Antje Schrupp im Netz

Warum das Patriarchat zu Ende ist

Ich möchte euch zwei Geschichten erzählen, auf die ich kürzlich bei meinen Recherchen über die US-amerikanische Feministin Victoria Woodhull gestoßen bin, und die mich beeindruckt haben. Es sind Geschichten aus dem Patriarchat. Geschichte Nummer 1:

1868 wandert die 22-jährige Hester Vaughn aus England nach Amerika aus. Siewill dort ihren Verlobten heiraten, aber es stellt sich heraus, dass der inzwischen schon eine andere geheiratet hat. Hester schlägt sich als Scheuermarkt durch und findet schließlich als Milchmagd eine Anstellung auf einer Farm. Eines nachts wird sie von dem Farmer vergewaltigt. Als ihre Schwangerschaft sichtbar wird, gibt der Mann ihr 40 Dollar und schickt sie weg. Sie geht nach Philadelphia, wo sie als Näherin arbeitet und in Hauseingängen schläft, erst kurz vor der Niederkunft mietet sie sich von ihrem letzten Geld eine unbeheizte Dachstube. Sie hat seit drei Tagen nichts gegessen. In der Nacht bekommt Hester starke Wehen. Sie ruft um Hilfe, aber draußen tobt ein Schneesturm, niemand hört sie. Erst am nächsten Tag hört die Vermieterin das schwache Rufen. Als sie die Tür öffnet, liegt Hester am Fußboden in einer Blutlache, ihr totes Baby neben ihr. Eine Stunde später ist die Polizei da. Hester Vaughn wird ins Gefängnis gebracht, und wegen Kindsmordes zum Tode verurteilt.

Geschichte Nummer 2: Im Frühjahr 1870 wollen die beiden Schwestern Victoria Woodhull und Tennessee Claflin bei Delmonico’s, einem noblen New Yorker Restaurant, zu Abend essen. Sie bestellten Tomatensuppe für zwei. Es gibt damals aber ein ungeschriebenes Gesetz, wonach Frauen abends nicht ohne männliche Begleitung in Restaurants essen gehen dürfen. Der Kellner, unsicher, was er machen soll, ruft den Besitzer. Lorenzo Delmonico geht an den Tisch der beiden Frauen und flüstert ihnen zu: »Es hat wohl ein Irrtum vorgelegen, als man Ihnen einen Tisch gegeben hat. Wir sind davon ausgegangen, dass sich noch ein Herr zu ihnen gesellen würde. Tun Sie doch bitte so, als würden Sie sich mit mir unterhalten, und ich bringe Sie zur Tür. Dann sieht es so aus, als hätten Sie nur mit mir sprechen wollen, und wir erregen kein Aufsehen«.

Seit einiger Zeit sprechen Frauen vom Ende des Patriarchats. Angefangen haben damit 1996 italienische Feministinnen aus Mailand und Verona, aber inzwischen hat sich dieser Ausdruck immer mehr auch in Deutschland verbreitet. Dennoch reagieren viele Frauen, wenn sie diesen Ausdruck zum ersten Mal hören, skeptisch. Was ist damit gemeint? Gibt es nicht immer noch Benachteiligung, Diskriminierung, Ungerechtigkeit gegenüber Frauen?

Luisa Muraro, eine italienische Philosophin, hat geschrieben, dass es nicht darum geht, »das Ende des Patriarchats zu diskutieren oder zu beweisen, sondern diesem Gedanken einfach einen Platz einzuräumen«. Was fällt mir ein, wenn wir solche Geschichten wie die von Hester Vaugh oder Victoria Woodhull höre und gleichzeitig versuche, dem Gedanken an das Ende des Patriarchats einen Platz einzuräumen?

Als erstes fällt mir ein, dass dieZeiten sich geändert haben. Heute, bei uns oder auch in den USA, würde Hester Vaughn nicht mehr zum Tode verurteilt und es ist längst völlig selbstverständlich, dass Frauen ohne männliche Begleitung im Restaurant bedient werden. Luisa Muraro hat die Formulierung gewählt: »auf das ersparte Leid zu achten«. Das finde ich sehr wichtig – sich bewusst zu machen, wie viel Leid uns und anderen Frauen erspart bleibt, im Vergleich zu anderen Frauen – die früher lebten, oder die heute woanders, in anderen Umständen, leben.

Natürlich gibt es auch heute noch Geschichten, die grausam oder diskriminierend sind. Es sind, immer noch, schlimme Zeiten. Warum sage ich dennoch, das Patriarchat ist zu Ende? Ist es nicht einfach so, dass es zwar in einigen Ländern weniger Frauendiskriminierung gibt, aber das Problem grundsätzlich bestehen bleibt? Ich meine, Nein. Um zu erklären warum, möchte ich erzählen, wie diese beiden Geschichten weitergingen:

Geschichte Nummer 1: Im Gefängnis wird Hester Vaughn von einer Ärztin untersucht, Susan A. Smith. Ihr erzählt sie ihre Geschichte: Susan Smith geht damit zu Anna Dickinson, einer berühmten Rednerin für Frauenrechte, die in Philadelphia wohnt. Anna Dickinson fährt nach New York, wo Elizabeth Cady Stanton und Susan B. Anthony die Frauenzeitung »The Revolution« herausgeben. Sie organisieren eine Protestveranstaltung, bei der Anna Dickinson mit ihrem bekannten Redetalent selbst männliche Reporter zu Tränen rührt, es erscheinen kritische Berichte über das Todesurteil in verschiedenen Zeitungen. Elizabeth Cady Stanton reicht ein Gnadengesuch beim Gouverneur von Philadelphia ein. Ein Jahr lang schreibt »The Revolution« regelmäßig über den Fall, überall im Land machen Frauen Lobbyarbeit, nutzen persönlichen und familiären Einfluss, um einflußreichen Politikern und Journalisten klarzumachen, dass dieses Urteil Unrecht ist. Ein Jahr später wird Hester Vaughn freigelassen.

Geschichte Nummer 2 geht so aus: Victoria Woodhull sagt zu dem Restaurantbesitzer Delmonico: »Kein Aufsehen erregen? Was soll das heißen«. »Ich kann Sie hier nicht ohne einen Mann essen lassen. Das würde einen schlimmen Präzendenzfall schaffen«, antwortet Delmonico nervös. »Wir möchten Sie nicht in Verlegenheit bringen«, sagt Tennessee, steht auf, verlässt das Restaurant, und kommt im nächsten Moment mit ihrem Kutscher in seiner Livree wieder zurück, der sich, mit sichtlichem Unbehagen, mit an den Tisch setzten muss. »Und nun, Kellner«, sagt Victoria, »bringen Sie uns Tomatensuppe für drei«.

»Die Liebe der Frauen zur Freiheit hat die Welt verändert« – mit diesem Satz beginnt unsere Flugschrift »Liebe zur Freiheit, Hunger nach Sinn. Flugschrift über Weiberwirtschaft und den Anfang der Politik«, die ich vor knapp zwei Jahren gemeinsam mit Ulrike Wagener, Dorothee Markert und Andrea Günter veröffentlicht habe.

Die Liebe der Frauen zur Freiheit hat die Welt verändert. Es nicht die Einsicht der Männer gewesen, es waren nicht die Erfordernisse des Kapitalismus oder der Fortschritt der Demokratie, die das Ende des Patriarchats herbeigeführt haben, sondern die Liebe der Frauen zur Freiheit. Die Italienerinnen schreiben in einer ihrer Flugschriften, dem roten Sottosopra, das Patriarchat ist zu Ende, weil die Frauen ihm den Kredit, die Glaubwürdigkeit, entzogen haben.

Das heißt, das Ende des Patriarchats hat zwar eine historische Dimension – in den letzten hundert, den letzten dreißig Jahren hat sich vieles verändert – aber das ist nicht alles. Es gibt kein festes Datum, keinen bestimmten Zeitpunkt. Denn wenn das Patriarchat zu Ende ist, weil Frauen ihm die Glaubwürdigkeit entziehen, dann ist es schon immer zu Ende: Es war zu Ende, als Tennessee Claflin und Victoria Woodhull einfach den Kutscher riefen und so das Patriarchat lächerlich machten. Es war zu Ende, als Frauen sich für die Freilassung von Hester Vaughn einsetzten. Es war zu Ende, als Jane Austen Bücher über weibliche Autorität schrieb, als Teresa von Avila neue Regeln für Frauenklöster erfand. Das Patriarchat ist dann zu Ende, wenn Frauen nicht mehr daran glauben. Es hängt nicht von den Männern, den Verhältnissen, den Gesetzen ab. Sondern davon, dass Frauen sich nicht am Maßstab des Patriarchats orientieren, dass sie ihm andere Maßstäbe entgegensetzten. Frauen, die sich an ihrem eigenen Begehren orientierten und es in den Austausch mit anderen Frauen und mit der Welt gebracht haben. Deshalb ist es schön und passend, dass wir hier eine Ausstellung haben – Frauen gestalten Frauengestalten. Die Erinnerung an Frauen vor uns, das Wissen darum, dass es weibliche Autorität, eine weibliche Ideengeschichte gibt, ist einer der wichtigsten Gründe für das Ende des Patriarchats.

Andrea Günter hat das in ihrem neuen Buch »Die weibliche Seite der Politik« so ausgedrückt, dass zum Gedanken an das Ende des Patriarchats ein zweiter, genauso wichtiger Gedanke hinzutreten muss, nämlich der Beginn von etwas Neuem. Die Frauenbewegung hat etwas Neues in die Welt gesetzt, und zwar die Erkenntnis, dass es die Beziehungen unter Frauen sind, die weibliche Freiheit stiften. Wenn etwas Neues entsteht, dann kann das Alte zu Ende sein, ohne dass es einen Kampf und Zerstörung geben muss. Oder, wie Victoria Woodhull, die amerikanische Feministin, von der ich vorhin sprach, sagte: Es ist wie, wenn man eine neue Zugtechnik erfindet. Eine Weile fahren beide Züge, der alte und der neue, gleichzeitig, nebeneinander her, zweigleisig. Irgendwann jedoch sind die alten Gleise überflüssig und werden verschwinden. Das Ende des Patriarchats ist nicht in erster Linie die Zerstörung von etwas altem, sondern es ist vor allem der Beginn von etwas Neuem.

Was ist dieses Neue? Es ist die Praxis der Beziehungen unter Frauen, eine Erfindung der Frauenbewegung der siebziger Jahre, die sich aber auch früher in der Geschichte schon auffinden lässt. Wie können Frauen voneinander lernen? Wie gehen sie mit der Ungleichheit unter Frauen um, damit, dass manche Frauen ein »Mehr« haben? Hier hat es eine Entwicklung gegeben. Anfangs übernahmen viele Frauen das Bild der männlich geprägten sozialen Bewegungen, das der Solidarität. Man konnte eine Weile den Eindruck haben, alle Frauen hätten die gleichen Interessen und Wünsche. Man dachte, Feminismus bedeutet, ein gemeinsames »Wir« aller Frauen zu finden, und dann nach dem Motto »Frauen gemeinsam sind stark« diesem Frauen-Wir mit Forderungen an die Gesellschaft und an die Männer Einfluss verschaffen. Daraus entstanden dann all die Gleichstellungsgesetze, Quotenregelungen und Frauenförderpläne. Vielen Frauen war dies aber nicht genug, oder es war nicht das, was sie wollten. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass diese »Politik der Forderungen« immer mehr Frauen langweilt, dass wir so Gefahr laufen, uns in eine neue symbolische Abhängigkeit zu begeben – in die von »Vater Staat« nämlich, der uns erst gönnerhaft einige Frauenprojekte finanziert hat, das Geld aber ganz schnell wieder zusammenstreicht, wenn er selber knapp bei Kasse ist.

Eine Zeitlang schien es deshalb so, als ob die Frauenbewegung am Ende sei – auf der einen Seite waren diejenigen, die jetzt sozusagen Berufsfeministinnen waren und in Behörden oder anderen Institutionen für Frauenförderung und Gleichstellung sorgen sollten. Sie empfanden ihre Arbeit zunehmend als kräftezehrend, langweilig, deprimierend. Außerdem war nicht klar, für wen sie arbeiten: Für die Frauen oder für die Institutionen – ich denke, wir müssten uns klar machen, dass sie natürlich für die Institution arbeiten, die sie bezahlt, was ja nicht schlecht sein muss, zeigt es doch, dass auch die Institutionen dazulernen können. Das ist schön, aber kein Grund, keine Voraussetzung für weibliche Freiheit. Ein weiterer Grund dafür, dass oft vom Ende der Frauenbewegung gesprochen wird, ist natürlich, dass viele Frauen sich vom Feminismus abwandten, aus den verschiedensten Gründen.

Seit einigen Jahren ändert sich das jedoch, jedenfalls ist das meine Beobachtung. Frauen haben wieder Lust an feministischer Theorie. Und diese feministische Theorie wird nicht mehr so ideologisch ausgefochten, wie ich es aus den achtziger Jahren noch in Erinnerung habe, wo Feministin sein, hieß, ganz bestimmte inhaltliche Positionen zu beziehen, etwa zu Themen wie Abtreibung, Vergewaltigung, Pornografie und so weiter. Das Argument: »Wenn du diesem oder jenem nicht zustimmst, dann bist du keine Feministin« habe ich früher oft gehört, in letzter Zeit aber kaum noch. Das, was ich früher oft als eine hohle Phrase empfunden habe, wenn nämlich gesagt wurde, dass es auf die Verschiedenheit ankommt und dass die Verschiedenheit der Frauen fruchtbar ist, das ist inzwischen Praxis geworden. Natürlich nicht überall. Aber doch an immer mehr Orten. Auch das ist ein Anzeichen dafür, dass das Patriarchat zu Ende ist. Denn nur im Patriarchat wurden die Frauen alle über einen Kamm geschert – und dabei spielt es nur eine untergeordnete Rolle, ob das durch eine biologistische Festlegung von dem, was angeblich natürlicherweise weiblich ist, geschieht, oder dadurch, dass einige Wortführerinnen festlegen, was angeblich das Interesse der Frauen ist.

Frauen haben keine gemeinsamen Interessen – außer man betrachtet sie durch die Brille des Patriarchats, als Gegenüber zu den Männern. Wenn wir diese Perspektive weglassen, dann sind Frauen so unterschiedlich, wie Menschen nun einmal sind: Alt, jung, reich, arm, krank, gesund, politisch rechts oder links. Was ist aber eine Frauenbewegung, was ist eine feministische Theorie, wenn es unter den Frauen keine Übereinstimmung in inhaltlichen Fragen gibt?

Die Italienerinnen haben hierzu theoretische Überlegungen angestellt, die uns helfen, diese Situation zu verstehen. Ein erster wichtiger Punkt dabei ist: Von sich selbst ausgehen. Genau hinschauen, was mir passiert, was ich will, was ich tue, wo ich bin. Und auf meine inneren Bedürfnisse, auf mein Begehren hören. Mir die Frage zu stellen: Was will ich? Luisa Muraro hat neulich von der Lust gesprochen, in erster Person zu handeln und mich nicht repräsentieren zu lassen und auch nicht die anderen Frauen zu repräsentieren. Die Unterschiede zwischen Frauen, so sagt sie, sind so wichtig, dass ich keine andere repräsentieren kann. Man könnte es auch so ausdrücken: Im Patriarchat wurde immer über die Frauen gesprochen – nicht nur von den Männern, sondern auch von vielen Frauen, auch in der Frauenbewegung. Es ist dann zu ende, wenn wir nicht mehr über Frauen sprechen, sondern als Frauen. Wenn ich spreche, ich, eine Frau, und höre was du sagst, du, eine Frau.

Ich schaue mir die Frauen an, die hier sitzen, aus der Vergangenheit zu uns gekommen. Auch sie repräsentieren mich nicht. Es ist nicht so, wie viele von uns, die sich mit Frauengeschichte beschäftigen, lange glaubten, dass es darum geht, »Vorkämpferinnen« für unsere eigenen Ziele ausfindig zu machen. Erst neulich las ich wieder in einem Buch, die Autorin habe bei ihrer Auswahl von Frauen, über die sie schreibt, solche ausgesucht, Zitat, »deren Positionen von dem heutigen Standpunkt aus als feministisch zu bezeichnen sind«. Aber was ist das für ein Kriterium? Es geht nicht darum, uns in den Frauen aus der Geschichte wiederzuerkennen, sondern darum, zu hören, was sie sagen. Wenn wir sie unter dem Gesichtspunkt der feministischen Correctness selektieren, und uns nur mit denen beschäftigen, die diesen Test bestehen, dann werden wir ganz viele Frauen genauso ignorieren und mundtot machen, wie die patriarchale Geschichtsschreibung das getan hat. Und die, mit denen wir uns beschäftigen, werden nicht falsch verstehen. Wir berauben uns selbst der Möglichkeit, unseren Horizont zu erweitern.

Die Unterschiede zwischen Frauen, sagt Luisa Muraro, sind so wichtig, dass ich keine andere repräsentieren kann, uns sie fährt fort: Auch nicht mich selbst. Es gibt auch einen Teil von mir, den ich nicht kenne. Das ist vielleicht das wichtige an diesem Weg. Auch auf uns selbst können wir uns nicht unbedingt verlassen. Denn es ist ja nicht so, dass ich selbst nicht auch ein Teil der patriarchalen Kultur wäre. Ich habe Schule und Universität durchlaufen und dort die männlichen kulturellen Werte und Informationen aufgenommen. Ich habe mich an männlichen Werten orientiert, Karriere gemacht, es abgelehnt, Kinder zu bekommen. Ich habe die weibliche Rollenzuweisung abgelehnt – und tue das heute noch. Ich weiß nicht, was weiblich ist. Das einzige, was ich sicher weiß, ist, dass ich eine Frau bin. Aber ich kenne mich nicht. Ich brauche die Beziehung zu anderen Frauen, um mich als Frau äußern zu können, und zwar zu Frauen, die anders sind als ich. Die mich nicht repräsentieren, sondern die mir Wege eröffnen, die Türen aufstoßen in das Unvorhergesehene, das Unerwartete, das für Unmöglich gehaltene – nicht nur vom Patriarchat, sondern auch von mir selbst! Aus Phantasielosigkeit, Unkenntnis, fehlendem Mut, Unachtsamkeit. Etwas, wonach vielleicht ein Teil von mir, mein Begehren, strebt, das mein eigener Verstand jedoch leicht und oft unterdrückt und ruhig hält.

Diese Frauen aus der Vergangenheit, die hier unter uns sitzen, sie sind mir wichtig, nicht weil ich mich in ihnen wiedererkenne, sondern weil viele von ihnen dies gemacht haben – Wege eröffnet in das Neue, das Unerhörte. Wenn ihnen das gelungen ist, dann nicht, weil sie irgendeine ominöse »Sache der Frauen« vertreten haben, sondern weil sie ihrem eigenen Begehren gefolgt sind und sich nicht haben einschränken lassen, von dem, was die Sitten und Gesetze ihrer Zeit ihnen als das angeblich einzig richtige und mögliche vorgeschrieben haben.

Damit sind wir bei einem weiteren wichtigen Punkt angekommen: weiblicher Autorität. Bei dem Versuch, die Unterschiedlichkeit zwischen Frauen zu verstehen, haben die Italienerinnen die symbolische Ordnung der Mutter entdeckt. Etwas vereinfacht könnte man sagen, dass Frauen anders unterschiedlich sind, als Männer. Richtiger wäre es, zu sagen, dass die Theorie, mit der die männliche Philosophiegeschichte versucht hat, die Unterschiedlichkeit der Menschen zu verstehen und zu erklären, falsch ist. Diese von Männern erdachte Theorie besagt nämlich, dass die Menschen autonome Individuen seien, die eben deshalb ganz unterschiedliche Ansichten und Interessen haben. Und dann erdachten sie eine Reihe von Mechanismen, wie diese vielen, unabhängigen Einzelnen sich in einer Gesellschaft zusammenraufen – durch Verträge, politische Gebilde wie Monarchie oder Demokratie und so weiter.

Schaut man sich aber einmal die erste und ursprüngliche Beziehung an, die ein Mensch im Leben hat, die zur eigenen Mutter nämlich, dann stellt sich schnell heraus, wie unsinnig das eigentlich ist. Ich komme nicht als fertiger Mensch mit eigenen Interessen und Ansichten auf die Welt, sondern ich werde von einer Frau, meiner Mutter, zur Welt gebracht. Das heißt, ich stehe der Welt von Anfang an nicht autonom gegenüber, sondern ich kann mich in ihr nur zurecht finden, weil ich in einer Beziehung stehe zu einer, die mir die Welt vermittelt. Das heißt, das Entscheidende an dieser ursprünglichen Beziehung ist nicht, dass da zwei Gleiche miteinander einen Vertrag schließen, sondern das Entscheidende ist, dass es sich hierbei um zwei Unterschiedliche handelt. Es ist eine Beziehung der Abhängigkeit, aber eine, die dennoch nicht auf Macht gründet, sondern auf Liebe, auf Vermittlung.

Die Unterschiedlichkeit der Menschen ist also nicht in erster Linie ein Problem, sondern überhaupt die Grundvoraussetzung dafür, dass wir in der Welt sein können. Und deshalb ist es auch naheliegend, dass wir diese ursprüngliche Beziehung, die Beziehung einer Tochter zu ihrer Mutter, auch als Modell dafür nehmen, was es bedeutet, dass Frauen unterschiedlich sind. Dann ist nämlich die Rede von der Fülle, die in der Vielfalt steckt, nicht mehr nur eine hohle Floskel. Die Unterschiedlichkeit von Frauen wird dann fruchtbar, wenn wir daraus weibliche Autorität machen.

Dabei geht es nicht etwa um eine einseitige Beziehung, bei der die eine nur gibt und die andere nur nimmt. Sicher, die eine hat mehr Erfahrung, mehr Wissen, mehr Sachkompetenz, aber die andere bringt ihre großen Wünsche, ihren Enthusiasmus, ihr Begehren mit. Nur wenn beide Seiten zusammenkommen, kann etwas Neues entstehen.

Das weibliche Begehren, das sich in Beziehung setzt zu anderen Menschen und dabei das Ich, die Person, die begehrt, selbst verändert, die Liebe zur Freiheit, die nicht verloren und einsam in der Welt herumirrt, sondern in weiblicher Autorität eine Anleitung findet, dies alles verändert die Welt. Oder besser: Dies alles hat die Welt schon verändert und verändert sie laufend weiter. Es hat sich etwas verändert im Leben der Frauen. Diese Veränderung nennen wir Ende des Patriarchats. Wir verstehen, dass diese Änderung ihren Grund darin hat, dass etwas Neues begonnen hat. Dieses Neue ist eine weibliche symbolischen Ordnung, die daraus entsteht, dass das Begehren einer Frau nicht mehr isoliert dasteht, einer patriarchalen Welt gegenüber, die es für verrückt, unmäßig, illusorisch hält, sondern dass es Antwort findet in weiblicher Autorität. Es geht hierbei nicht darum, eine Anleitung zu geben, wie Frauen handeln und leben sollen, sondern eher darum, zu verstehen, wie die Welt funktioniert. Weibliche Autorität ist bereits vorhanden. Wir müssen sie nur wahrnehmen, sichtbar machen, nutzen, stärken.

Das Ende des Patriarchats ist eine zeitliche Marke und gleichzeitig auch nicht. Es gibt ein vorher und ein hinterher, das durchaus zeitlich ist: Zum Beispiel gibt es einen Moment in meiner persönlichen Biografie, wo für mich das Patriarchat zu Ende war. Das war, als ich begriffen habe, dass meine Freiheit nicht davon abhängt, dass dieses oder jenes Gesetz verabschiedet wird oder davon, dass sich die Männer verändern. Und auch nicht davon, dass ich einen individuellen, innerlichen Weg der Selbstverwirklichung gehe, bei dem ich mich unabhängig mache von allen äußeren Einflüssen – dies sind die beiden Alternativen, die die männliche Philosophie normalerweise im Zusammenhang mit dem Begriff Freiheit anbietet – dass entweder die Welt sich verändert oder dass ich mich von der Welt löse. Sondern als ich begriffen habe, dass meine Freiheit davon abhängt, dass ich mich in den Rahmen einer weiblichen symbolischen Ordnung stelle, die mir Orientierung gibt, die mir eine Herausforderung ist, an der ich mich reiben und an der ich wachsen kann. Die eine Antwort gibt auf mein Begehren, die mir die Welt vermittelt.

Jetzt könnte man aber einwenden: Was nützt uns das alles, wenn die Frauen aber ja doch gar keine Macht haben, um die Verhältnisse zu ändern, neue Gesetze zu erlassen, wenn die Männer weiter mit Gewalt die Unrechtsverhältnisse aufrecht erhalten? Hier ist folgende Unterscheidung wichtig:

Das Ende des Patriarchats hat zwei Seiten: Eine gesellschaftliche und eine symbolische. Was die gesellschaftliche Umwälzung angeht, die das Ende des Patriarchats bedeutet, so wird noch einiges an Kraft und Energie und Zeit hineinzustecken sein. Genauso wie die Frauen aus den Geschichten, die ich erzählt habe, müssen auch wir und andere weiterhin diese Energie aufbringen und Sachen sagen und Dinge tun, um Leid zu ersparen. Und vermutlich werden wir nie in jenes Paradies kommen, wo nichts von all dem mehr übrig ist.

Was die symbolische Seite angeht, da ist das Patriarchat bereits zu Ende. Die Tatsache, dass Frauen – zu viele Frauen – nicht mehr daran glauben, ist evident, und angesichts der Globalisierung der Welt wird sich das auch über die ganze Welt ausbreiten. Das Patriarchat kann – als Denkschema, als Wertesystem, als Maßstab zur Interpretation der Welt und der menschlichen Beziehungen – keine Ordnung mehr schaffen, es schafft Unordnung, und Frauen, immer mehr Frauen, sprechen das überall auf der Welt aus und handeln entsprechend. Ich stimme Luisa Muraro zu: Das ist keine Krise, das ist das Ende.

Warum ist das das Ende? Weil die symbolische Seite einer Veränderung die wichtigere ist. Solange und wo das Patriarchat symbolisch fortbesteht, nützen gesellschaftliche Veränderungen zu Gunsten der Frauen nicht viel. Sie sind nicht tiefgreifend, langlebig, werden gleich wieder ausgehebelt. Das Recht, zu wählen, oder das Recht, arbeiten zu gehen, ist kein Fortschritt im Hinblick auf weibliche Freiheit, wenn es im Rahmen einer patriarchalen symbolischen Ordnung steht. Wenn aber das Patriarchat auf der symbolischen Ebene zu Ende ist, dann kann es sich auch auf der gesellschaftlichen nicht wirklich halten. Wir können die Hände nicht in den Schoß legen, wir müssen für eine Verbesserung der Situation der Frauen politisch kämpfen, aber wir können das nur, weil das Patriarchat bereits zu Ende ist. Weil nämlich nur deshalb das, was wir machen, Aussicht auf Erfolg hat.

Es kommt noch etwas hinzu, das ich nicht verschweigen möchte: Das Ende des Patriarchats hat nicht nur Leid erspart, sondern auch Probleme geschaffen. Denn das Patriarchat war zwar eine schlechte Ordnung, aber doch eine Ordnung, in deren Rahmen Dinge funktioniert haben, zum Beispiel die Versorgung alter und kranker Menschen. Die Frauen haben sich an einem gewissen Punkt geweigert, diese Arbeit unentgeltlich zu machen, mit der Folge, dass sie heute schlecht getan wird und die Gesellschaft teuer zu stehen kommt. Andere Punkte sind der Individualismus, die häufig beklagte Verrohung der Gesellschaft, etc. Die Abwertung von Hausarbeit, an der auch die Frauenbewegung Anteil hatte.

Das Ende des Patriarchats bedeutet auch, dass Frauen die Herausforderung annehmen, die ihre Freiheit bedeutet. Im Patriarchat saßen sie gewissermaßen in einem Käfig, der konnte golden sein oder verrostet, aber ihre Aufmerksamkeit musste vor allem darauf gerichtet sein, da raus zu kommen. Jetzt ist der Käfig weg, und damit sind all die Probleme da, die es draußen in der Welt gibt. Diese Probleme müssen wir lösen. Das ist natürlich kein moralischer Appell. Schon längst machen Frauen das, und sie haben es immer gemacht. Worum es mir geht ist, dem, was wir ohnehin tun, eine neue Bedeutung zu geben.

Von diesem Standpunkt aus möchte ich noch einmal auf die gegenwärtige gesellschaftliche Situation zu sprechen kommen und dazu, was notwendig ist, zu tun.

Ein Problem, das sich meiner Meinung nach gegenwärtig stellt, ist die große Anpassungsfähigkeit der Frauen. Nachdem sie von einer patriarchalen Kultur Jahrhunderte lang systematisch ausgeschlossen wurden, bemüht sich diese Kultur derzeit fast verzweifelt darum, Frauen einzubeziehen. Frauen werden aufgefordert, ja häufig geradezu gedrängt, sich um Ämter zu bewerben, Leitungsfunktionen zu übernehmen, sich in Parteien und Kirchen verantwortlich zu engagieren. Das ist einerseits gut und andererseits schlecht. Schlecht ist es dann, wenn es nur dazu dient, den Fortbestand dieser Institutionen zu sichern, ohne dass sie sich wirklich verändern. Wenn es dazu führt, dass Frauen ihr Begehren unterdrücken müssen, zum Beispiel das, offen und ehrlich Gespräche zu führen und Konflikte auszutragen, anstatt sich strategisch oder berechnend zu verhalten, wie das in vielen Leitungsfunktionen verlangt wird. Ich beobachte häufig, dass das, was Männern Spaß macht – zum Beispiel Chef zu spielen und herumzutaktieren – Frauen Unbehagen bereitet. Ich glaube, das liegt nicht daran, dass Frauen die besseren Menschen sind, sondern dass hier von Frauen verlangt wird, sich an eine Kultur anzupassen, die nicht ihre eigene ist. Und Frauen können das. Natürlich können Frauen Bundeskanzlerin oder Außenministerin oder Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank sein. Die Frage ist nur: Wollen sie das auch? Wäre das gut fürdie Welt, für unsere Zukunft? Und wenn nicht – was müsste sich ändern, damit sie das wollen?

Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich will damit nicht einer biologistischen Ideologie von der natürlichen Andersartigkeit der Frauen das Wort reden. Ich will aber dazu auffordern, dass Frauen nicht meinen, hier irgendwelchen Regeln entsprechen zu sollen, wenn ihr eigenes, individuelles Begehren und die Werte und Maßstäbe, die sie mit anderen Frauen zusammen erarbeiten, etwas anderes sagen.

Luisa Muraro hat davon gesprochen, dass die Kultur der Frauen von einer anderen Welt sei. Das, was weibliche Freiheit ist, was eine weibliche symbolische Ordnung ist, können wir mit den Mitteln, die wir aus der patriarchalen Kultur übernommen haben, nicht begreifen. Das Patriarchat ist zwar zu Ende, aber es ist doch der Ursprung für fast alles, was wir vorfinden: Für die politischen Systeme, für unsere wissenschaftlichen Methoden, ja sogar für unsere Fragestellungen.

Das einzige, was uns bleibt, ist unser Begehren, das weibliche Begehren, das sich an solchen Dingen nicht stört – und die größte Gefahr ist vielleicht, dass uns dieses Begehren abhanden kommen könnte. In der männlichen Kultur, die immer mehr auch die Kultur der Frauen zu werden scheint, wird das weibliche Begehren normalerweise für verrückt, maßlos, absurd gehalten. Denken Sie nur an die historischen Frauengestalten, die hier mit uns in der Kirche sitzen. Wohl jede von ihnen ist von der Gesellschaft ihrer Zeit für verrückt und maßlos gehalten worden für ihre unerhörten Wünsche. Aber können wir ihre Wünsche überhaupt verstehen? Ich glaube nicht, denn auch wir Frauen tendieren dazu, sie falsch zu verstehen, sie in unsere Denkschemata einzuverleiben.

Diese Gefahr ist ebenfalls eine Folge davon, dass das Patriarchat zu Ende ist: Jetzt, wo wir aus dem Käfig heraus sind, müssen wir uns groß und vernünftig verhalten. Wir dürfen nicht mehr mit Migräne kokettieren oder uns einfach mit weiblichem Unwohlsein krankmelden, wenn wir unsere Tage haben. Wir dürfen nicht mehr hysterisch sein, dürfen uns nicht mehr darauf zurückziehen, dass Frauen anders sind, ein Geheimnis, schwer zu verstehen, unlogisch. Auf diese Weise aber überlebte im Patriarchat das weibliche Begehren. Es wurde zwar für krank, verrückt und unnormal gehalten, aber es war da. Es hatte einen Platz.

Das ist heute, so meine ich, unsere wichtigste Aufgabe: auch nach dem Ende des Patriarchats einen Platz für das weibliche Begehren freizuhalten. Wir dürfen unsere Begehren nicht klein halten, indem wir uns – vermeintlich vernünftig – Sachzwängen, Strukturen, Effizienzdruck und Verhaltensnormen unterwerfen. Wir müssen unserem Verstand, unserer Vernunft, unserer Anpassungsfähigkeit, unserem Wunsch, dazuzugehören, misstrauen. Und wenn das bedeutet, so hat es die Philosophin Chiara Zamboni neulich formuliert, dass wir wie ein kleines zorniges Mädchen mit dem Fuß aufstampfen und ganz erregt sagen: »Ich will aber!«. Stur, bockig, aber mit unerschütterlichem Vertrauen darauf, dass nichts unmöglich ist. Auch nach dem Ende des Patriarchats brauchen wir das weibliche Begehren. Damit es auch in Zukunft Wege öffnet, die über diese Welt hinaus führen: Wege ins Neue, Unvorhergesehene, bisher – auch von uns selbst – für unmöglich gehaltene.


Vortrag am 14. Juni 2001 beim Deutschen Evangelischen Kirchentag, veröffentlicht in: Frauenschritte in die Zukunft, Dokumentation von Veranstaltungen der Frauenwerkstatt beim Deutschen Evangelischen Kirchentag in Frankfurt am Main, zu bestellen über info@evangelische-frauenarbeit.de

Einordnung der These vom Ende des Patriarchats in die Fragestellungen der Frauenbewegung