»Jenes Unternehmen, das ich mein Leben nenne«
Vortrag zum 100. Geburtstag von Simone de Beauvoir
Teil 1: Biografie
»Ich habe lange gezögert, ein Buch über die Frau zu schreiben. Das Thema ist ärgerlich, besonders für die Frauen; außerdem ist es nicht neu. Im Streit um den Feminismus ist schon viel Tinte geflossen, zur Zeit ist er fast beendet.«
So beginnt Simone de Beauvoir ihr Buch »Das andere Geschlecht« erschienen 1949. Auch damals also galt der Feminismus schon als beendet, und doch ist er noch immer so quicklebendig wie eh und je. Genau heute, am 9. Januar 2008, wäre Simone de Beauvoir hundert Jahre alt. Ein guter Anlass, an diese kontroverse Philosophin zu erinnern und zu fragen, was von ihrem Denken für uns heute noch immer aktuell ist.
Simone de Beauvoir ist ja eine sehr kontroverse Denkerin. Als »Kronzeugin« für eine bestimmte Spielart des Gleichheitsfeminismus ist sie in der deutschen Frauenbewegung vor allem gesehen worden, ihr literarisches und philosophisches Gesamtwerk ist dabei manchmal in den Hintergrund geraten. Andere haben ihr sogar Frauenfeindlichkeit vorgeworfen, wegen ihrer negativen Einschätzung der Mutterschaft und ihrer Geringschätzung der Hausarbeit. Wieder andere halten sie heute für überholt, schließlich hat sich gerade im Bezug auf die Mädchenerziehung seit damals vieles verändert.
Ebenso wie heute die rechtliche Gleichstellung und die Integration der Frauen in die öffentlichen Institutionen weitgehend durchgesetzt ist, zumindest in den westlichen Industrienationen, so galt auch damals eine wichtige Etappe als erledigt: 1944 war in Frankreich endlich das Frauenwahlrecht eingeführt worden – 25 Jahre später als in Deutschland oder den USA – und damit ein 150 Jahre langer politischer Kampf von Frauen zu Ende gegangen. Es ist dieser Hintergrund, vor dem Simone de Beauvoir »Das andere Geschlecht« schreibt: Sie zeigt darin, warum mit dem Wahlrecht die »Frauenfrage« keineswegs erledigt war. Detailliert analysiert sie die Grenzen und Nachteile des Frauseins, die Abwertung von Frauen in der patriarchalen Kultur.
Simone de Beauvoir wurde am 9. Januar 1908 inParisin eine großbürgerliche Familie hineingeboren. Simone de Beauvoir war ein braves Mädchen. Der französische Originaltitel des ersten Bandes ihrer Autobiografie: »Memoirs d’une jeune fille rangée«, was in etwa übersetzt werden könnte mit: »Memoiren eines ordentlichen jungen Mädchens«, was die inzwischen erwachsene Beauvoir sicher auch ein bisschen ironisch meinte. Die junge Simone de Beauvoir war ein »ordentliches« junges Mädchen, sie widersprach und widersetzte sich nicht, anders als ihre aufmüpfigere jüngere Schwester Helène oder ihre Freundin Zaza, die sogar in aller Öffentlichkeit mit ihrer Mutter zu Diskutieren anfing.
Simone hingegen rebellierte innerlich, und zwar vor allem gegen ihre Mutter. Die Mutter war katholisch und fromm, der Vater hingegen ein intellektueller Freigeist. Während die Mutter langweiligen Haushaltskram machte, war der Vater derjenige, den Beauvoir bewunderte. Sie schrieb später: »Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es noch einen ebenso klugen Mann geben könne wie ihn … sein Denken war unangreifbar und unumschränkt. Menschen und Dinge erschienen vor seinem Richterstuhl: er fällt souverän sein Urteil über sie.« Eine Bewunderung des Männlichen, die sie auf männliche Kultur übertrug, und der wollte sie angehören – was ihr mit dem herkömmlichen Frauenleben und insbesondere der Mutterschaft unvereinbar erschien: »Kinder zu haben, die ihrerseits wieder Kinder bekämen, hieß nur das ewige alte Lied wiederholen; der Gelehrte, der Künstler, der Schriftsteller, der Denker schufen eine andere, leuchtende, frohe Welt, in der alles seine Daseinsberechtigung erhielt. In ihr wollte ich meine Tage verbringen; ich war fest entschlossen, mir darin einen Platz zu verschaffen.«
Beauvoir rebellierte nicht offen, sie machte sich eben so für sich ihre Gedanken – schon als Jugendliche war Beauvoir viel mehr Philosophin als politische Denkerin oder gar Aktivistin, viel mehr mit ihrer eigenen Innerlichkeit beschäftigt, als mit der äußeren Welt. Anders als ihre Zeitgenossinnen Hannah Arendt oder Simone Weil interessierte sie sich kaum für das, was in der Welt geschah, bis zum Ausbruch des Krieges 1939 etwa war der Nationalsozialismus für sie überhaupt kein Thema. Auch die Frauenbewegung hat sie anfangs ja nicht interessiert. Das sage ich nur, weil es erstaunlich ist, dass Beauvoir als die politischste dieser drei Denkerinnen gilt, wir kennen sie als Frontfrau der Frauenbewegung, während Simone Weil und Hannah Arendt uns irgendwie rein theoretisch erscheinen, mystisch und intellektuell abgehoben, obwohl sie im engen Sinne politische Denkerinnen waren.
Aber zurück zu Beauvoirs Biografie. Sie hatte in gewisser Weise das Glück, dass ihr Vater im Gefolge des Ersten Weltkrieges einen Gutteil ihres ehemaligen Wohlstandes verlor. Die Beauvoirs mussten in eine kleinere Wohnung umziehen, und es wurde wichtig, auch die materielle Zukunft der Töchter im Auge zu behalten. Vor allem dem Vater schien es wichtig, den Töchtern eine berufliche Grundlage zu schaffen, was bedeutet: Simone de Beauvoir konnte studieren, um Lehrerin zu werden.
Mit siebzehn Jahren begann sie an der École Normale Supérieure ein Literatur- und Mathematikstudium. 1926 studierte sie dann Philosophie an der Sorbonne – übrigens nicht nur gemeinsam mit Jean-Paul Sartre, ihrem späteren Lebensgefährten, sondern auch mit Simone Weil, die die Beauvoir allerdings für eine verzogene bourgoise Pseudo-Intellektuelle hält und kein Interesse an einer näheren Bekanntschaft hat.
Nach dem Studium wird Beauvoir zunächst Lehrerin, doch sie hat kein großes pädagogisches Talent. Sie ist sehr ungeduldig mit Schülerinnen, die nicht so schnell von Begriff sind, dafür freundet sie sich eng mit andern Schülerinnen, die sie für begabt hält, an und ist hier völlig distanzlos. Zum Beispiel mit Olga, jener Schülerin, die dann ein Dreiecksverhältnis mit Beauvoir und Sartre beginnt, das die Grundlage für Beauvoirs ersten Roman wird: »L’Invitée«, die Eingeladene, oder auf deutsch »Sie kam und blieb«, der gleichzeitig auch ein »Grundlagenwerk« des Existenzialismus ist, also jener Philosophie, die damals zu einer Mode avancierte und vor allem auf das gemeinsame Denken von Sartre und Beauvoir zurückzuführen ist.
Mit Sartre verband Simone de Beauvoir bekanntlich eine lebenslange Freundschaft und Liebesbeziehung, es ist bekannt, dass sie nicht heirateten – übrigens auf Beauvoirs Wunsch nicht – dass sie niemals zusammen wohnten, dass die wechselnde andere Liebesbeziehungen hatten, Sartre sehr viele, vor allem immer auch mit sehr viel jüngeren Frauen, an denen ihn vor allem ihre Sexualität interessierte. Beauvoir hingegen hatte wenige, dafür aber sehr intensive Liebesbeziehungen. Die zwei wichtigsten waren die zu dem amerikanischen Schriftsteller Nelson Algren zwischen 1947 und 1951, eine Liebe die unglücklich endete, weil Algren nicht akzeptieren konnte, dass Beauvoir sich seinetwegen nicht von Sartre trennte. Von 1952 bis 1958 war sie mit Claude Lanzmann, der mit seinem Film »Shoah« berühmt wurde und fast 20 Jahre jünger war als Beauvoir.
Der Entschluss der 20-Jährigen, ein solch unkonventionelles Privatleben zu führen, war wohl der entscheidende Schritt, mit dem sich Beauvoir aus den vorgegebenen Bahnen ihrer Familie und traditionellen Rolle löste, und damit zog sie auch die Konsequenz aus den schlechten Erfahrungen ihrer Gefährtinnen aus der Kindheit, die ursprünglich viel aufmüpfiger gewesen waren, als sie selbst: Schwester Helène landete in einer konventionellen Ehe auf dem Lande, Freundin Zaza wurde von dem Druck der Konventionen in den Tod getrieben. Sie starb genau zu der Zeit, der ersten Verliebtheit von Sartre und Beauvoir. Die genaue Todesursache ist unbekannt, aber sie hatte viel mit Unglücklichsein und bürgerlichem Rollendruck zu tun. Es zeigte sich, dass Zaza, die nach außen hin Rebellische, sich innerlich nicht von den Erwartungshaltungen ihrer Familie freigemacht hatte, anders als Beauvoir, die über die Jahre eine innerliche Festigkeit ihrer Überzeugungen gewonnen hatte, sodass sie jetzt, als Erwachsene, ihren eigenen Weg wählen konnte.
Während Sartre philosophische Werke schreiben wollte, sah Beauvoir sich eher als Schriftstellerin. Schon immer hatte sie Tagebuch geschrieben, für sie gehörte das Niederschreiben ihrer Gedanken zu der Art und Weise, wie sie Erfahrungen und Erlebnisse reflektierte, verstand, und bearbeitete. In ihrem ersten Roman »Sie kam und blieb« schilderte sie zum Beispiel das Dreiecksverhältnis eines intellektuellen Paares und einer deutliche jüngeren Frau – kaum verhüllt sind in den Figuren Sartre, Beauvoir und ihre Schülerin Olga zu erkennen. Das Muster würde sich in fast allen ihrer Romane wiederholen, es ist jeweils ziemlich klar, worum und vor allem um wen es sich handelt.
Ihre große Stärke war diese Offenheit und die Genauigkeit ihrer Schilderungen, die ein beredtes Zeugnis abgeben von ihrer Auseinandersetzung mit der Realität. In dieser Hinsicht war sie jedenfalls für mich oft ein großes Vorbild. Ich weiß gar nicht, ob das stimmt, aber ich habe irgendwo mal gelesen, dass Beauvoir sich mit anderen immer nur zu zweit im Café trafen, weil das Gespräch in einer größeren Gruppe häufig in belanglosen Smalltalk abdriftet, während man wirklich ernsthafte Gespräche nur zu zweit führen kann. Diese Wichtigkeit des Gesprächs, das mitten im Leben stattfindet, das Durchdenken und Durchdiskutieren des persönlich Erlebten als eine politische Praxis ist etwas, worin Beauvoir ein großes Vorbild ist.
Es wäre aber falsch, Beauvoirs Bücher als einfache »Schlüsselromane« zu lesen. Es geht ihr nicht darum, einfach historische Begebenheiten zu schildern, sondern darum, diese Begebenheiten im Licht ihrer Philosophie, des Existenzialismus, zu deuten. Es geht also um philosophische Fragen, um Freiheit und Abhängigkeit, um Selbstbestimmung und Subjektivität, um Verantwortung gegenüber anderen und sich selbst – aber Näheres zum Existenzialismus im 2. Teil.
Es ist viel darüber spekuliert worden, wer von wem mehr abgeschrieben hat, wer wen mehr beeinflusst hat, Sartre oder Beauvoir. Während früher alle wie selbstverständlich davon ausgegangen sind, dass Sartre der originelle Denker war und Beauvoir Sartres Denken sozusagen in anschauliche Beispiele gefüllt hätte, haben feministische Forscherinnen demgegenüber Beauvoirs Originalität hervorgehoben. Sie haben zum Beispiel heraus gearbeitet, dass Sartre die wesentlichen originellen Passagen seines Hauptwerkes »Das Sein und das Nichts« erst geschrieben hat, nachdem er Beauvoirs Manuskript von »Sie sein und blieb« gelesen hatte, in dem sie die grundlegenden Gedanken des Existenzialismus schon vorzeichnet. Ich halte solche Überlegungen eigentlich für langweilig, weil in einer so intensiven Beziehung, die hauptsächlich aus gemeinsamen Gesprächen bestanden hat, wohl davon ausgegangen werden kann, dass die Ideen eben genau aus diesem Austausch hervorgegangen sind. Ein Austausch, an dem natürlich auch noch mehr Menschen aus ihrem Freundeskreis beteiligt waren. Ideen entstehen oft aus dem Gespräch, und es ist unmöglich und auch völlig unnötig, hinterher einen einzigen Urheber ausfindig machen zu wollen.
1943 wird Beauvoir aus dem Schuldienst entlassen wegen »Verführung Minderjähriger« – ihr unkonventioneller Lebensstil war aufgefallen, außerdem hatte sie die Liebesbeziehung einer Schülerin mit einem spanischen Juden verteidigt. Beauvoir entschließt sich, von nun an als freie Schriftstellerin zu arbeiten, auch weil ihr erster Roman, der in diesem Jahr erscheint, ein Erfolg wird. Sie schreibt aber auch philosophische Essays, etwa »Pyrrhus und Cinéas«, der eine sehr gute Einführung in den Existenzialismus ist und ihr eine erste Vortragsreise in die USA beschert, wo sie als führende Vertreterin dieser neuen Philosophie gefeiert wird. 1945 erscheint ihr zweiter Roman, »Das Blut der anderen«, in dem sie sich mit der Résistance beschäftigt – vordergründig ein politischer Roman, aber eigentlich werden die politischen Umstände nur benutzt, um die Frage nach der Verantwortlichkeit für das eigene Leben und Handeln zu stellen.
Auch in ihren weiteren Büchern geht es vor allem um die Verarbeitung des eigenen Lebens. Beauvoir war in dieser Hinsicht völlig anders als Sartre. Sie war unternehmungslustig, wollte etwas erleben, bekanntlich schrieb sie ihre Bücher im Café, immer umgeben von Menschen und vom Leben. Sie verreiste lange und viel, oft allein, oft auch zusammen mit Sartre, aber der blieb meist im Hotel, während sie durch die Gegend zog. Sie saugte die Welt in sich auf, bezog alles auf sich selbst, und machte dann daraus ihre Romane – nicht immer zur Freude ihrer Umwelt. Nelson Algren war nicht sehr entzückt, als er ihre gescheiterte Beziehung später in Buchform wiederfand, und auch als 1981 die »Zeremonie des Abschieds« erschien, worin sie die letzten gemeinsamen Jahre mit Sartre, der pflegebedürftig geworden war, schildert, empfanden das viele als Respektlos.
Auf jeden Fall waren ihre Bücher immer schonungslos, aber vor allem in Hinblick auf Beauvoir selbst. Ehrlich bis zur Schmerzgrenze verarbeitet sie ihr eigenes Leben, in den Romanen wie in den dicken autobiografischen Bänden. Geradezu detailversessen geht sie dabei vor. Der genaue Blick auf die Einzelheiten ist ihre Sache, nicht die große These.
Das ist auch bei »Das andere Geschlecht« so, das 1949 erscheint und Beauvoir noch einmal berühmter macht. Es war in gewisser Weise ein Wendepunkt. Beauvoir war immer eine, die ihre Weltsicht eher anhand von konkreten Beispielen entfaltete, die die Realität wichtiger nahm, als die abstrakte Philosophie. Doch dass diese Realität nun die der Frauen war, machte Beauvoir nun zu einer Art »Expertin für Frauenthemen«, verlor damit aber den Status einer Repräsentantin der existenzialistischen Bewegung. Dass die Rolle der Frau ein allgemeines Thema ist, ist ja heute auch noch nicht selbstverständlich und war es damals erst recht nicht. Was das betraf, die allgemeine Philosophie also, so rückte Beauvoir nun zunehmend in den Schatten Sartres, man sah in ihr nicht mehr die eigenständige Denkerin und Philosophin, und das bis heute: So schreibt die »Zeit« vor zwei Wochen im Vorspann zu einem Artikel über Beauvoir: »Sie war nicht nur die Lebensgefährtin Jean Paul Sartes, sondern auch eine der bedeutendsten Frauenrechtlerinnen« – dass Beauvoir Philosophin und Schriftstellerin war, scheint gar nicht von Interesse zu sein. – darauf werde ich im 2. Teil noch etwas genauer eingehen.
Ich glaube aber, inzwischen ist sie aus diesem Schatten wieder ein bisschen herausgetreten, zumal wenn wir heute solche Veranstaltungen nicht mehr nur dazu nutzen, uns der Beauvoir als feministischer Vorkämpferin zu vergewissern, sondern zu einer echten, und das heißt auch kritischen Auseinandersetzung mit ihrer Philosophie.
»Das andere Geschlecht« hat jedenfalls wohl am meisten von allen Werken Beauvoirs Wirkung entfaltet und die zweite Frauenbewegung der 1970er Jahre maßgeblich geprägt. Allerdings hat es auch große Kontroversen ausgelöst, und es ist in vielerlei Hinsicht falsch verstanden worden, vor allem ihr Schlüsselsatz: »Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.« Was sie damit – wie auch in dem ganzen Buch – sagen will ist, dass es keine natürliche, wesensmäßige Bedeutung des Frauseins, keine weibliche Natur gibt, sondern dass das Frausein immer eine Folge des kulturellen Handelns und Austausches ist. Das bedeutet aber nicht, dass Frauen zu Frauen »gemacht werden«, wie eine weit verbreitete Falschübersetzung lautet. Worum es Beauvoir geht ist zu zeigen, dass es einen tiefen Widerspruch gibt zwischen dem Menschsein, der menschlichen Freiheit, so wie sie es als Existenzialistin versteht und der allgemeinen Vorstellung vom Frausein und den weiblichen Aufgaben und Rollen. – aber darüber sprechen wir noch im 2. Teil ausführlicher.
Simone de Beauvoir feierte im Lauf ihres Lebens noch viele Erfolge, erlebte Höhen und Tiefen. 1954 erzielt sie den renommierten französischen Literaturpreis Prix Goncourt für ihren Roman »Die Mandarins von Paris«, in dem es um die links-intellektuelle Szene geht. Ihre Skepsis gegenüber dem herkömmlichen Frauenleben schlägt sich auch in diesem Buch nieder. Sie schreibt darüber: »Vieles, das ich sagen wollte, hing mit meiner Lage als Frau zusammen. Durch sie, Anne, habe ich vor allem den negativen Seiten meiner Erfahrungen Ausdruck verliehen: der Angst vor dem Sterben, dem Schwindelgefühl vor dem Nichts, der Vergänglichkeit irdischer Freuden, der Schande des Vergessens, dem Ärgernis des Daseins. Die Lebensfreude, die Unternehmungslust, das Vergnügen an der Schriftstellerei habe ich Henri angedichtet.«
Ihre Lebenslust, ihre Entdeckerfreude – das sind für sie sozusagen männliche Anteile. Sie bereist die ganze Welt, von China bis Kuba, von Brasilien bis Japan, von Moskau bis Amerika und immer wieder nach Italien, meist zusammen mit Sartre.
1963 stirbt ihre Mutter an Krebs, ein Jahr später erscheint auch dies als Buchform, in »Ein sanfter Tod« beschreibt Beauvoir das Leiden der Mutter und ihr Ende. Das Alter beschäftigt sie jetzt zunehmend, 1970 veröffentlicht sie dazu eine genauso dicke Studie wie zuvor über das Frausein. Sie erhält zahlreiche Preise und Ehrungen. Sie beteiligt sich an der französischen Abtreibungs-Kampagne und wird, vor allem in Deutschland durch die Vermittlung von Alice Schwarzer, zur Symbolfigur der neuen Frauenbewegung. 1986 stirbt sie in Paris und wird auf dem Friedhof Montparnasse beigesetzt. In diesem Pariser Stadtteil hat sie übrigens ihr gesamtes Leben lang gewohnt.
Teil 2: Philosophie
»Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es«. Wohl kaum ein Satz, den jemals ein Philosoph oder eine Philosophin geschrieben hat, ist so wirkmächtig geworden, wie dieser. Es gab darin zwei Botschaften. Die eine wurde von der Frauenbewegung aufgegriffen, die andere hingegen nicht.
Diejenige Botschaft, die aufgegriffen wurde, lautet: Es gibt kein weibliches Wesen, keine Natur der Frau. Was eine Frau ist, ist nicht festgelegt, sondern wird jederzeit kulturell ausgehandelt: Wir alle sind es, die Frausein machen. Man wird nicht als Frau geboren, man wird es.
Die zweite Botschaft, diejenige, die nicht aufgegriffen wurde, ist die des Existenzialismus: Es gibt kein vorgegebenes Gutes, das wir anstreben müssen, sondern es hängt alles von uns selbst ab. Die Umstände prägen uns niemals so stark, dass wir innerlich keine freien Entscheidungen treffen könnten. Oder, in ihren eigenen Worten: »Das menschliche Sein existiert in der Gestalt von Entwürfen, man ist – ohne Grund, ohne Ziel.«
In »das andere Geschlecht« geht es vor allem darum, die Grenzen und Nachteile des Frauseins zu analysieren, die Abwertung von Frauen in der patriarchalen Kultur. Dahinter steckte eine Entwicklung. Als Beauvoir dieses Buch schrieb, war sie 40 Jahre alt, also auch nicht mehr ganz jung. Eigentlich hatte sie das Frausein in ihrem bisherigen Leben nicht als Beschränkung empfunden. Rückblickend beschrieb sie ihre Haltung so: »Ich hielt mich nicht für eine Frau
, ich war ich .«
Diese Erfahrung, Mensch zu sein und sich nicht über das weibliche Geschlecht zu definieren oder auch darauf begrenzt zu werden, teilt Beauvoir ja mit vielen ihrer Zeitgenossinnen, die die neuen Möglichkeiten der Emanzipation, des Studiums, der intellektuellen Tätigkeit von Frauen nutzten: Hannah Arendt, die ein Jahr vor ihr geboren ist, Simone Weil, die ein Jahr jünger ist, usw.
Warum also fing Beauvoir an, sich plötzlich für das Frausein zu interessieren? Nach ihren eigenen Worten, war es Sartre, der sie auf die Idee brachte: »Ich hatte nie an Minderwertigkeitskomplexen gelitten, niemand hatte zu mir gesagt: Sie denken so, weil Sie eine Frau sind. Dass ich eine Frau bin, hatte mich in keiner Weise behindert. Für mich
, sagte ich zu Sartre, hat das sozusagen keine Rolle gespielt
- Trotzdem sind Sie nicht so erzogen worden wie ein Junge: Das muss man genauer untersuchen!
antwortete Sartre. Ich untersuchte es genauer und machte eine Entdeckung: Diese Welt ist eine Männerwelt.«
Diesen Abschnitt finde ich sehr merkwürdig. Sollte es wirklich so sein, dass eine kluge und intelligente Frau, eine Intellektuelle, die vor allem Wert auf die Beobachtung des Alltäglichen legte, 40 Jahre alt werden musste und den Anstoß eines Mannes brauchte, um zu bemerken, dass diese Welt eine »Männerwelt« ist? Sollte es ihr bis dahin tatsächlich nicht aufgefallen sein, dass die Sphären und Lebensumstände von Frauen und Männer sehr unterschiedlich sind? Dass nur Männer die Regierungen und die Wirtschaft leiteten? Das kann ich mir nicht vorstellen. Mit der »Entdeckung« der Welt als Männerwelt muss Beauvoir etwas anderes gemeint haben als die bloße Entdeckung einer damals so vollkommen offensichtlichen Tatsache wie der, dass Frauen benachteiligt waren.
Der eigentliche Kern ihrer »Entdeckung« bestand darin, dass diese Tatsache der Frauendiskriminierung einen anderen Grund hat als den, der landläufig dafür angegeben wurde. Denn nicht die Natur oder ein weibliches Wesen oder eine gottgegebene Veranlagung der Frau ist ihrer Analyse zufolge die Ursache für die unterschiedlichen Geschlechterrollen, sondern Beauvoir zeigt, dass die Vorstellungen, die wir uns von »Frausein« und »Mannsein« machen, immer kulturell geprägt sind. Das Frausein, entdeckte Beauvoir, hat keinen irgendwie gearteten »Kern«, keine »Natur«, an der man sich orientieren kann oder muss, sondern es ist durch und durch sozial konstruiert: »Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.« – so lautet ja auch der berühmte Schlüsselsatz aus dem »anderen Geschlecht«.
Gleichzeitig entdeckte Beauvoir, dass in einer patriarchalen Kultur das Allgemeine, das Universale, die Norm mit dem Männlichen gleichgesetzt wird, während das Weibliche demgegenüber ein »Zweites«, Nachrangiges, ist. Sie durchschaute also, dass das Weltbild der »getrennten Sphären« etwas für die westliche – und vor allem für die französische – Kultur so Grundlegendes und Wesentliches ist, dass es für die einzelne Frau unmöglich ist, daraus auszubrechen. Weil es bei den Geschlechterrollen nicht um eine einfache Trennung der Aufgabenbereiche geht, um eine pragmatische Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen, sondern weil das eine Geschlecht als Zentrum und das andere als auf dieses Zentrum bezogen gedacht wird. Daher nannte sie ihr Buch: »Das zweite Geschlecht« (im französischen Original), was – anders als der deutsche Titel – den Schwerpunkt auf die Rangordnung von Männlichem und Weiblichem legt. Sie entlarvt also die damals weit verbreitete Behauptung, die Geschlechter seien zwar unterschiedlich, aber doch gleichwertig, als Lüge und männliche Propaganda.
Wenn weibliche Nachrangigkeit und männliche Norm nicht nur gesellschaftliche Konventionen sind, sondern die gesamte Kultur durchziehen, dann kann sich selbst eine Frau, die diese Konventionen nicht teilt, diesem Dilemma des Frausein letzten Endes nicht entkommen.
Mit dieser Analyse unterscheidet sich Simone de Beauvoir von vielen anderen Philosophinnen ihrer Zeit. Hannah Arendt oder Simone Weil zum Beispiel, haben sich für diesen Aspekt nie sonderlich interessiert. Sie hielten die untergeordnete Position des Weiblichen für einen zwar unschönen, aber letztlich nicht so wichtigen Aspekt der Gesellschaft. Sich selbst sahen sie einfach als Menschen, sie orientierten sich schlicht und ergreifend nicht an den Konventionen von Weiblichkeit, und sie machten damit gute Erfahrungen.
Auch Simone de Beauvoir selbst hat damit ja gute Erfahrungen gemacht. Ihr unkonventionelles Leben hat Generationen von Frauen inspiriert, vermutlich mehr als ihre Bücher. Das wirft aber auch die Frage auf, ob Simone de Beauvoir nicht selbst der beste Gegenbeweis ihrer Thesen ist. Zeigt ihr Weg nicht, dass eine Frau sich durchaus aus den gesellschaftlichen Zuschreibungen von Weiblichkeit befreien kann?
Hier zeigt sich ein Missverständnis, das Beauvoirs Feminismus häufig ausgelöst hat, und das ich vorhin schon kurz angerissen habe. »Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es« – dieser Schlüsselsatz wurde ja häufig anders, und zwar falsch übersetzt: »Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht«. So als wollte sie sagen, dass die äußeren Umstände Frauen mehr oder weniger in bestimmte Verhaltensmuster hineinzwingen, dass sie sozusagen gegen ihren Willen zu einer bestimmten Art von Frau »gemacht« werden, wobei die Gesellschaft den aktiven Part, die Frau selbst aber den passiven Part hat.
Eine Frau zu werden, das ist aber gleichzeitig ein passiver und ein aktiver Prozess – und es war der aktive Part, also das, was wir Frauen selbst zum Frauwerden beitragen, der Simone de Beauvoir besonders interessiert hat. Ihren Feminismus kann man nicht verstehen, ohne zu bedenken, dass sie nicht in erster Linie Feministin war – das wurde sie erst im Zusammenhang mit der Frauenbewegung in den siebziger Jahren – sondern Philosophin, und zwar Mitbegründerin einer ganz bestimmten philosophischen Richtung, des Existenzialismus.
Existenzialismus bedeutet, dass das Wesen des Menschseins sich auf nichts gründen kann, das außerhalb seiner faktischen Existenz steht. Also: Weder Gott, noch die Vernunft, noch die Biologie oder die Natur geben vor, was richtig und falsch ist, was ein Mensch tun und lassen soll. Beauvoir hat schon sehr früh in diese Richtung gedacht. Regelrecht wie ein »Bekehrungserlebnis« schildert sie, dass sie im Alter von 14 Jahren plötzlich »entdeckte«, dass es keinen Gott gibt. Später baute sie das zusammen mit Sartre zu einer radikalen Philosophie aus: Das wichtigste Zentrum ihrer Ethik ist der einzelne Mensch, der Urteile darüber fällt, wie die Welt sein soll, und der sie dann entsprechend gestaltet – man sieht hier förmlich den alten Herrn Beauvoir auf seinem Richterstuhl thronen. Es gibt also keine andere Moral, als die, die die Menschen sich selbst geben. Das bedeutet, dass sich niemand auf die äußeren Verhältnisse stützen, aber auch nicht auf sie herausreden kann. Berühmt geworden ist dieses sehr radikale Verständnis von Freiheit durch Sartres provozierendes Beispiel, der sagte: Auch ein zum Tode Verurteilter in einer Gefängniszelle ist frei. Auf den Feminismus übersetzt bedeutet das: Auch eine Frau, die durch patriarchale Gesellschaft unterdrückt und gegängelt wird, ist nach der Lehre des Existenzialismus – frei.
Der Existenzialismus ist also eine Philosophie, die den Einzelnen eine sehr große Verantwortung aufbürdet. Leben ist harte Arbeit – so könnte man das zusammen fassen – denn wie ich lebe, was ich tue, das entscheidet darüber, was existiert, was real ist. Das höchste Gebot ist es für Simone de Beauvoir, ein aktives, reflektiertes Leben zu führen. Akribisch legt sie in ihren Romanen, in ihrer Autobiografie, in ihren Essays dar, wie anstrengend es ist, ein solches Leben zu führen. Nichts darf ich ungeprüft glauben, zu allem muss ich mir eine eigene, unbestechliche Meinung bilden. Und: Nichts ist privat, egal, was ich tue, alles hat eine existenzielle Bedeutung. Daher ihre große Disziplin beim Arbeiten, daher ihre schonungslosen Analysen selbst intimster Dinge. Bis zur Schmerzgrenze des Erträglichen macht sie Liebesbeziehungen, politische Auseinandersetzungen, moralische Dilemmata öffentlich. Und nichts hasst sie so sehr, wie »Zeitverschwendung«, wenn sie zum Beispiel auf Empfänge muss und mit langweiligen Leuten zu tun hat, wo doch draußen eine ganze interessante Welt auf ihr Urteil und ihr Handeln wartet.
In »Das andere Geschlecht« untersucht Beauvoir die kulturellen Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit nun im Hinblick auf dieses existenzialistische Menschenbild. Und sie stellt fest, dass Jungen und Mädchen nicht einfach nur unterschiedlich erzogen werden, was für sich genommen kein Problem wäre, weil ja niemand im leeren Raum lebt. Sondern dass die Jungen genau zu diesen existenzialistischen Werten erzogen werden – sie werden nämlich ermutigt und angeleitet, sich aus den familiären Beeinflussungen zu lösen, selbstständig zu werden, individuelle Wege zu gehen, ihr Leben in die eigenen Hand zu nehmen. Während die Mädchen dagegen eingeredet bekommen, dass eine solche Selbstbestimmung »unweiblich« sei und sie sich, um »gute Frauen« werden zu können, einem bestimmten, vorgegebenen Bild von »Weiblichkeit« anpassen müssten. Das heißt, Frauen werden durch die Erziehung geradezu davon abgehalten, das zu tun, was nach Beauvoirs Ansicht aber die moralische Pflicht eines jedes Menschen ist, nämlich sich ein eigenständiges Urteil über die Welt zu bilden und volle Verantwortung für die eigene Existenz zu übernehmen.
Dass diese Aufteilung der Geschlechterrollen so gekommen ist, ist nach Ansicht von Simone de Beauvoir nicht die Folge eines feindlichen Aktes der Männer, also zum Beispiel davon, dass kriegerische Kulturen matriarchale Kulturen ausgelöscht hätten oder davon, dass Männer ihre körperliche Stärke ausnutzten. Sondern sie hält diese Entwicklung für eine zwangsläufige Folge davon, dass Frauen Kindern gebären und Männer nicht. Die Mutterschaft bedeutete für Frauen ein Handicap, weil sie weniger flexiblel, weniger mobil waren als Männer, denn sie mussten ja auf Kinder Rücksicht nehmen mussten. Das hätten die Männer dann lediglich zu ihren Gunsten ausgenutzt, indem sie die Frauen zunehmend auf diese Tätigkeit festlegten.
Ein Hauptproblem sah Beauvoir in der Tätigkeit der Frauen als Hausfrauen und Mütter – eine Arbeit, die ihrer Meinung nach nur repetitiv, unkreativ, langweilig ist – hierin ist sie ganz ähnlich wie Hannah Arendt: »Eines Nachmittags half ich Mama beim Geschirrspülen; sie wusch die Teller, ich trocknete ab; durchs Fenster sah ich die Feuerwehrkaserne und andere Küchen, in denen Frauen Kochtöpfe scheuerten oder Gemüse putzten. Jeden Tag Mittagessen, Abendessen, jeden Tag schmutziges Geschirr! Unaufhörlich neu begonnene Stunden, die zu gar nichts führten – würde das auch mein Leben sein? … Nein, sagte ich mir, während ich einen Tellerstapel in den Wandschrank schob, mein eigenes Leben wird zu etwas führen.«
Das ist auch der Grund, warum sie die Frauen auffordert, sich aus allen weiblichen Rollen zu lösen und sich stattdessen ohne Wenn und Aber einen Zugang zur Welt der Männer zu verschaffen, sich in diese zu integrieren, sie sagt sogar, assimilieren. Ein Zitat: »Ich glaube nicht, dass etwas Besonderes von der Weiblichkeit zu erwarten ist. Trotz allem ist es doch eine Assimilierung, die wir anstreben, und nicht die Entwicklung spezifisch weiblicher Qualitäten. … Es ist eine Tatsache, dass die universale Kultur, die Zivilisation und die Werte alle von Männern geschaffen wurden … Die Frauen sollten in Gleichheit mit den Männern sich die von Männern geschaffenen Werte aneignen, statt sie abzulehnen.«
Diese sehr positive Einschätzung der männlichen Kultur werden wohl heute nicht mehr viele teilen. Heute wissen wir, dank der historischen Frauenforschung, auch mehr als zu Beauvoirs Zeiten, dass die Kultur und die Zivilisation zu einem großen Maße durchaus von Frauen geschaffen worden sind, und zwar gerade auch, insofern Frauen nicht dasselbe gemacht haben und denselben Werten gefolgt sind, wie Männer. Doch dies sollte uns nicht verführen, Beauvoir bzw. diesen Teil ihrer Philosophie zu den Akten zu legen. Denn die von ihr beschriebene Gefahr, dass Weiblichkeit idealisiert wird und der weibliche Beitrag zur Zivilisation und zur Kultur in den privaten, nicht-öffentlichen Bereich verbannt wird, die besteht auch heute noch, ebenso wie der Biologismus immer noch im Schwunge ist und durch die Gen- und Hirnforschungen derzeit sogar wieder Auftrieb hat. Trotzdem bleibt auch Beauvoirs Lösung unbefriedigend.
Es ist häufig darüber diskutiert worden, ob Simone de Beauvoir Mutterschaft und Hausarbeit generell ablehnt, oder ob sie nur die Form ablehnt, wie sie in patriarchalen Gesellschaften organisiert wird. In der Tat ist der Befund hier nicht ganz eindeutig. Klar ist, dass Haus- und Fürsorgearbeit für Beauvoir nachrangige, wenig wichtige Tätigkeiten sind. Ein Zitat: »Auf alle Fälle sind Gebären und Stillen keine Aktivitäten, sondern natürliche Funktionen, kein Entwurf ist dabei im Spiel und daher kann auch die Frau darin keinen Grund einer hochgestimmten Bejahung ihrer Existenz finden. Die häuslichen Tätigkeiten, denen sie sich widmet, da nur diese mit den Lasten der Mutterschaft sich vereinigen lassen, beschränken sie auf Wiederholung… Tag für Tag kehren sie in gleicher Form wieder, die fast unverändert die Jahrhunderte überdauert; es geht nichts Neues aus ihnen hervor.« – hier sieht man förmlich Mutter Beauvoir vor sich, wie sie Tag für Tag über ein langweiliges Nähkästchen gebeugt ihr Leben nutzlos verstreichen lässt.
Meiner Meinung nach ist der Knackpunkt bei diesem Thema nicht so sehr die Frage, wie Simone de Beauvoir die Mutterschaft bewertet, sondern die, welches Verständnis von Freiheit sie hat. Denn in gewisser Weise ist diese negative Beurteilung der mütterlichen Tätigkeiten eine logische Folge, wenn man unter Freiheit versteht, dass jemand ohne sich von äußeren Umständen beeinflussen zu lassen, seine eigenen Projekte in der Welt durchsetzt und verwirklicht. Wer sich um Kinder oder andere Abhängige kümmert, ist nämlich tatsächlich nicht so autonom und unabhängig, sondern steht in einer Art »Co-Abhängigkeit«, wie es die amerikanische Philosophin Martha Fineman es formuliert hat. Sie fordert deshalb, genau wie viele andere Feministinnen heute, dass wir einen neuen Freiheitsbegriff brauchen, der mit der Tatsache der gegenseitigen Abhängigkeit der Menschen vereinbar ist. Viele Frauen haben zum Beispiel in den letzten Jahrzehnten zum Thema Fürsorgeethik geforscht und gearbeitet und nach Möglichkeiten gesucht, Freiheit und Bezogenheit miteinander zu vereinbaren.
Aber heute ist ohnehin diese starke Betonung des einzigartigen Subjektes, das Kraft seines moralischen Urteils die Welt erschafft, ziemlich »aus der Mode« gekommen. Abgelöst wurde diese existenzialistische Sichtweise inzwischen vom so genannten Dekonstruktivismus, also jener Philosophie, die den Schwerpunkt darauf legt, dass es eine Unabhängigkeit des Subjektes überhaupt nicht geben kann, weil auch das Subjekt immer eingebettet ist in einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs, aus dem wir niemals ausbrechen können, auch nicht innerlich. Oder anders gesagt: Wir sind niemals frei, weder im Gefängnis, noch am Rednerpult oder auf dem Präsidentenstuhl oder an irgend einem anderen Ort.
In gewisser Weise schwankt die männliche Philosophie schon seit Jahrhunderten zwischen diesen beiden Extremen hin und her, also zwischen der Behauptung, es gebe ein unabhängiges Subjekt, auf der einen Seite, und der Einsicht, dass man sich kaum aus den Beeinflussungen lösen kann, auf der anderen.
Ich bin der Meinung, dass der Feminismus zu diesem philosophischen Dauerbrenner einen wichtigen Diskussionsbeitrag leisten kann, und zwar deshalb weil Frauen, die über den Sinn ihres Frauseins nachdenken, zwangsläufig Expertinnen für dieses Dilemma sind, Beauvoir bringt es gut auf den Punkt, wenn sie sagt: »Ich hielt mich nicht für eine Frau, ich war ich.« Denn das ist ja ein Zwiespalt, in dem wir Frauen uns immer befinden: Wir sind gleichzeitig Frauen und Individuen, also Personen, für die ihr Geschlecht nur eines von vielen Merkmalen und womöglich nicht einmal das wichtigste ist.
Doch noch einmal zurück zu Beauvoir als feministischer Theoretikerin. an ihrem Schicksal können wir auch viel über die Gefahr lernen, in die auch heute noch jede Frau gerät, die ihr Frausein thematisiert – und darüber, wie eine dann plötzlich in der Öffentlichkeit nur noch als Repräsentantin ihres Geschlechtes wahrgenommen wird. Mit gutem Grund hat nämlich Beauvoir »lange gezögert, ein Buch über die Frau zu schreiben«. Denn in der Tat markiert »Das andere Geschlecht« einen Wendepunkt.
Einerseits machte es Beauvoir auf einen Schlag berühmt, auch außerhalb der philosophisch interessierten Kreise, in denen sie sich bis dahin bewegt hatte. Viele Frauen lasen das Buch, es hatte schon damals eine enorme Auflage, gleich in der ersten Woche wurden über 20.000 Exemplare verkauft. Doch andererseits avancierte Beauvoir nun zu einer Art »Expertin für Frauenthemen«, und verlor damit den Status einer allgemein anerkannten Philosophin und Autorin. Bis zum »anderen Geschlecht« hatte man Beauvoir vor allem als Mitbegründerin des Existenzialismus gekannt, der damals ja so eine Art Mode-Philosophie war. 1944 hatte Beauvoir in ihrem Essay »Pyrrhus und Cineas« die Grundlinien des Existenzialismus dargelegt – ein höchst interessanter Text, den ich Ihnen sehr empfehle. Sie war also eine gefragte philosophische Rednerin im In- und Ausland.
Aber das änderte sich, als »Das andere Geschlecht« herauskam. Vorher, schreibt sie in ihrem Memoiren, habe sie niemals unter ihrem Frausein gelitten. Zitat: »Nach dem Erscheinen von L’Invitée – das war ihr erster Roman – behandelte mich meine Umgebung gleichzeitig als einen Schriftsteller und als eine Frau.« Erst nachdem »Das andere Geschlecht« heraus war, so erinnert sie sich, »geschah es oft, dass ich als Frau angegriffen wurde, weil man glaubte, mich an einer verwundbaren Stelle zu treffen.«
Ein Problem war dabei, dass sich die übrigen Existenzialisten, inklusive Sartre, das Anliegen des Feminismus nicht zu Eigen machten. Das heißt, die Analyse der Geschlechterverhältnisse blieb Beauvoirs persönliches Projekt, es wurde nicht in die existenzialistische Gesamtbewegung integriert. Es ist in gewisser Weise geradezu tragisch: Genau deshalb, weil Beauvoir die Zweitrangigkeit des Weiblichen thematisiert hatte, rückt sie selbst als Philosophin in den Schatten Sartres. Der Blick auf ihr Frausein veränderte sich, man interessierte sich fast mehr für ihr Privatleben als für ihr Denken. Nun plötzlich spielte die Tatsache, dass sie eine Frau war, eine Rolle – und das bis heute. So schreibt die »Zeit« vor zwei Wochen im Vorspann zu einem Artikel über Beauvoir: »Sie war nicht nur die Lebensgefährtin Jean Paul Sartes, sondern auch eine der bedeutendsten Frauenrechtlerinnen« – dass Beauvoir Philosophin und Schriftstellerin war, scheint gar nicht von Interesse zu sein.
Aber auch die Frauenbewegung, die Beauvoir in den 70er Jahren zu ihrer Galionsfigur machte, hat allzu häufig in Beauvoir nicht die originelle Denkerin, sondern die Repräsentantin ihres Geschlechts gesehen. Hat aus ihren Werken nur das herausgepickt, was ihr in den Kram passte, und nicht wirklich den Dialog mit dem Existenzialismus gesucht. Eine angemessene Auseinandersetzung mit Beauvoir kann aber meiner Ansicht nach nur darin bestehen, mit ihr in einen echten Austausch zu treten, was immer gleichzeitig bedeutet, von ihr zu lernen und sie kritisch zu befragen. Und dazu möchte ich nun zum Schluss noch einige Überlegungen anstellen.
Dabei spielt natürlich eine Rolle, dass seit ihrer Analyse fast 60 Jahre vergangen sind. Wenn man »Das andere Geschlecht« heute wieder liest, ist geradezu frappant, wie vieles sich im Leben von Frauen seither verändert hat. Vor allem in der Erziehung und in der Bildung von Mädchen ist nichts mehr so, wie Beauvoir es beschreibt. Mädchen werden heute ja nicht mehr zu schüchternen Hausmütterchen erzogen, im Gegenteil: Sie durchlaufen die Bildungsinstitutionen deutlich erfolgreicher als Jungen, sie werden von ihren Müttern und Lehrerinnen zum eigenständigen Denken ermutigt.
Allerdings ist trotz dieses Umschwungs in der Mädchenerziehung keineswegs das feministische Paradies auf Erden ausgebrochen. Vielmehr hat sich der Moment, in dem sich die Schere zwischen männlichen und weiblichen Lebensmöglichkeiten auftut, nach hinten verschoben: Nicht mehr in der Schule, sondern beim zweiten und dritten Karriereschritt driftet es auseinander. Sie kennen ja die entsprechenden Studien.
Ein Grund dafür ist nach wie die Fürsorgearbeit, die immer noch hauptsächlich von Frauen gemacht wird. Dies ist definitiv erstaunlich, weil sich ansonsten nämlich auch auf diesem Gebiet etwas Wichtiges verändert hat: Während zu Beauvoirs Zeiten ganz selbstverständlich klar war, dass Kindererziehung und -betreuung, Hausarbeit, Pflege von Alten und Kranken und so weiter die Aufgaben von Frauen sind, ist die Rhetorik heute eine gänzlich andere. Alle relevanten gesellschaftlichen Kräfte, inklusive die Konservativen, lassen keine Gelegenheit aus, zu betonen, dass es sich dabei um gemeinsame Aufgaben von Frauen und Männern handelt. Das geht so weit, dass wir nur noch in streng geschlechtsneutralen Begriffen über das Thema sprechen: Wir reden nicht mehr von Müttern, sondern von Eltern, nicht mehr von Krankenschwestern, sondern von Pflegekräften, nicht mehr von Putzfrauen, sondern von Reinigungspersonal.
Simone de Beauvoir wäre das wahrscheinlich phantastisch vorgekommen. Ihr selbst ist jedenfalls die Idee, dass diese Fürsorgearbeiten zum Teil von Männern übernommen werden könnten, überhaupt nicht in den Sinn gekommen – angeblich konnte Sartre ja Zeitlebens nicht mal Spiegeleier braten. Andererseits war sie in dieser Hinsicht vielleicht auch nur realistischer als wir. Denn wenn wir uns anschauen, was in der Realität wirklich passiert ist, ist die Veränderung weit weniger dramatisch: Es sind immer noch zu 95 Prozent die Mütter, die die Kinder erziehen, und zu 90 Prozent Frauen, die putzen, Kranke pflegen und so weiter.
Aber was den Feminismus betrifft, so haben nicht nur dieses »Vereinbarkeitsproblem«, über das ja inzwischen sehr ausführlich und bis in die obersten Bereiche der Politik hinein diskutiert und nachgedacht wird. Darüber vergessen wir manchmal, dass auch viele Frauen, die keine Kinder haben oder die die Betreuung ihrer Kinder gut organisieren konnten, sich in den öffentlichen Institutionen, in den Konzernen, den Universitäten, den Verwaltungen und so weiter keineswegs so richtig zu Hause fühlen. Es ist nicht nur die Doppelbelastung, die Frauen hier fernhält, sondern auch ein Unbehagen, eine gewisse Unvereinbarkeit, eine irgendwie auf Gegenseitigkeit beruhende Antipathie. Diese Antipathie müssten wir genauer untersuchen, und zwar genau den Aspekt, wo sie den Willen von Frauen betrifft, sich an bestimmten Orten nicht zu engagieren, sich etwa um bestimmte Posten gar nicht erst zu bewerben, nicht jeden Kompromiss mit dem Arbeitsleben einzugehen und so weiter.
Wahrscheinlich sind wir heute an einer weiteren Etappe des Feminismus angelangt. Simone de Beauvoir hat vor 60 Jahren gezeigt, dass Feminismus sich nicht mit dem Wahlrecht erschöpft. Und wir sehen heute, dass Feminismus auch mehr sein muss als die formale Gleichstellung der Frauen mit den Männern, weil diese Gleichstellung zwar bestimmte Benachteilungen von Frauen bekämpfen kann, an der grundsätzlichen Unterordnung des Weiblichen unter das Männliche aber nichts verändert.
Wir brauchen also nicht noch ein weiteres Fördergesetz oder noch ein paar Euro mehr für erziehungswillige Väter oder noch ein paar Wie-werde-ich-Topmanagerin-Kurse für Frauen. Das alles ist nur Flickwerk, solange wir uns nicht noch einmal der grundsätzlichen Frage zuwenden, die Simone de Beauvoir ihr ganzes Leben beschäftigt hat: Was ist Freiheit? Wie wollen wir leben? Wie gestalten wir unsere Beziehungen? Was ist der Sinn unseres Lebens? Wie wollen wir tätig sein – auch jenseits der Anforderungen des Arbeitsmarktes?
Auf dem Weg zu einer Welt, in der Frauen und Männer mit Wohlbehagen leben, in der das Weibliche nicht mehr als dem Männlichen untergeordnet gilt, in der Frauen also nicht mehr das »zweite« Geschlecht sind, auf diesem Weg war das Wahlrecht eine ganz wichtige Etappe. Und auch die Gleichstellungspolitik, für die das Denken von Beauvoir ein entscheidender Anstoß war, ist eine oft nützliche und vielleicht auch notwendige Etappe auf diesem Weg. Allerdings beinhaltet sie gleichzeitig auch die Gefahr, und die ist heute sehr viel größer als zu Zeiten von Beauvoir, dass das Weibliche unsichtbar gemacht und für irrelevant erklärt wird. Oder dass Frauenpolitik in einer ansonsten weiterhin männlich geprägten Kultur für andere Zwecke instrumentalisiert wird, zum Beispiel einen neoliberalen Umbau der Wirtschaft.
Es liegt an uns, dass dies nicht passiert, dass wir weiterhin für die weibliche Freiheit kämpfen, für die Freiheit der Frauen, die Welt nach ihren Wünschen zu gestalten, ohne dabei an irgendwelchen äußeren Maßstäben von Weiblichkeit gemessen zu werden, wie das Simone de Beauvoir so scharfsinnig und nach wie vor gültig kritisiert hat. Aber eben auch, und das würde ich an dieser Stelle gerne anfügen, ohne sich dabei an die vorgegebenen Maßstäbe und Werte einer männlichen Kultur anpassen zu müssen. Auf jeden Fall sollten wir uns dabei Beauvoirs Appell zu Herzen nehmen, dass wir Verantwortung für diese Welt tragen, dass wir uns nicht ins Private zurückziehen, dass wir uns nicht hinter anderen verstecken, den Männern, der Gesellschaft, wem auch immer.
Möglicherweise könnten wir uns dabei eine abgewandelte Variante von Beauvoirs berühmten Satz zum Leitbild nehmen. Sie wurde kürzlich von einer Teilnehmerin bei einer Frauentagung vorgeschlagen und gefällt mir sehr gut: »Man wird zwar als Frau geboren, es kommt aber darauf an, was eine daraus macht.«
Vortrag am 9.1.2008 im Evangelischen Frauenbegegnungszentrum, Saalgasse 15