Antje Schrupp im Netz

Was wäre wenn?

Weibliches Begehren und die Stärke des Neuanfangs

Auf dem Planeten Gethen, am Rande unserer Galaxis, haben die Menschen eine Religion, die das Unwissen feiert. Dem Besucher von der Erde erklären sie das so: »Das Leben basiert auf dem Unbekannten, dem Unvorhergesehenen, dem Unbewiesenen. Unwissen ist die Grundlage allen Denkens. Unbewiesenheit ist die Voraussetzung der Tat. Das einzige, was das Leben überhaupt ermöglicht, ist die ständige, unerträgliche Ungewissheit: ist, nicht zu wissen, was als nächstes geschieht« – so eine Passage aus dem Roman »Winterplanet« von Ursula K. Le Guin, einer Science Fiction-Geschichte aus dem Jahr 1967.

Das Unwissen zu feiern erscheint uns heute geradezu absurd. Viel mehr versuchen wir bei unseren Planungen normalerweise, jede Ungewissheit möglichst zu vermeiden. Immer ausgefeiltere Prognosen und Hochrechnungen versprechen, in die Zukunft schauen zu können. Je genauer man das Ziel vorher schon eingrenzen kann, für desto »realistischer« hält man es. Doch auf diese Weise entsteht ein geschlossener Kreis, in den nichts Neues hinein kommen kann.

Dahinter steckt meiner Ansicht nach ein Missverständnis. »Das Neue« wird verstanden als etwas, das Menschen sich ausdenken, um dann Mittel und Wege zu finden, an dieses Ziel zu gelangen. Genauso entsteht aber gerade nichts Neues, weil nämlich diese Ziele, die wir uns ausdenken können, immer schon jetzt in unserer Vorstellungswelt angelegt sein müssen, also in Wahrheit alt sind.

Wie wäre es hingegen, wenn wir uns eingestehen, dass unsere Ziele alles andere als klar sind? Sowohl die persönlichen, als auch die gesellschaftlichen oder politischen? Dass das Neue nicht dadurch in die Welt kommt, dass wir es erfinden, sondern dadurch, dass wir einen neuen Anfang setzen und das Risiko des Ungewissen eingehen? Weil wir nichts über die Zukunft sagen können, sondern nur etwas über das Hier und Jetzt, über unser eigenes Begehren nämlich?

Vom Begehren zu sprechen lenkt die Aufmerksamkeit weg von dem, was mir fehlt, von dem, was ich in Zukunft einmal haben will, hin auf das, was ich habe, auf das Begehren nämlich, das am Anfang steht und mich motiviert, etwas zu tun. Wenn ich etwas fordere, dann steht das Ziel bereits fest: Mein Ziel ist das, was ich fordere, zu bekommen. In diesem Sinne war zum Beispiel die Emanzipation der Frauen, also ihre Gleichstellung mit den Männern, so ein »realistisches« Ziel. Seine Umsetzung war vorhersehbar, das Modell für weibliche Freiheit nur eine Kopie der männlichen, altbekannten.

Aber das Begehren der Frauen ging und geht weit darüber hinaus. Was sie begehren ist unbestimmt: eine gute Welt, ein schönes Leben, für Frauen und Männer. Wobei sie selbst nicht genau wissen, was damit gemeint ist, weil niemand das wissen kann. Aber das heißt eben nicht, dass man es nicht begehren kann. Das Begehren öffnet Wege für das Unvorhergesehene. Es scheut sich nicht, zuzugeben, dass es ohne die Hilfe von anderen nicht erfüllt werden kann. Und alles ist erlaubt, auch das scheinbar Unmögliche, das Unrealistische, auch das, was wir sowieso nicht erreichen können, nach herkömmlichen Maßstäben, logisch gedacht.

Es geht dabei, wohlgemerkt, nicht um Utopien. Diesen Unterschied hat zum Beispiel Ursula Le Guin immer betont. In ihren Romanen will sie keine »schöne, neue Welt« fix und fertig entwerfen, sondern sie wählt einen Anfangspunkt und stellt dann spielerisch die Frage: Was wäre wenn? Zum Beispiel: Was wäre, wenn die Menschen kein Geschlecht hätten? Was wäre, wenn Computer Gefühle hätten? Sie überlegt sich also einen Anfang für ein Gedanken-Experiment. Und probiert dann schreibend aus, was für eine Geschichte sich daraus entwickelt.

Wer gerne Biografien liest, wird das vielleicht bestätigen können: Ich denke zum Beispiel an Dorothea Erxleben, die erste deutsche Ärztin. Sie hatte sich nicht vorgenommen, als erste Frau Akademikerin zu werden, sondern sie fing einfach an, Kranke zu behandeln, und daraus entwickelte sich dann eine Geschichte – an deren Ende die Zulassung der Frauen zu den Universitäten stand. Oder Victoria Woodhull, die sich im Jahr 1872 als Präsidentschaftskandidatin der USA aufstellen ließ. Sicher nicht, weil sie sich das realistische Ziel gesetzt hatte, gewählt zu werden, 50 Jahre vor Einführung des Frauenwahlrechts. Sondern weil sie wissen wollte: Was wäre, wenn? Was passiert, wenn ich es einfach mal probiere?

Hätten diese Frauen »vom Ende her« gedacht, also von ihren Zielen her, wären sie vermutlich gescheitert. Sie hätten sich verkämpft, verrannt und schließlich verloren oder resigniert. Aber sie dachten vom Anfang her: von ihrem Begehren, das sie motivierte, einen neuen Weg zu gehen, einen neuen Anfang zu machen, und offen zu sein, für das, was daraus folgt, ohne es alleine in der Hand haben zu wollen, ohne es kontrollieren zu können.

Der Anfang von etwas Neuem ist immer eine kleine Sache. Das Neue beginnt nicht mit großen Armeen oder mit Mehrheiten in Parlamenten oder einer großen Werbekampagne. Sondern klein, als Handeln einer oder eines Einzelnen, die einfach damit anfängt. Weshalb es im Allgemeinen leicht zu übersehen ist, und auch in den Medien selten über etwas wirklich »Neues« berichtet wird.

Im Begehren den Motor für Veränderung zu sehen, und nicht in den Zielen, die man sich setzt, das bedeutet ein radikales Umdenken. Es bewirkt eine neue Sicht auf die Welt. Nicht mehr vom Ende her zu denken, also von dem optimalen Zustand, den ich mir ausdenke, sondern vom Anfang her zu denken, von dem Begehren, das ich in mir spüre. Nicht von dem auszugehen, was mir fehlt, sondern von dem, was ich habe: Mein eigenes Begehren, das mir Stärke und Energie gibt. Weil es mich offen macht, für Unvorhergesehenes, weil ich mich nicht mehr an allen möglichen Fronten verkämpfe, weil es mir nicht mehr ums Prinzip geht, sondern ich mich auf das konzentriere, was mir wichtig ist.

Das Begehren ist, so könnte man sagen, diejenige Kraft, die eine Verbindung herstellt zwischen uns als Individuum, der Welt, so wie sie ist, den Menschen, mit denen wir in Beziehungen stehen, und dem Transzendenten – dem Neuen schlechthin.


In: efi (Ev. Fraueninformation Bayern), 1-2009

Eine längere (Vortrags)-Version dieses Textes steht hier