aber das stimmt nicht. Wir sind eben keine unabhängigen Individuen, sondern darauf angewiesen, in einem Beziehungsgeflecht zu stehen. Daran erinnert uns das Gewissen.

Was macht ein reines Gewissen aus?

Antje Schrupp: Ein reines Gewissen habe ich, wenn ich das, was ich tue, vor den Menschen verantworten und vertreten kann, die mir wichtig sind und die mir etwas bedeuten. Nicht nur vor meiner Mutter, sondern auch vor anderen, die für mich Autoritäten sind, und vor denen, mit denen ich zusammen leben möchte. Dahinter steckt eben die Idee, dass ich ganz allein nicht wissen kann, was richtig und was falsch ist. Das ist immer Ergebnis eines kulturellen Diskussionsprozesses. Ein schlechtes Gewissen habe ich deshalb dann, wenn ich solche Diskussionen nicht offen und engagiert genug geführt habe – etwa aus Angst vor Konflikten oder davor, mich unbeliebt zu machen. Oder weil ich das Risiko nicht eingehen wollte, meine eigene Meinung vielleicht ändern zu müssen.


Interview im »Liechtensteiner Vaterland«, Fragen: Bettina Frick (4.12.2002)