Mit Gott gegen die patriarchale Herrschaft.
In: Contraste, Nr. 397, Oktober 2017
In großen Teilen der Linken und auch des Feminismus ist es eine selbstverständliche Annahme, dass Religion irgendwie „rechts“ sei, konservativ, frauenfeindlich und darum abzulehnen. Das ist auch durchaus nachvollziehbar: Die christlichen Kirchen, bis vor kurzem die einzigen relevanten religiösen Institutionen in Europa, schlugen sich bei den sozialen Umbruchprozessen seit der Neuzeit regelmäßig auf die Seite der Herrschenden: Sie unterstützten den Adel gegen das Bürgertum, die Kapitalisten gegen den Sozialismus, das Patriarchat gegen die Feministinnen.
Allerdings taten sie das weniger aus theologischen als vielmehr aus sehr weltlichen Gründen: Die Kirchen und ihr Personal waren über die Jahrhunderte hinweg auf so vielfältige Weise mit den europäischen Herrschaftsverhältnissen verwoben, dass es bei ihnen ein unmittelbares und persönliches Interesse am Erhalt des Status Quo gab.
Inzwischen hat sich gezeigt, dass die christlichen Machthaber dabei auf die falsche Karte gesetzt haben. Die Aufklärung, der Fortschritt, die Emanzipation waren nicht aufzuhalten, und dementsprechend sank und sinkt der Einfluss der Kirchen. Sie haben ihr Image als Rückwärtsgewandte, Vorgestrige weg. Selbst wenn sie sich lernbereit zeigen wie zum Beispiel einige evangelische Kirchen in Bezug auf Sexualität und Geschlechtervielfalt, wird ihnen das nicht mal positiv angerechnet, sondern bringt ihnen sogar noch den Vorwurf ein, dem Zeitgeist hinterher zu laufen.
Das bedeutet aber auch: Wenn den Kirchen heute zahlreiche Mitglieder weglaufen, wenn ihre moralische Autorität schwindet, dann ist das keineswegs ein Zeichen für spirituelles oder religiöses Desinteresse der Menschen. Es ist schlicht eine Folge des weltlichen Machtverlusts – wer keine Macht hat, ist eben auch nicht sexy.
Und weil sich die progressiven gesellschaftlichen Kräfte von der organisierten Religion abwenden, bleiben die alten theologischen Narrative quasi wie eingefroren bestehen. Sie werden gepflegt von einer kleiner werdenden Gemeinde, die die Progressiveren verlassen und in der die Konservativeren entsprechend an Einfluss gewinnen – ein Teufelskreis. Und natürlich eine Steilvorlage für Linke und Feministinnen, die sich auf diese Weise in ihrem ablehnenden Urteil über Religion bestätigt fühlen können.
In Wahrheit standen die Herrschaftstheologien nie für die einzig mögliche Auslegung religiöser Normen. Bevor der Säkularismus quasi zum Glaubensbekenntnis der Fortschrittlichkeit erhoben wurde, haben zahllose christliche Bewegungen gerade aus ihrem Glauben die Pflicht zu politischem, herrschaftskritischem, sozialrevolutionärem Engagement abgeleitet. Man denke nur an die Quäkerinnen und Quäker, die das Rückgrat der US-amerikanischen Anti-Sklaverei-Bewegung und auch der Frauenrechtsbewegung bildeten. Viele davon haben auch alternative Lebens- und Wirtschaftsformen entwickelt und gelebt wie Kommunen oder Genossenschaften. Im späten Mittelalter waren Beginenhöfe, in denen Frauen selbstbestimmt, karitativ und spirituell gemeinsam lebten und wirtschafteten, in ganz Europa verbreitet.
Auch theologisch gesehen haben sozialrevolutionäre Positionen immer großen Einfluss auf die Diskussionen gehabt und auch den theologischen Mainstream beeinflusst, wie die lateinamerikanische „Theologie der Befreiung“ oder die feministische Theologie. Und das nicht erst seit dem emanzipierten 20. Jahrhunderts. Schon seit Jahrhunderten kritisieren Theologinnen unter Berufung auf die Bibel, dass Männer sich als Gottes Repräsentanten auf Erden aufführen – erwähnt sei hier stellvertretend Christine de Pizans Buch „Die Stadt der Frauen“ aus dem 15. Jahrhundert.
Wer sich mit autoritären und patriarchalen Religions-Repräsentanten nicht gemein machen will, muss diese anderen Positionen zur Kenntnis nehmen und in Aussagen über „das Christentum“ oder „die Religion“ einbeziehen. Tut man das nicht und nimmt allein die konservativen Theologen zum Maßstab, spielt man deren Spiel letztlich mit. Man bestätigt ihren Anspruch, festlegen zu können, was „rechtgläubig“ ist.
Dieses Thema ist heute in Bezug auf den Islam wieder besonders aktuell geworden. Die Kontroverse um die Frage, ob Religionen unheilbar herrschaftsförmig sind, war ja in Europa zuletzt etwas eingeschlafen, hauptsächlich weil die christlichen Kirchen gelernt hatten, sich innerhalb eines säkularen Mainstreams zu artikulieren ohne anzuecken. Doch mit der stärkeren diskursiven Sichtbarkeit des Islam flammt dieser Streit jetzt wieder neu auf. Muslimische Repräsentanten sind häufig ungeübt im Umgehen säkularer Diskursfettnäpfchen und geben dementsprechend regelmäßig Anlass für „islamkritische“ Empörungswellen.
Erneut entsteht so ein fatales Bündnis zwischen patriarchaler, herrschaftlicher Theologie und säkularer, antireligiöser „Religionskritik“: Beide Seiten sind sich zum Beispiel vollkommen einig darin, dass Religion mit der Freiheit der Frauen unvereinbar sei. Die konservativen Islamvertreter machen Frauen Vorschriften und definieren das Geschlechterverhältnis als hierarchisch. Und die so genannten „Islamkritiker“ geben ihnen recht, denn hier zeige sich der wahre Islam! Liberale und feministische Stimmen werden einfach abgetan: von den einen als häretisch, von den anderen als unwichtige Feigenblättchen.
Das alles ist eng mit der Frage verknüpft, was eigentlich „Gott“ ist. Das ist ein typisch europäisches Problem. Denn in so gut wie allen anderen Kulturen und Weltregionen ist „Gott“ einfach das Wort, das man eben verwendet, wenn man über Transzendenz spricht, also über das, was die innerweltlichen Maßstäbe der Vernunft, der Erkenntnisfähigkeit, der Interessen und Wissenschaften übersteigt. Dazu gibt es selbstverständlich Streit und man kann sehr unterschiedliche Ansichten darüber haben, wie mit dem Phänomen umzugehen ist. Aber dass es „Gott“ prinzipiell gibt – nämlich eine Grenze dessen, was uns Menschen zugänglich ist, und entsprechend ein „Jenseits“ – das steht so wenig in Frage wie dass es Luft oder Wasser gibt. Entsprechend irritiert reagieren Menschen aus anderen Teilen der Welt häufig, wenn sie zum ersten Mal mit europäischem Säkularismus und seinem Bekenntnis „Gott gibt es nicht“ konfrontiert werden: In ihren Ohren ist das eine sinnlose Aussage.
Die Frage, ob Gott „existiert“ oder nicht ist überhaupt nur nachvollziehbar, wenn man den europäischen philosophischen Diskurs dazu kennt und voraussetzt. Er wurde früher, zu Zeiten der Aufklärung, einmal auf recht hohem Niveau geführt. Heute ist er überwiegend zu Albernheiten wie dem fliegenden Spaghettimonster verkommen oder der allgemein gewordenen Behauptung, Gott sei ein „Fantasiegebilde“. In Wahrheit ist die Rede von Gott genau das Gegenteil eines Fantasiegebildes, nämlich der Versuch, Transzendenz besprechbar zu machen, ohne sie mit der eigenen Fantasie aufzufüllen. Dass dieser Versuch in den Religionen allzu häufig nicht gelingt, weil sich dann doch alle möglichen Fantasien und Machtansprüche an diese Stelle setzen (vor allem Männlichkeitsbilder), ist natürlich richtig. Aber Religiosität will diesen Versuch immerhin unternehmen: Du sollst dir kein Bildnis machen!
Es wäre aber unfair, die Schuld an dieser fehlgeleiteten Debatte allein dem Atheismus zuzuschieben. Ausgegangen ist sie ursprünglich von der Theologie selber. Diese versuchte in der Neuzeit mit so genannten „Gottesbeweisen“, in die Rede von Gott so etwas wie Wissenschaftlichkeit einzuführen, was damals gerade in Mode kam. Allerdings hat genau dieser Versuch den Gottesglauben letztlich unterhöhlt. Denn ein Gott, der bewiesen werden kann, ist nicht mehr Gott.
Meistens verbindet sich dieser Diskursstrang noch mit einem weiteren Narrativ, nämlich der Vorstellung, Religion und Wissenschaft seien miteinander unvereinbar oder stünden zumindest Konkurrenz zueinander – auch dies ist eine Vorstellung, die in anderen Kulturen nicht verstanden wird. Sie ist genauso so sinnlos, wie zu sagen, Eisessen und Autowaschen seien miteinander unvereinbar. Beides berührt sich schlichtweg überhaupt nicht. Doch in Europa und Nordamerika schaukeln sich säkularer und fundamental-religiöser Fanatismus inzwischen gegenseitig auf eine Weise hoch, dass vernünftige Debatten praktisch gar nicht mehr möglich sind. Das Offensichtliche, nämlich dass es sich hier um völlig unterschiedliche Erkenntnisebenen handelt, ist für viele – auf beiden Seiten – aus dem Bereich des Vorstellbaren verschwunden.
Leider überträgt sich dieser Streit im Zuge der globalen Hegemonie einer westlich-europäischen symbolischen Ordnung zunehmend auch auf religiöse Diskurse in anderen Teilen der Welt. Es gibt inzwischen einen starken Einfluss christlich-fundamentalistischer Argumente auf konservative Strömungen im Islam oder im Hinduismus, während gleichzeitig die Linke und die Frauenbewegung viel zu wenig Anstrengungen unternehmen, die eigenen Ideale und Anliegen auch in einem nicht-säkularen Diskursumfeld zu vermitteln. Statt etwa sich mit Frauen zu verbünden, die in ihren jeweiligen kulturellen Kontexten gegen Patriarchat und Unterdrückung vorgehen und sich dagegen wehren, werden diese Frauen häufig aufgefordert, zunächst einmal ihre Religion abzulegen.
Viel besser wäre es doch, sich auf die Beispiele der herrschaftskritischen Geschichte zu besinnen, in denen die Perspektive „Gott“ es Menschen ermöglicht hat, sich aufzulehnen und für ein gutes Leben für alle zu kämpfen. Auf die französische Philosophin und Anarchistin Simone Weil etwa, die angesichts der Tatsache, dass die Faschisten vor der Machtübernahme in Europa standen, Anfang der 1930er Jahre zu der Auffassung kam, dass es Gott geben müsse – denn wenn nicht, gäbe es keine Hoffnung. An Gustav Landauer, Ivone Gebara, Franz von Assisi, Jan Hus, Margarete Porete, Moses Hess oder Dorothy Day, um nur eine ganz willkürliche Auswahl aus der Geschichte gottbezogener sozialer Revolutionärinnen und Revolutionäre zu nennen. Die Liste ist endlos verlängerbar. Viele dieser Personen sind zwar durchaus auch heute noch im Kanon der „Linken“ vertreten, aber sozusagen ihrer religiösen Anhaltspunkte entledigt worden. Diese gelten als zeitbezogene Irrtümer als irrelevant. Dadurch wird aber die Kraft ihrer Argumente und ihres Engagements geschwächt.
Das Problem an Missverständnissen, die heute rund um die „Gottesfrage“ entstehen, ist, dass sie ablenken von den wirklichen Konflikten, die zu diskutieren wären. Pauschale und undifferenzierte so genannte „Religionskritik“ macht es unmöglich, sich mit freiheitlich orientierten religiösen Menschen gegen die herrschenden religiösen Machthabern zu verbünden. Sie werden vielmehr dazu genötigt, sich selbst dauernd gegen Vorwürfe zu verteidigen, und ihre Reformbemühungen innerhalb ihrer religiösen Communities werden untergraben.
Stattdessen wäre es notwendig zu fragen: Was wollen Menschen sagen, wenn sie das Wort „Gott“ benutzen? Dann stellt sich nämlich heraus, dass es sich dabei meist nicht um die Pflege irgendeiner dummen Folklore handelt, sondern um existenzielle Themen, auf die auch die säkulare Linke keine Antwort hat.