Antje Schrupp im Netz

Movements and Moments

Vortrag zur Eröffnung der Comic-Ausstellung in Zeitraumexit Mannheim, 26.2.2022

Vielen Dank für die Einladung, hier zu sprechen

Die Ausstellung und ihr Thema vereint zwei Leidenschaften von mir – Comics und die Geschichte des Feminismus.

Mit großer Freude habe ich die Arbeiten gelesen und angeschaut.

Vor allem die Vielfalt der Stile und die Schönheit der darin gezeigten Frauen, nicht binären Menschen, der Kämpfe, der Freude und der Optimismus machen Spaß.

Anfangs hatte ich die Bücher nur im Original und konnte bei viele davon die Texte nicht verstehen – aber auch so war es eine wahre Freude, darin zu blättern. Aber dann bekam ich sei zum Glück auch noch auf Deutsch.

Denn die darin erzählten Geschichten, die portraitieren Personen, die geschilderten Ereignisse – sie waren mir alle bis dato unbekannt. Denn in dem Wissenskanon, mit dem ich hier in Deutschland aufgewachsen sind, kommen diese Geschichten nicht vor.

Aber das Gefühl: hier entdecke ich etwas Neues, das wichtig ist und das man mir bisher verschwiegen hat – das war für nicht neu. Ich kannte es schon aus der Frauenbewegung.

Ich bin 1964 geboren, das heißt, ich habe die 1980er Jahre als junge Frau erlebt. Diese Jahre waren die Zeit, in der die so genannte „historische Frauenforschung“ erfunden wurde, nicht von den Universitäten, die dafür eigentlich zuständig wären, sondern von Feministinnen.

Sie fingen an, vergangene Jahrhunderte zu durchforschen auf der Suche nach den Spuren von Frauen. Und sie entdeckten Unglaubliches. Wichtige Persönlichkeiten, Erfinderinnen, Politikerinnen, Philosophinnen. Sie entdeckten, dass Jesus nicht nur Jünger hatte, sondern auch Jüngerinnen, …. Sie entdeckten Autorinnen wie Christine de Pizan, die Anfang des 15. Jahrhunderts in ihrem Buch „Stadt der Frauen“ eine Art weibliche Utopie entworfen hat. Sie entdecken untergegangene Matriarchate in der archäologischen Erforschung der frühen Menschheitsgeschichte. Sie entdeckten Philosophinnen, die auf dem Scheiterhaufen der Inquisition verbrannt wurden, Künstlerinnen wie Camille Claudelle, die eine patriarchale Kultur Jahrzehnte lang in ein Irrenhaus sperrten, sie entdeckten Politikerinnen, die für die Rechte der Frauen eingetreten waren, lange vor unserer Geburt.

Wir waren überrascht, wie viele das waren, wie unglaublich viele. Und wie effektiv sie aus der Erinnerung getilgt worden waren. Ich selbst habe zum Beispiel über Victoria Woodhull geforscht, die genau vor 150 Jahren, im Jahr 1872, als erste Frau für die Präsidentschaft der USA kandidiert hat. Sie war zu ihrer Zeit extrem berühmt, tausende von Menschen kamen zu ihren Vorträgen, sie war fast täglich auf den Titelseiten der Zeitungen. Aber niemand kannte sie noch.

Von heute aus gesehen, wo es viele Frauen in öffentlichen Ämtern gibt, nicht nur vereinzelt, sondern häufig und regelmäßig, kann man sich vielleicht gar nicht mehr vorstellen, was für eine Entdeckung das für die Feministinnen der 1970er und 1980er Jahre gewesen ist, die ihre eigene Kindheit noch zu einer Zeit erlebt haben, in der es auf der öffentlichen Bühne praktisch ausschließlich Männer gab.

Heute sind wir wieder an einem anderen Punkt. Wir stellen fest, dass nicht nur die Geschichte der Frauen im bürgerlichen Wissens-Kanon und den Geschichtsbüchern fehlte, sondern auch die Geschichte der nicht-europäischen Kulturen und Gesellschaften.

2014 fragte mich der Unrast-Verlag, ob ich zusammen mit der Zeichnerin Patu einen Comic zur „Geschichte der Frauenbewegung“ machen will. Wir besprachen uns kurz und sagten zu, aber schnell wurde uns klar, dass wir keine Geschichte des Feminismus schreiben könnten, sondern nur eine „Kleine Geschichte des Feminismus im euro-amerikanischen Kontext“. Es war uns wichtig, zu betonen, dass auch die Geschichte des Feminismus nicht nur eine Geschichte ist, sich nicht in den Kämpfen und Ideen westeuropäischer und US-amerikanischer Denkerinnen und Aktivistinnen erschöpft.

Und ich denke, dass dieses Wissen inzwischen in einem Großteil der Frauenbewegung bekannt und verankert ist. In Deutschland haben wir seit 2008 das Missy Magazine, das seit seiner Gründung großen Wert auf eine intersektionale Perspektive legt.

Inzwischen, das kann ich von verschiedenen Begegnungen durch meine Arbeit als Politikwissenschaftlerin und auch Beraterin sagen, ist das Bemühen darum sehr weit verbreitet, bei der kommunalen Gleichstellungsbeauftragten Kommune ebenso wie bei der Buchhändlerin einer Kleinstadt, die eine Lesung plant. Viele bemühen sich aktiv darum, den Horizont breiter zu spannen.

Damit will ich nicht sagen, dass schon alles in Butter ist oder es keinen feministisch begründeten Rassismus mehr gibt oder das wir nicht mehr wachsam und selbstkritisch sein sollten. Aber ich will doch dafür appellieren, dass wir als Frauenbewegung oder als feministische Bewegung unser Licht nicht unter den Scheffel stellen sollten.

Denn Intersektionalität, also eine Perspektive und ein Bewusstsein dafür, dass die europäisch-westlich geprägt Position nicht eine universale, die einzig relevante ist, sondern partikular, eine unter vielen, und dass sie mit anderen Positionen auf Augenhöhe interagieren muss – das ist ja nichts, was nur den Feminismus oder die Frauenbewegung etwas angehen sollte. Es betrifft doch jeden gesellschaftlichen Bereich, jede Kulturproduktion, jede Form von gesellschaftlichem und politischem Aktivismus. Und, ganz ehrlich – ich kenne kaum einen anderen gesellschaftlichen Bereich in Deutschland, in dem zumindest das Bewusstsein für diese Herausforderung so verbreitet und so selbstverständlich geworden ist, wie unter Feministinnen.

Intersektionalität hat viele Aspekte. In vielen Comics dieser Ausstellung werden insbesondere drei Achsen von Diskriminierung thematisiert: Geschlecht, Armut und Reichtum, indigene und westlich-europäische Kultur.

Tatsächlich galten in der rassistischen Tradition Europas vor allem indigene Kulturen lange Zeit als inhärent frauenfeindlich, weil manche ihrer kulturellen Praktiken nicht mit einem westlichen Verständnis von Gleichstellung und Emanzipation der Frauen zusammenpassten. Diese Sichtweise ist auch leider nicht ausgestorben, ganz im Gegenteil, in manchen Kreisen beddds politischen Analysen verloren. Zumindest nehme ich das so wahr, und ich finde, das ist es durchaus Wert, das wir es zur Kenntnis nehmen.

Das Thema taucht auch in den Comics auf: Manche der Geschichten beschäftigen sich mit der Akzeptanz von queeren Personen und zeigen, dass es in indigenen Kulturen unter Umständen akzeptierendere Haltungen gibt. Gleichzeitig können wir die Geschichte aber auch nicht so erzählen, dass außerhalb von Europa in Bezug auf Geschlechternormen alles prima gewesen sei und das Problem erst mit dem Auftauchen der Kolonisation überhaupt dorthin gekommen wäre.

Sondern es ist vielmehr so, dass unterschiedliche Vorstellungen von Geschlecht durch die Kolonisierung und auch die Globalisierung einander begegnen und das dann bestimmte Dynamiken auslöst. Genau zu diesem Thema hat die argentinisch-brasilianische Anthropologin Rita Segato geforscht, die leider zu Unrecht in Deutschland ganz unbekannt ist (anders als in Südamerika).

Gerade ist bei Mandelbaum ihr Buch „Wider die Grausamkeit“ herausgekommen, das ich euch sehr empfehle, es sind drei Vorträge , und es ist das erste Mal, dass Texte von ihr als Buch auf Deutsch erschienen sind.

Segato hat bei ihren Forschungen einen gefährlichen Trend beobachtet, dass nämlich traditionelle indigene Geschlechterordnungen gerade durch die Begegnung mit westlichen Emanzipationsvorstellungen eine Dynamik erhalten, die zu einer Patriarchalisierung dieser Gemeinschaften führen und auch zu einem Anstieg von Gewalt gegen Frauen. Das hat ihrer Ansicht nach vor allem die Ursache, dass das westliche, universalistische Männlichkeitsbild ein Angebot für margialisierte indigene oder auch afrodeszendente Männer darstellen kann, insofern es ihnen Macht über Frauen und Kinder verspricht, wogegen wiederum das westliche, universalistische Bild der „emanzipierten Frau“ für die Frauen aus diesen Gemeinschaften wenig attraktiv ist und auch nicht funktioniert.

Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie Intersektionalität eben nicht nur bedeutet, dass verschiedene Unterdrückungs- und Diskriminierungs-Achsen sich aufaddieren oder allesamt berücksichtigt werden müssen, sondern dass sie sich gegenseitig beeinflussen und aus ihrer Begegnung dann ganz unvorhergesehene Entwicklungen hervorgehen können. Weder steht von vornherein fest, was „besser“ ist, die europäisch-westliche oder die konkrete indigene Perspektive, zumal beides ohnehin nicht in Reinheit und Eindeutigkeit definiert werden kann. Noch lässt sich vorhersagen, wie die Entwicklung weiter geht oder entscheiden, wer genau an einer unguten Dynamik die Schuld hat.

Umso wichtiger ist es, die eigenen Geschichten zu erzählen, Erfahrungen und Perspektiven zu vermitteln, Beziehungen aufzubauen, bereit zu sein, dabei Neues zu lernen. Die Vergangenheit und die Traditionen kennenzulernen, und zwar nicht nur die eigenen, sondern auch die der anderen. Das bedeutet auch, sich mit dem eigenen Urteil erstmal zurückhalten, sondern zuhören, staunen, verstehen versuchen, die eigene Perspektive zu erweitern und dabei bereit zu sein, auch die eigenen überkommenen Vorstellungen und Werte in Frage stellen zu lassen.

Es ist ein Missverständnis, zu glauben, dass alles an den europäisch-westlichen Werten und Ideen falsch ist. Sie haben durchaus ihr gutes, auch an einer bürgerlichen Vorstellung von Emanzipation ist etwas Gutes, am Individualismus, an der Aufklärung.

Vor allem aber ist eines wichtig, und auch das habe ich in vielen der Comics mit Freude entdeckt: Die Verhältnisse nicht nur als Geschichte von Marginalisierung und Unterdrückung zu erzählen, sondern auch als Geschichte von Weisheit, Stärke und Selbstbestimmung. Und, auch das habe ich in vielen dieser Geschichten gefunden, es ist auch möglich, dass diese Werte für zum Beispiel Frauen in patriarchalen Gemeinschaften eine Inspiration sein können. Das große Problem ist der Universalismus des westlich-europäischen Weltbildes. Die Vorstellung, dass es immer nur eine richtige Lösung, einen richtigen Weg geben kann oder sollte.

Die beiden Anthropologen David Graeber und David Wengrow, deren Studie „Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit“ gerade auf Deutsch erschienen ist, identifizieren genau das auch als das Verhängnis der Menschheitsgeschichte. In einem Überblick über die vergangenen Jahrhunderte und Jahrtausende zeigen sie, wie viele unterschiedliche Zivilisationen und Kulturen die Menschheit bereits hervorgebracht hat, die unterschiedlichsten Formen von Herrschaft, von Ökonomien, manche besser, andere schlechter, aber immer dynamisch, keine für die Ewigkeit, sie kamen und vergingen, wurden gestürzt und neu erfunden, vermischten sich und spalteten sich wieder auf. Der fatale Wendepunkt, so ihre Überzeugung, der uns als Menschheit in die Sackgasse geführt hat, in der wir uns angesichts der globalen Krisen heute befinden, war der, als wir anfingen, zu glauben, dass nur eine Form der Zivilisation, nämlich der bürgerlich-parlamentarische Kapitalismus, überhaupt möglich wäre.

Und genau das ist der größte Schaden, den der Kolonialismus und eine europäisch-westliche Weltsicht angerichtet haben: Dass sie alternative Erzählungen zerstört haben. Dass sie andere Sprachen verboten haben, andere Geschichten unterdrückt, andere religiöse Denkmuster zerstört, Erinnerungen und Traditionen vernichtet haben. Und zwar nicht deshalb, weil diese Traditionen allesamt inhaltlich besser waren als die jetzt hegemoniale. Sondern weil uns auf diese Weise das Gespür dafür verloren gegangen ist, dass es in all diesen Dingen unterschiedliche Optionen gibt, dass wir wählen können, ob wir es so oder so oder so machen wollen. Was natürlich auch für die Geschlechterverhältnisse gilt, die bei Graber und Wengrow leider zu kurz kommen.

Rita Segato kritisiert deshalb auch den Begriff der „Subalternen“, der sich im postkolonialen Diskurs etabliert hat. Sie weist darauf hin, dass indigene Positionen nur aus einer westlich-europäischen Perspektive „subaltern“, also von untergeordnetem Rang, sind. Aus der Perspektive ihrer eigenen Gemeinschaften sind sie hingegen zentral und maßgeblich. Segato beschreibt zum Beispiel, wie Menschen aus brasilianischen Favelas sich früh morgens in „bürgerliche“ Angestellte verwandeln, hinab ins Stadtzentrum steigen und dort eine „subalterne“ Position einnehmen, als Putzfrau, Mechaniker, Kindermädchen, Verkäufer*in – und am Abend wieder hinaufsteigen auf ihre Hügel und dort ganz andere, unter Umständen eben auch autoritätsvolle Positionen einnehmen.

Dies sei, schreibt Segato, ein Merkmal und eine Form des Widerstandes: sich der gänzlichen Eingliederung in eine westlich-universalistische Perspektive bewusst zu entziehen. Als Feministinkann ich auch damit sehr viel anfangen, denn auch wir setzen uns seit langem dafür ein, dass Frauen sich nicht im Zuge der Gleichstellung vollständig an ein universalistisches, von Männlichkeit geprägtes Menschenbild assimilieren müssen.

Sehr schön finde ich dafür Segatos Bild der „angelehnten Tür“. Einige indigene Gruppen haben es geschafft, sich in 500 Jahren Kolonialgeschichte einen Teil ihrer kulturellen Eigenständigkeit und Unabhängigkeit zu erhalten, indem sie die „Tür“ zur europäisch geprägten Gesellschaft nicht ganz öffnen, sondern nur ein bisschen, das Notwendigste interagieren, und sie dann wieder schließen.

Segato erzählt unter anderem folgendes Beispiel: In einigen Gemeinschaften dürfen Mädchen bis zum Alter von sieben Jahren kein Spanisch sprechen, damit sie zuerst die indigene Sprache richtig lernen und auf diese Weise bewahren. Westlich orientierte Frauenrechtlerinnen interpretieren das als Diskriminierung, da es den Mädchen erschwert, im staatlichen Schulsystem „Karriere“ zu machen. Es aber natürlich auch eine Form des Widerstands, insofern die Frauen hier als Trägerinnen einer kulturellen Eigenständigkeit markiert werden.

Solche Dinge sind nicht einfach zu beurteilen. Ich wollte vorhin schon sagen, dass ich das Bild der „angelehnten“ Tür für mein Verhältnis als Frau zur männlich geprägten europäischen Kultur übernehme, aber dann kamen mir Zweifel, ob das nicht doch zu wenig ist, beziehungsweise ob wir nicht schon an dem Punkt sind, die Tür aufzureißen, rüberzulaufen und die Männer aus dem Wohnzimmer zu vertrieben.

Ich weiß es nicht, es ist vermutlich auch eine Frage von Macht und Möglichkeiten. Und es gilt wohl einfach weiterhin das, was die Historikerin Joan Scott schon vor vielen Jahren als für den Feminismus kennzeichnend benannt hat: Wir haben nur Paradoxien anzubieten. Wir streben die Gleichheit an, indem wir unsere Unterschiede stark machen.

Geschichten zu erzählen ist dafür eine der besten Praxen. Bei einer Geschichte ist klar, dass sie in einem bestimmten Kontext spielt, dass sie konkrete Akteur*innen hat, dass sie keine allgemeingültige Theorie ist. Eine Geschichte kann nicht wederlegt werden, genauso wenig wie sie auf anderen Kontexte und Personen übertragbar ist. Heute erzählst du deine Geschichte, morgen erzähle ich meine, und übermorgen hören wir ihre.

Und indem wir unsere Geschichten miteinander teilen, wird mehr daraus als nur ein persönliches, individuelles Erleben. Es wird möglich, darüber zu sprechen, sich auszutauschen, Erkenntnisse zu ziehen für alle, für die Welt insgesamt.

Die Frauenbewegung der 1970er Jahre hat dafür den Begriff „Consciousness Raising“ gefunden, also Bewusstseinsbildung, aber egal wie man es nennt. Die Tradition des Geschichtenerzählens und des miteinander Sprechens über das persönlich Erlebte ist vielleicht schon immer und jedenfalls auch heute ganz bestimmt eine der wirksamsten Formen der Politik und auch des Widerstands.

Und zwar eines Widerstands, bei dem es nicht nur um Freiheit und Gerechtigkeit für marginalisierte und unterdrückte Personen und Gemeinschaften geht. Sondern es geht darum, die Gedankenwelt und die Vorstellungskraft von uns Menschen wieder zu öffnen für die Vielfalt an Optionen, Möglichkeiten, Gedankenwelten und Kulturen, die wir schaffen können. Eine Vielfalt und Offenheit, die wir brauchen werden, um die anstehenden globalen Herausforderungen anzugehen.

Vielen Dank, dass Sie mit dieser Ausstellung dazu beigetragen haben.