Antje Schrupp im Netz

Emma Goldman ernstnehmen

*Vortrag am 23.10.2021 im Literaturhaus Darmstadt«

Audiomitschnitt

Emma Goldman ist so etwas wie die Sympathie-Botschafterin des Anarchismus: Sie ist eine Frau, damit widerlegt sie das Klischee vom Macho-Revoluzzer. Gleichzeitig ist sie radikal genug, um nicht das Etikett von „typischer Weiblichkeit“ aufgedrückt zu bekommen. Auch dass sie Feministin ist, entspricht heute (zum Glück endlich) dem Zeitgeist. Und dann ist da noch der oft zitierte, wenn auch bei Goldman gar nicht belegte Spruch, dass eine Revolution, auf der man nicht tanzen kann, nicht die ihre wäre. Wie nice!

Beim Versuch, sich revolutionären Frauen vergangener Zeiten zu nähern, liegt das Problem oft darin, dass von ihnen wenig überliefert ist, kaum eigene Texte zum Beispiel. Bei Emma Goldman ist das anders: Es gibt sehr viele Texte von ihr, aber gerade die Fülle an Material scheint eine Auseinandersetzung mit ihrem Denken zu erschweren. Denn es findet sich leicht irgendwo eine Stelle, die im Sinne der eigenen Vorlieben ausgelegt werden kann: Ist es denn wirklich Emma Goldman, die bei der Revolution tanzen will – oder sind das nicht eigentlich wir?

Jetzt kurz ihren Lebenslauf damit Sie schonmal einen Überblick bekommen und später nochmal die Ideen im Detail ihre politischen Ideen.

Emma Goldman war eine Russisch-amerikanische Anarchistin

  • 27.6.1869 in Kaunas/Litauen (damals Russisches Reich)

† 14.5.1940 in Toronto/Kanada

Emma Goldman war eine der führenden anarchistischen Denkerinnen und Aktivistinnen. Wegen ihrer Reden gegen Militarismus, für Meinungsfreiheit und Geburtenkontrolle wurde sie von den USA als Staatsfeindin eingestuft und 1919 nach Russland deportiert. Enttäuscht von der diktatorischen Entwicklung der bolschewistischen Revolution verließ sie Sowjetrussland aber schon bald wieder und führte ihren Kampf für eine freiheitliche Gesellschaft im Exil weiter.

Um einen kurzen Eindruck zu bekommen ein kleiner Ausschnitt von ihr, 1934 bei einem kurzen Aufenthalt in den USA, in die sie für einige Monate zurückkehren durfte, da war sie 65 Jahre alt.

Emma Goldman stammte aus einer jüdisch-orthodoxen Familie, sie hatte zwei ältere Schwestern und zwei jüngere Brüder. Als sie 13 Jahre alt war, zog die Familie nach St. Petersburg um (Foto), drei Jahre später ging sie zusammen mit ihrer älteren Schwester in die USA, wo ihre mittlere Schwester bereits lebte, und zwar in Rochester im Staat New York.

Schon bald löste sie sich aus der Enge der orthodoxen-jüdischen Gemeinde und ging nach New York City, wo sie als Näherin und Krankenschwester arbeitete. Sie fand Zugang zu deutschen und russischen Emigrantenkreisen, lernte sozialistische Theorien kennen und wurde Anarchistin.

Am 1. Mai 1886 begann in Chicago ein mehrtägiger, von den Gewerkschaften organisierter Streik, um eine Reduzierung der täglichen Arbeitszeit von zwölf auf acht Stunden durchzusetzen. Dabei kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, bei denen sieben Polizisten und noch viel mehr Demonstrierende getötet wurden.

Die Polizei schlug den Streik blutig nieder und verhaftete anschließend bekannte Anarchisten, von denen sieben zum Tode verurteilt wurden, vier wurden hingerichtet, einer beging Selbstmord, und zwar ohne dass es irgend einen Beweis für ihre Beteiligung gab.

Der Richter begründete das damit, dass die Täter auf Grundlage ihrer Ideen gehandelt hätten und sie daher schuldig seien. Dieser Skandal hat viele Menschen politisiert und die Tradition des 1. Mai als Kampftag der Arbeiterbewegung begründet. Auch Emma Goldman hat sich hier politisiert und angefangen, sich mit dem Anarchismus zu beschäftigen.

1889 lernte sie den 19 Jahre alten russischen Anarchisten Alexander Berkman kennen, mit dem sie erst eine Liebesaffäre und später eine lebenslange Freundschaft verbindet. 1892 verübte Berkman einen Mordanschlag auf den Industriellen Henry Clay Frick und wurde zu 22 Jahren Gefängnis verurteilt. Erst 1914 kommt er wieder raus. Auf diese Frage der Gewalt kommen wir nachher noch ausführlich zu sprechen. Denn Goldman warb in Vorträgen und Veröffentlichungen um Verständnis für Berkmans Tat

Goldmans großes Redetalent und ihre persönliche Ausstrahlung machte sie in den folgenden Jahren zur bekanntesten anarchistischen Rednerin des Landes. Zunehmend bezweifelte sie zwar den Sinn gewalttätiger Anschläge im Namen des Anarchismus, sah die Verantwortung für solche Eskalationen jedoch in den gesellschaftlichen Verhältnissen. Immer wieder wird sie verhaftet und verbringt Zeit im Gefängnis.

Ihre Themen, die sie auf unzähligen Vortragsreisen durch sämtliche Bundesstaaten vortrug, waren der Kampf für die Redefreiheit, für die damals illegale Geburtenkontrolle, für sexuelle Freiheit, gegen Nationalismus und kapitalistische Ausbeutung.

Ab 1906 gab sie das anarchistische Magazin »Mother Earth« heraus.

Ab 1914 agitiert Goldman, wieder zusammen mit Berkmann, der aus dem Gefängnis kommt, offen gegen Militarismus und den Kriegseintritt der USA, was damals illegal ist. 1917 werden Goldman und Berkmann verhaftet und 1919 nach Russland abgeschoben.

In den USA hatte Goldman die bolschewistische Revolution noch verteidigt, deshalb wurden sie und Berkman anfangs freundlich aufgenommen und konnten auch viel Prominente treffen, darunter auch Lenin und Gorki. So ganz traute man ihnen aber nicht, sie bekamen den Auftrag, durchs Land zu reisen und Ausstellungsstücke für ein Revolutionsmuseum zu sammeln. Das Gute daran war, sie kamen rum und konnten, da sie ja Russisch sprachen, auch mit vielen Leuten reden.

Schon bald waren sie desillusioniert von den diktatorischen Tendenzen der Bolschewisten – Goldman übrigens deutlich früher als Berkman. Empört war Goldman insbesondere von der Einschränkung der Redefreiheit, für die sie ihr ganzes Leben gekämpft hatte, sowie von der Verfolgung der russischen Anarchisten.

1921 verließ sie zusammen mit Bergman die Sowjetunion.

Bereits 1922 erschien Goldmans Buch »Die Ursachen des Niedergangs der russischen Revolution«, in dem sie ihre Erfahrungen schildert und versucht, die anarchistischen und sozialistischen Gruppierungen Europas auf die Verbrechen der Bolschewisten aufmerksam zu machen. Das bringt ihr scharfe Kritik von vielen Linken ein, die darin einen Verrat an der Revolution sehen und Goldman eine Abkehr von ihren radikalen Überzeugungen unterstellen.

Zunehmend desillusioniert lebte Goldman nun abwechselnd in England, Frankreich und Kanada, da ihr eine Rückkehr in die USA nach wie vor verwehrt blieb, und hält mit mäßigem Erfolg weiter Vorträge. Ende der zwanziger Jahre schrieb sie ihre ausführliche, dreibändige Autobiografie »Gelebtes Leben«.

1936 geht sie nach Spanien, um den dortigen Kampf gegen das faschistische Regime Francos zu unterstützen, war aber auch hier bald entsetzt über den Verrat der kommunistischen Gruppen an der mehrheitlich anarchistischen Widerstandsbewegung. Sie stirbt 1940 im kanadischen Exil nach einem Schlaganfall.

Ihr Leichnam wurde in die USA überführt, wo sie in der Nähe von Chicago beerdigt ist, übrigens mit falschem Geburtsdatum und falschem Todesjahr auf dem Grabstein.

Anarchismus, also »Herrschaftsfreiheit«, war für Emma Goldman nicht nur eine Theorie, sondern bedeutete immer auch persönliche und soziale Freiheit. Bei allen gesellschaftspolitischen Themen ging es ihr daher auch um eine veränderte persönliche Lebenspraxis. Trotz aller Solidarität mit den linken, sozialrevolutionären Bewegungen war Emma Goldman niemals bereit, Sachzwänge als Legitimation für Verbrechen zu akzeptieren. Anders als für die meisten ihrer männlichen Mitstreiter waren das Verhältnis der Geschlechter, die materielle und sexuelle Selbstbestimmung der Frauen für Goldman wesentliche Voraussetzungen jeder freien Gesellschaft. Bis ins hohe Alter hinein unterhielt sie immer wieder teilweise lange andauernde Liebesbeziehungen mit wesentlich jüngeren Männern.

Goldman selbst gibt uns die Mittel an die Hand, die Geschichte der anarchistischen, der sozialistischen Bewegungen als eine der Debatten, der Auseinandersetzungen zu erzählen. Kaum ein anderes Buch gewährt so offen Einblick in die damalige anarchistische Bewegung, in ihre internen Konflikte und ihren Alltag, wie Goldmans umfangreiche Autobiografie „Living My life“.

Sie hat sie im Alter von 60 Jahren geschrieben, nicht mit leichter Feder, sondern als sorgfältige historische Schilderung, für die sie eine Fülle von Material, Briefen, Erinnerungen von Weggefährt*innen sichtete.

Über Jahrzehnte hinweg war Emma Goldman eine zentrale Figur des internationalen Anarchismus, bei ihr liefen viele Fäden zusammen. Unermüdlich machte sie „Propaganda“ für die Idee einer herrschaftsfreien Gesellschaft, hielt hunderte von Vorträgen im Jahr, gab die Zeitung „Mother Earth“ heraus, reiste kreuz und quer durch die USA und immer wieder auch nach Europa, um für ihre Ideen zu werben und Beziehungen zu knüpfen zwischen den verschiedenen lokalen Gruppen.

Goldman ist auch ein Bindeglied zwischen den Vertreterinnen und Vertretern des „klassischen“ Anarchismus des 19. Jahrhunderts – Leute wie Louise Michel; Peter Kropotkin, Johann Most oder Errico Malatesta traf sie noch persönlich – und seiner Fortentwicklung im 20. Jahrhundert. In ihrer Person verbindet sie zudem die europäischen Wurzeln, denen sie durch ihre russisch-jüdische Herkunft verbunden war, und die US-amerikanische Kultur, in der sie sich politisch sozialisierte.

Die besondere Stärke Emma Goldmans liegt darin, dass bei ihr die Trennung zwischen Theorie und Praxis ihren Sinn verliert. Natürlich verfasste sie auch „theoretische“ Werke, aber sie war sich immer darüber im Klaren, dass politische Ideen nicht am Schreibtisch entstehen, sondern im Austausch mit anderen, als Reaktion auf tagespolitische Notwendigkeiten, im konkreten Leben und Handeln. Klarsichtig bestand sie jederzeit darauf, anarchistische Weltanschauung nicht nur zu postulieren und theoretisch auszuarbeiten, sondern Antworten auf die konkrete Lebensrealität von Menschen zu suchen und die eigenen Positionen für die Welt und die Anderen plausibel zu machen.

Dabei – und das ist durchaus nichts Nebensächliches, was hinter dem Bild der sympathischen Tänzerin verschwinden könnte – befürwortete Emma Goldman ausdrücklich Gewalt als eine Möglichkeit, diese Vermittlungsarbeit zu leisten.

„Propaganda durch die Tat“, also die Idee, dass „die Massen“ nicht durch politische Texte und Reden, sondern nur durch Ereignisse erreicht werden könnten. Sie ist eng verknüpft mit der Entstehung der westlichen Formen von Parteiendemokratie. Ende des 19. Jahrhunderts war die Konsolidierung des republikanischen politischen Systems soweit fortgeschritten, dass seine Charakteristik deutlich wurde: Verfahrensweisen, die den legitimen politischen Diskurs auf die Institutionen von Presse, Parteien und Gewerkschaften beschränken (geregelter Streik ist erlaubt, Generalstreik nicht) und das als „demokratisch“ definieren, obgleich die allermeisten Menschen mit ihren Wünschen und Bedürfnissen in diesem Rahmen kein Gehör finden und aufgrund vielfältiger Umstände und Ausschlüsse auch nicht finden können.

Das Attentat, der Bombenanschlag, ist – das wird in diesen Texten deutlich – in erster Linie eine Reaktion derjenigen, die sich nicht damit abfinden wollen, dass dieses politische System sich in Form der Sozialdemokratie nun auch die Arbeiterbewegung einverleibt hat und es also keinen anderen legitimen Ort mehr geben soll, keine Möglichkeit für grundsätzlichen Protest oder für Aktionen, die außerhalb dieses parlamentarisch-demokratischen Grundkonsens liegen. Während eben gleichzeitig von Seiten der Regierenden Interessenspolitik für Reiche und Privilegierte nicht mehr nur betrieben wird (wie im Feudalismus oder Absolutismus), sondern jetzt als „demokratisch“ gilt – wie man an Haymarket ja sieht. Was den Benachteiligten zumutet, ihre eigene Benachteiligung als legitimes Ergebnis politischer Prozesse hinzunehmen.

1892, als Goldmann 22 Jahre alt ist und Berkman 20, verübt Berkman einen Mordanschlag auf den Industriellen Henry C. Frick, der allerdings misslingt.

Frick hatte die Löhne seiner Arbeiter einseitig um mehr als 20 Prozent verringert und sich geweigert, mit den Vertretern der Gewerkschaft zu verhandeln. Damit löste er einen der größten Streiks der amerikanischen Geschichte aus: den Streik von Homestead. Frick heuerte, um den Streik in seinem Stahlwerk zu brechen, nicht nur Streikbrecher an, sondern zu deren Schutz auch bewaffnete Hundertschaften der Pinkerton-Agentur. Im Laufe der Auseinandersetzungen zwischen Streikenden und Streikbrechern wurden innerhalb eines Tages zehn Menschen getötet und sechzig verwundet, bevor der Gouverneur von Pennsylvania das Kriegsrecht verhängte.

Berkman gelang es, in Fricks Büro vorzudringen, er hat dreimal auf ihn geschossen und zweimal mit einem vergifteten Messer zugestochen, aber erfolglos. Goldman unterstützt den Anschlag ohne Wenn und Aber.

In gewisser Weise geht es darum, das Leiden der Arbeiter zu spiegeln, indem man dasselbe bei den „Prominenten“ macht. Warum ist es schlimm, wenn Flick getötet wird, aber nicht, wenn er dutzende Arbeiter tötet?

Problem: Die Unfähigkeit der repräsentativen Demokratie, eine wirkliche Beteiligung aller Menschen zu organisieren, obwohl sie doch genau das behauptet, sowie die Anfälligkeit ihrer Institutionen dafür, von reichen und mächtigen Gruppen vor den eigenen Karren gespannt zu werden.

Judith Butler, Betrauerbare und Unbetrauerbare, in ihrem neuen Buch setzt sie sich ebenfalls mit Gewalt auseinander.

Die „Propaganda durch die Tat“ soll deutlich machen, wie existenziell die Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus ist, dass es dabei buchstäblich „ums Ganze“ geht. Sie werden in den zwischen etwa 1890 und 1910 ein Haupt-Aktionsmittel der Anarchisten überall auf der Welt. Das facht eine ungeheure Panik an.

Höhepunkt 1901, als Präsident McKinley durch den Anarchisten Leon Czolgosz ermordet wird.

Emma Goldman wird zur Kristallisationsfigur. Aber auch gefährlich, weil man – wie bei Haymarket Riots, ja immer auch nur wegen der Ideen bereits verurteilt werden konnte.

Zigtausende wollen ihre Vorträge hören, sie wird berühmt und einflussreich. Goldman litt darunter, dass es tatsächlich nicht viele Männer gibt, die gleichzeitig ihre Ideale teilen und an einer Liebesbeziehung interessiert sind. Genau das hatte sie als Jugendliche mit Berkman erlebt – und das war es, was sie wollte. Die meisten Männer nehmen sie aber entweder als asexuelle Kämpferin für die Sache wahr, oder als Geliebte oder potenzielle Mutter ihrer Kinder. Beides zusammen können sie sich kaum vorstellen. Für Goldman ist die Liebe aber so eine Art Lebenselixier, auch politischer Hinsicht.

Ben Reitman etwa, ein junger und faszinierender, allerdings aus revolutionärer Sicht wenig standfester Liebhaber über viele Jahre: Während die beiden ein Paar sind, hält Goldman besonders viele Vorträge, wird von der Polizei verfolgt und von den Medien angefeindet. Sie stellt fest, dass ihre Verliebtheit ihr Kraft und Energie gibt, um die Strapazen und wiederholten monatelangen Gefängnisaufenthalte durchzustehen. Anders als männliche Revolutionstheoretiker, die sich in ihrem Engagement natürlich ebenfalls auf persönliche Liebesbeziehungen stützen, reflektiert Goldman diesen Zusammenhang, macht ihn zum Teil ihrer Theorie.

Die meisten männlichen Genossen hielten den Einsatz für Geburtenkontrolle und sexuelle Freiheit für nebensächlich wenn nicht gar für kontraproduktiv.

Für eine, der Beziehungen so wichtig sind, war es eine Herausforderung, dass immer wieder enge Weggefährt*innen, mit denen sie sich ideologisch verbunden glaubte, in konkreten Tagesfragen zu diametral anderen Einschätzungen kamen: Johann Most verurteilte politische Attentate. Peter Kropotkin rechtfertigte den Ersten Weltkrieg.

Allein Alexander Berkman stand verlässlich an ihrer Seite. Nach Berkmanns Gefängnisaufenthalt waren sie nicht mehr im romantischen Sinn ein paar, aber die beiden vertrauten sich in ihren politischen Urteilen gegenseitig – oft gegen den Rest der Welt, und auch gegen den linken, den anarchistischen Mainstream.

Das bewährte sich besonders in der wohl größten Krise antikapitalistischer Bewegungen, der bolschewistischen Revolution in Russland. Ende 1919 werden Goldman, Berkman und 250 andere aufgrund von „Anti-Anarchismus-Gesetzen“ aus den USA ausgewiesen und nach Russland abgeschoben.

Noch in den USA hatte Goldman die russische Revolution wiederholt wohlwollend kommentiert und gegen Kritik in Schutz genommen. Deshalb wurden sie und Berkman von den Bolschewisten durchaus willkommen geheißen und genossen anfangs zahlreiche Privilegien. Sie konnten sich frei bewegen, viele Aktivist:innen treffen und, da sie die Sprache beherrschten, auch direkt mit den Menschen kommunizieren.

Wirklich wichtige Positionen hatten sie allerdings nicht inne, sondern sie bekamen den Auftrag, Exponate für ein geplantes Revolutionsministerium zu sammeln. In dieser Mission reisten sie kreuz und quer durchs Land, nicht nur in Russland, sondern auch zum Beispiel in der Ukraine.

Emma Goldman brauchte nicht lange, um zu realisieren, dass das bolschewistische Regime keineswegs Freiheit und Gerechtigkeit für alle Menschen bedeutete, sondern nur eine neue Form von Gewaltherrschaft darstellte. Was für sie hingegen nicht so leicht zu entschlüsseln war, ist das Warum: Lag es an der Bösheit der Menschen? An der falschen Theorie des Marxismus? An Lenin und Trotzki als Personen? An den objektiv schwierigen Umstände durch die Bedrohung von außen? Daran, dass „das Volk“ einfach noch nicht so weit war?

Goldman hatte Gelegenheit, mit anderen kritischen Intellektuellen wie Maxim Gorki oder Peter Kropotkin in Russland über diese Fragen zu diskutieren. Aber es entmutigte sie, dass niemand es wagte, den bolschewistischen Kurs offen „von links“ zu kritisieren.

Selbst ihr Seelenverwandter Berkman wendete sich erst nach der brutalen Niederschlagung des Matrosenaufstandes in Kronstadt im März 1921 endgültig von der Revolutionsregierung ab.

Ende 1921 gelang es Goldman und Berkman, Russland zu verlassen. Von da an versuchten beide unter prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen, die europäische Linke vom Scheitern der russischen Revolution zu überzeugen. Allerdings mit mäßigem Erfolg. Zu groß war die Verlockung für die Arbeiterparteien, ihre Hoffnungen auf politische Veränderungen an die Ereignisse im Osten zu knüpfen.

Das Buch „Meine zwei Jahre in Russland“, wo sie detailliert schildert, was sie erlebt hat, ist 1923 auf Englisch erschienen, es gab im damals sozialdemokratisch regierten Deutschland keinen Verlag, der das veröffentlichen wollte. Inzwischen gibt es übrigens eine sehr gute und mit Anmerkungen versehene Übersetzung, die kostenlos im Internet heruntergeladen werden kann. Googeln Sie einfach „Emma Goldman: Meine zwei Jahre in Russland“, wenn Sie es nicht finden, schreiben Sie mir eine Mail.

Mit großer Enttäuschung musste Goldman mitansehen, wie in fast allen Ländern die Arbeiterbewegungen in jener Zeit prosowjetisch wurden, wie der Anarchismus zurückgedrängt wurde und ein marxistisch-leninistisch orientierter Kommunismus hegemonial wurde.