Antje Schrupp im Netz

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Porträt: Anna Walentynowicz

Die vergessene Arbeiterführerin

Im August 1980 wird auf der Danziger Leninwerft die Kranführerin Anna Walentynowicz entlassen. Sie ist 51 Jahre alt. Die resolute kleine Frau mit der großen Brille hat sich für die Rechte der Arbeiter eingesetzt. Sie fordert bessere Arbeitsbedingungen, freie Gewerkschaften und gleiche Bezahlung für Frauen und Männern. Der Rausschmiss der Walentynowicz bringt das Fass zum Überlaufen. Die unzufriedenen Arbeiter treten in den Ausstand. Sie schnappen sich den Dienstwagen des Werftdirektors und schicken ihn zu Anna Walentynowicz nach Hause. Sie soll kommen und zu ihnen sprechen. Als sie endlich in der Werft ankommt, steht schon ein anderer auf dem Podest. Der Elektriker Lech Walesa. Gemeinsam beschließt das Aktionskomitee, dass Walesa den Streik ab sofort anführen soll. Ein Mann wird eher respektiert – denkt sich Anna Walentynowicz. Walesa – damals Vater von mehreren Kindern – zögert. Er möchte den Streik am Abend abbrechen. Anna Walentynowicz ist dagegen und bleibt mit etwa 500 Arbeiter da. Die Werft wird abgeriegelt. Keiner kommt rein, keiner kommt raus. In der Nacht klettert Walesa – so schreibt er in seiner Autobiographie »Ein Weg der Hoffnung« – über eine Mauer und kehrt in die Werft zurück. Am nächsten Morgen geht der Streik weiter. 16.000 Arbeiter sind im Ausstand. Es ist die Geburtsstunde der Gewerkschaft Solidarnosc. Die Proteste weiten sich in den folgenden Tagen auf ganz Polen aus. Die Sorge wächst, dass die Staatsführung den Streik gewaltsam beenden könnte. Am 18. Tag gibt die Regierung nach. Auf der Leninwerft wird das Danziger Abkommen geschlossen. Die Arbeiter haben dem Machtapparat das Zugeständnis abgetrotzt, sich in einer freien und unabhängigen Gewerkschaft solidarisieren zu dürfen.

Machtkampf bei Solidarnosc

Anna Walentynowicz hat Lech Walesa im August 1980 als Streikführer vorgeschlagen. Er ist es, der als großer Arbeiterführer und Freiheitskämpfer in die Geschichte eingehen wird. Doch Walesa ist nicht unumstritten. Jeder – so Anna Walentynowicz heute – habe gewusst, dass Walesa ein Agent gewesen sei, der mit dem Staat zusammenarbeitete. Man habe ihn nicht enttarnt, weil sonst der Streik zusammengebrochen wäre. Auch zweifelt mancher bei Solidarnosc seine Mauer-Geschichte an. Ist er in der Nacht des großen Streiks tatsächlich über eine Werft-Mauer geklettert oder brachte ihn ein Motorboot der Staatssicherheit? In den Reihen der Solidarnosc rumort es. Anna Walentynowicz – Patentante von Walesas jüngster Tochter – wird zu seiner entschiedenen Gegnerin. Als die Arbeiter 1981 erneut streiken, weil die Abmachungen nicht eingehalten wurden, verhängt der polnische Staatschef General Jaruzelski im Dezember das Kriegsrecht. Viele Solidarnosc Anhänger werden bespitzelt, verhaftet und verurteilt. Die Gewerkschaft wird verboten. Auch Anna Walentynowicz muss zwei Jahre ins Gefängnis. Lech Walesa ist mittlerweile zu prominent geworden als dass sich der Staat an ihm vergreifen könnte. Er empfängt zu Hause Ministerpräsidenten und Regierungschefs westlicher Länder und wird international immer bekannter. 1983 – es ist das Jahr in dem Anna Walentynowicz aus dem Gefängnis entlassen wird – bekommt Lech Walesa den Friedensnobelpreis verliehen. Nach der Wende steigt der einstige Elektriker 1990 zum Staatspräsidenten auf; die Kranführerin Anna Walentynowicz geht in Rente.

Anna Walentynowicz – eine ungewöhnliche Frau

Nachdem ihre Eltern im Zweiten Weltkrieg umgekommen waren, wächst Anna Walentynowicz als Waise auf. Ein Bauer stellt das Kind als Magd ein. Sie konnte weder lesen noch schreiben. Doch das Mädchen hat andere Träume. Sie geht nach Danzig, lernt Schweißerin und findet Arbeit auf der Leninwerft. 16 Jahre macht sie den Job und wird zu einer fleißigen Vorzeigearbeiterin. Sie steigt auf zur Kranführerin und erhält eine Auszeichnung des Arbeiter- und Bauernstaates. Doch dann kommt die persönliche Wende. 1970 streiken die Arbeiter in Danzig und einigen anderen Städten für bessere Lebensbedingungen. Sie schmeißen die Fenster der Parteizentrale ein und gehen auf die Straße. Der Staat schlägt zurück. Er schickt Soldaten, um die Unruhen niederzuknüppeln. Offiziell kommen bei den Krawallen 49 Menschen ums Leben. Mit den Arbeitern stirbt auch Anna Walentynowiczs kommunistische Utopie. Sie schließt sich 1978 einer Gruppe an, in der auch Lech Walesa Mitglied ist. Aus dem Stolz der Arbeiterklasse wird eine Oppositionelle.

Auch privat sind es unruhige Jahre für sie. Ein Arzt diagnostiziert Mitte der 70er Jahre Krebs bei ihr, doch nicht sie, sondern ihr Mann Kazimierz stirbt an der Krankheit. Er – so sagt sie – war ihre einzige große Liebe. Die beiden blieben kinderlos. Ihr einziger Sohn stammt aus einer vorhergehenden Beziehung.

Anna Walentynowicz – Schweißerin und Kranführerin – ist bis heute eine Kämpferin für die Arbeiterrechte geblieben. Sie lebt in Danzig, ist Mitglied der konservativen Opus Dei Bewegung der katholischen Kirche und kämpft weiter für die Rechte der Arbeiter. Als im Jahr 2002 die Beschäftigten der Leninwerft erneut streikten, stand auch die alte Dame wieder am Tor um ihre Unterstützung zu zeigen.

(Andrea Oster)

(Redaktion: Angelika Wagner)