Antje Schrupp im Netz

Der Gottesdienst in der Urkirche

Die frühen christlichen Gemeinden kennen keine einheitliche Liturgie und Gottesdienstpraxis. Ihre Treffen finden in Privathäusern, Synagogen oder anderen Versammlungsräumen statt und haben bis ins dritte Jahrhundert hinein meist keinen kultischen Charakter. Im Mittelpunkt stehen vielmehr die Auslegung der Tora, die Verbreitung von Jesu Lehre, das gemeinsame Essen, prophetische Rede oder spontane Eingebungen verschiedener Gemeindemitglieder sowie gegebenenfalls der Austausch mit durchreisenden Wanderpredigern.

Tempel und Synagoge

Im Judentum gibt es gemäß der Tora nur einen einzigen Ort, an dem eine priesterliche Kulthandlung (ein Ritual oder ein Opfer) ausgeführt werden kann, nämlich den Tempel in Jerusalem (Dtn 12). Diese örtliche Beschränkung des religiösen Kultes ist in der Antike einzigartig – alle anderen Religionen opfern ihren Gottheiten an verschiedenen Orten und errichten ihnen zahlreiche Tempel. Im Judentum hingegen haben religiöse Zusammenkünfte außerhalb des Tempels, etwa in den Synagogen, keinen kultischen Charakter, sondern dienen der Lehre, der Diskussion über die Auslegung der Tora sowie der religiösen Erbauung.

Auch für große Teile der frühen Jesusbewegung ist der Tempel in Jerusalem der zentrale Kultort (Lk 24, 52–53, Apg 2, 46, 3,1). Dort im Tempel, und ebenso in den Synagogen verschiedener Städte, predigen sie Jesu Lehre vom anbrechenden Reich Gottes (Apg 9,20, 13,5 u.v.a.). Mancherorts werden sie deshalb kritisiert und aus den Synagogen ausgeschlossen (Apg 4, 1–21, Joh 9,22, 16,2 u.a.). Einige Synagogen schließen sich aber vielleicht auch ihrer Bewegung an, oder es werden entsprechende neue Synagogen gegründet. So ist etwa der Jakobusbrief an eine christliche Synagoge gerichtet (Jak 2,2).

Hausgemeinden und Gastmähler

Daneben versammeln sich die Anhängerinnen und Anhänger von Jesu Lehre an anderen Orten, zum Beispiel in Privathäusern. Es sind jedoch auch Versammlungsorte wie Plätze im Freien oder, je nach materiellen Möglichkeiten, eigene Gebäude denkbar – die älteste bekannte Kirche, die aus dem 3. Jahrhundert stammt, war ein umgebautes Wohnhaus. Je nach Gemeindegröße variiert die Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, jedoch genügen »zwei oder drei«, um dem Treffen einen religiösen Charakter zu geben (Mt 18,20). In der Bibel gibt es einige Hinweise darauf, dass solche Versammlungen (wohl, um die Einhaltung des Sabbatgebotes zu ermöglichen) am Sonntag stattfinden (Apg 20,7), im 2. Jahrhundert ist dieser Tag in einer Gottesdienstordnung festgelegt. Bei Bedarf trifft man sich aber sicherlich auch an anderen Wochentagen, zum Beispiel, wenn ein Wanderapostel zu Besuch ist.

Eine wichtige Rolle bei den Zusammenkünften spielt das gemeinsame Essen und Trinken: Man versammelte sich mit dem als geistig anwesend gedachten, auferstandenen Christus und aß gemeinsam eine sättigende Mahlzeit. Dabei blieben Konflikte zwischen reicheren und ärmeren Gemeindegliedern und Streit über unterschiedlichen theologischen Interpretationen nicht aus (1 Kor 11,12–34, 1 Kor 33–34). Aufgenommen ist hier die hellenistische Kultur des Symposions, des Gastmahls, bei der sich an ein gemeinsames Essen philosophische Gespräche anschließen. Auch bei den christlichen Zusammenkünften bilden Diskussionen über Glaubensfragen den Schwerpunkt, ergänzt von Gebeten, Lesungen aus der Tora und den Psalmen, prophetischer Rede, Zungenrede, Visionen, Fürbitten, Liedern, Danksagungen und anderen Elementen. Dass Frauen an solchen Versammlungen teilnehmen, ist in der römischen Antike nicht ungewöhnlich. Allerdings gibt es auch Symposien, bei denen sich die männlichen Gäste im Anschluss an das Essen mit »Hetären«, Gefährtinnen, vergnügten. Das später in den Korintherbrief eingesetzte Redeverbot für Frauen in der Gemeindeversammlung (1. Kor 11,5, 14,34) könnte dazu dienen, entsprechende Kritik oder Vorwürfe der Unmoral abzuwehren.

Jesus als »Kultfigur«

Bei den frühen urchristlichen Gottesdiensten war Jesus als Auferstandener als geistlich anwesend gedacht. Jedoch deutet sich bereits in einigen neutestamentlichen Texten eine inhaltliche Konzentration auf die Person Jesu an. Dies erklärt, warum im Laufe der ersten beiden Jahrhunderte die Bedeutung des jüdischen Tempelkults in den Hintergrund tritt. Jedoch wird der christliche Gottesdienst erst ab dem dritten Jahrhundert überall als eigene kultische Handlung verstanden. Die Gemeindeleiter gelten jetzt als Priester, die Rituale ausführen (Eucharistie), und die Gottesdienste haben feste Liturgien, mit denen Jesu Tod als letztgültiges, erlösendes »Opfer« kultische Verehrung findet.

Zitatkasten

Wenn ihr zusammenkommt, so hat ein jeder einen Psalm, er hat eine Lehre, er hat eine Offenbarung, er hat eine Zungenrede, er hat eine Auslegung. Lasst es alles geschehen zur Erbauung. Wenn jemand in Zungen redet, so seien es zwei oder höchstens drei und einer nach dem andern; und einer lege es aus. Auch von den Propheten lasst zwei oder drei reden, und die anderen lasst darüber urteilen. Ihr könnt alle prophetisch reden, doch einer nach dem andern, damit alle lernen und alle ermahnt werden. (1. Kor 14, 26–28, 29, 31).


In: Spektrum – Auf den Spuren der Bibel, Wissen Media Verlag, Gütersloh/München 2004.