Antje Schrupp im Netz

Hanny Lightfoot-Klein: Der Beschneidungsskandal, Orlanda Frauenverlag, Berlin 2003, 192 Seiten, 15,50 Euro

Marion Hulverscheidt: Weibliche Genitalverstümmelung. Diskussion und Praxis in der Medizin während des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum, Mabuse-Verlag, Wissenschaft 63, Frankfurt am Main 2002, 189 Seiten, 21 Euro

Seit das Thema von der Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking auf die politische Tagesordnung gesetzt wurde, ist das Interesse, vor allem bei westlichen Feministinnen und Frauenpolitikerinnen, an der Praxis der Genitalverstümmelung gewachsen. Dabei machen sich die politischen Diskussionen vor allem an der Situation in Afrika fest, wo die operative Manipulation der weiblichen Genitalien in vielen Regionen (wenn auch nicht in allen) üblich ist – je nach Land können bis zu 80 Prozent der Mädchen, meist vor oder während der Pubertät, diesen schmerzhaften Prozeduren unterzogen werden: Praktiziert werden etwa das Wegschneiden der Klitoris (Klitorektomie), der Schamlippen (Exzision), der Klitorisvorhaut (Zirkumzision) und als grausamste Maßnahme der Verschluss der Scheide (Infibulation), wobei nur eine kleine – meist zu kleine – Öffnung für den Abfluss des Urins und des Menstruationsblutes gelassen wird.

Trotz der offensichtlich berechtigten Kritik an der Genitalverstümmelung bleibt ein schaler Beigeschmack: Viele Afrikanerinnen kritisieren an dem westlichen Herangehen doch eine gewisse Überheblichkeit, mit dem die vermeintlich »aufgeklärten« Länder auf die »rückständigen« Gegenden Afrikas schauen. Gerade diese westliche Überheblichkeit macht nämlich oft Aktionen vor Ort schwerer, weil es einen Reflex gegen die kulturelle Beeinflussung von Außen, hin zur Bewahrung eigener, indigener Kulturen auslöst. Ein gewisses Problem bereitet Feministinnen auch die Tatsache, dass Genitalverstümmelungen fast ausschließlich »Frauensache« ist, das heißt, sie wird nicht nur an, sondern auch fast überall von Frauen vorgenommen, und es sind oft auch die Frauen, die sich am vehementesten für die Beibehaltung dieser »Tradition« einsetzen.

Zwei neue Bücher zum Thema versuchen, in diesem Zusammenhang den Blick zu weiten. Die US-Amerikanerin Hanny Lightfoot-Klein hat mehrere Jahre in Kenia, Ägypten und dem Sudan gelebt und gilt inzwischen als Expertin auf diesem Gebiet. In ihrem Buch versucht sie, das Thema Genitalverstümmelung als globales Phänomen zu betrachten, das nicht allein ein afrikanisches Problem ist. So weist sie darauf hin, dass die operative Manipulation von Genitalien auch in westlichen Ländern verbreitet ist: Die Beschneidung von Männern etwa ist nicht nur in der jüdischen Bevölkerung, sondern in vielen Ländern Usus. So wird etwa 80 Prozent aller männlichen Neugeborenen in US-amerikanischen Krankenhäusern die Vorhaut entfernt – ohne medizinischen Grund und mit die Sexualität beeinträchtigenden Folgen, wie Lightfoot-Klein und Anti-Beschneidungs-Aktivisten in den USA meinen. Ein anderer Ort, wo operative Manipulationen an den Genitalien von Kindern als selbstverständlich betrachtet werden, sind die Fälle von sexueller »Uneindeutigkeit«. Kinder, deren Penis nach Ansicht der Mediziner zu klein (in den USA: kleiner als 25 Millimeter) oder deren Klitoris zu groß ist (länger als 9,4 Millimeter) werden in der Regel operativ »vereindeutigt«, das heißt durch »Wegschneiden« des Penis oder eines Teiles der Klitoris zum Mädchen gemacht. In den USA sind jedes Jahr Zehntausende, in Deutschland rund 350 Kinder betroffen. Auch hiergegen formiert sich inzwischen Widerstand einer wachsenden »Intersex«-Community, die für die sexuelle Unversehrtheit von Kindern eintritt.

Auch wenn solche westliche Praktiken sowohl was die Häufigkeit als auch was die Grausamkeit und Schmerzhaftigkeit betrifft, nicht an die Verstümmelungspraktiken gegen Frauen in Afrika heran reichen, so zeigen sie doch, wie leicht eine Gesellschaft die angebliche Notwendigkeit, an den Genitalien von Kindern herumzuschneiden, akzeptiert. In den weiteren Kapiteln ihres Buches informiert Lightfoot-Klein über die verschiedenen Beschneidungsformen afrikanische Länder und geht insbesondere auf die gesellschaftlichen Begründungszusammenhänge ein, ohne dabei den moralischen Zeigefinger allzu hoch zu heben. Besonders aufschlussreich ist ihre Bilanz der bisherigen Versuche, etwas dagegen zu unternehmen: Welche Aktionen waren erfolgreich – und welche nicht? An konkreten Beispielen zeigt sie auf, dass es etwa gelingen kann, solche Traditionen zu verändern, indem andere Initiations-Rituale eingeführt werden, die Mädchen einen kulturell akzeptierten Übergang ins Erwachsenenalter ermöglichen. Erfolge gibt es auch, wenn die Bildungs- und Erwerbsmöglichkeiten von Frauen verbessert werden oder wenn einflussreiche Familien oder Dörfer sich solchen Praktiken widersetzen. Weniger erfolgversprechend sind hingegen staatliche Programme und Gesetzesinitiativen, die »von oben« durchgesetzt werden sollen, weil sie den Widerstand der Betroffenen geradezu herausfordern. Das Buch ist eine gute Grundlage für alle, die sich für das Thema interessieren, auch wenn die einzelnen Kapitel und Aspekte etwas unvermittelt nebeneinander stehen und die teilweise sehr langen und zahlreichen Zitate die Lektüre manchmal etwas schwierig machen.

Auf die vergessene (und verdrängte) Geschichte der Genitalverstümmelung gegen Frauen im Europa des 19. Jahrhunderts macht Marion Hulverscheidt mit ihrer Dissertation aufmerksam. Aus den medizinhistorischen Annalen weitgehend verschwunden ist nämlich die Tatsache, dass auch in Frankreich, England und Deutschland das Wegschneiden oder Weg-Ätzen von Schamlippen oder vor allem der Klitoris lange Zeit unter Medizinern als »Heilmethode« diskutiert und durchaus auch praktiziert wurde – teilweise bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts. Geheilt werden sollten so »Krankheiten« wie Masturbation, Nymphomanie (zu großer Geschlechtstrieb), Tribadie (Lesbianismus) oder vergrößerte Klitoris oder Schamlippen. Legendär wurde dabei der Fall des englischen Arztes Baker Brown in den 1860er Jahren, der die Klitorisentfernung bei zahlreichen Patientinnen, teilweise ohne ihre Einwilligung, vornahm. Da Brown dafür von der Mehrheit seiner Kollegen kritisiert und schließlich aus ihrer Zunft ausgeschlossen wurde, gelten solche Praktiken heute als »Verirrungen« und Einzelfälle. Hulverscheidt widerspricht dieser Interpretation mit guten Gründen: Denn erstens war Brown keineswegs ein Einzelfall, und zweitens argumentierten seine Gegner auch nicht in erster Linie mit dem Hinweis auf das Recht der Frauen auf körperliche Unversehrtheit.

Dass Masturbation, »übermäßiger« Geschlechtstrieb oder lesbische Liebe gesundheitsschädlich seien, ja dass sie körperlichen Verfall bis hin zum Tode verursachten, war seit dem späten 18. Jahrhundert unhinterfragte Meinung in Europa – und diese Pathologisierung und Negierung der weiblichen Sexualität unterscheidet sich kaum von den entsprechenden Begründungen, die heute in Afrika zugunsten der Genitalverstümmelung vorgebracht werden. Jedoch war man damals in Europa der Ansicht, dass Frauen nur schwanger werden können, wenn sie einen Orgasmus haben. Eine operative Klitorisentfernung stand daher in dem Verdacht, Frauen für ihre Rolle als Mutter sozusagen »unbrauchbar« zu machen. Gegen eine medizinische Handhabung des »Problems« der weiblichen Sexualität machte im Übrigen auch die Kirche Front, die nämlich vor allem »geistige« Ursachen ausmachte und daher »Therapien« wie starke Sozialkontrolle, Festbinden, Einsperren, Diät und andere Disziplinierungsmaßnahmen favorisierte. Anders gesagt: In Europa ging es, anders als in Afrika, im Bezug auf die weiblichen Genitalien und die Sexualität von Frauen vor allem um eine Frage moralischer Schuld. Frauen sollten sozusagen »freiwillig« auf das Ausleben ihrer Sexualität verzichten, das Problem der Unmoralität sah man mit einer rein operativen Verunmöglichung des Sexuallebens als nicht gelöst an. Dies – und nicht eine ethische Haltung zur körperlichen Unversehrtheit – ist der Grund, warum die Genitalverstümmelung an Frauen sich in Europa nicht in großem Maßstab etablierte.


in: Virginia, Frauenbuchkritik, Frühling 2004