Antje Schrupp im Netz

Affidamento. Oder: Warum (und wann) Beziehungen zwischen Frauen die Grundlage weiblicher Freiheit sind

Affidamento ist ein italienisches Wort, das sich nur schwer ins Deutsche übersetzen lässt. Das Verb »affidarsi« bedeutet »sich anvertrauen«.

Affidamento bezeichnet im Denken italienischer Feministinnen vom Frauenbuchladen in Mailand und rund um die Philosophinnengemeinschaft Diotima an der Universität von Verona eine Beziehung zwischen zwei Frauen, die zur Grundlage für weibliche Freiheit wird.

Warum – und wann – sind Beziehungen zwischen Frauen die Grundlage weiblicher Freiheit? Denn natürlich sind nicht alle Beziehungen zwischen Frauen Ausdruck weiblicher Freiheit. Es gibt auch unfreie Beziehungen zwischen Frauen, es gibt auch unter Frauen Macht und Konkurrenz, Unterdrückung und Herrschaft. Es geht also keineswegs nur darum, einfach zu sagen: »Wir müssen Beziehungen unter Frauen stärken«. Sondern es geht darum, zu verstehen, was das freiheitliche Potenzial von Frauenbeziehungen und Frauengruppen ausmacht. Warum also, und wann, sind Beziehungen zwischen Frauen die Grundlage weiblicher Freiheit?

Die These, die hinter dem Wort »affidamento«, sich anvertrauen, steht, lautet: Immer dann, wenn eine Frau sich mit ihrem Begehren der Autorität einer anderen Frau anvertraut. Wenn also das Begehren einer Frau mit Hilfe der Vermittlung einer Anderen, die ein »Mehr« hat und die deshalb mit Autorität spricht, einen Weg in die Welt findet. Denn dann ist eine Frau frei, in der Welt zu handeln.

Dass die Beziehungen zwischen Frauen die Grundlage für weibliche Freiheit sind, war bereits ein Grundgedanke der Frauenbewegung der 70er Jahre. Unerhört war etwa die Praxis der Separation, also dass Frauen sich untereinander – und ohne Männer – über ihre Wünsche, Selbstbilder und Vorstellungen austauschten. Unter dem Stichwort »consciousness raising«, Selbst-bewusst sein entwickeln, fanden sie heraus, dass der Vergleich mit den Männern oder die Abarbeitung an männlichen Bildern nicht förderlich ist.

Damals glaubten viele aber noch, es genüge die Tatsache, dass es Frauen sind (und nicht Männer), mit denen ich zusammen bin. Für diese Idee der Beziehungen unter Frauen sind zahlreiche Bilder und Begriffe entstanden, die bis heute kursieren. »Frauen gemeinsam sind stark«, zum Beispiel. Oder die Rede von Frauensolidarität. Von Fraueninteressen. Oder die Idee von Frauen-Netzwerken und Frauen-Bündnissen.

Diese Sichtweise entpuppte sich aber schon bald als unhaltbar. Es entstand ein Unbehagen an diesem »Wir« der Frauen, denn die Frauen machten bald die Erfahrung, dass es ein solches »Wir« eigentlich gar nicht gibt. Dass die Beziehungen unter Frauen viel mehr von Ungleichheit, als von Gleichheit geprägt sind.

Nicht nur, dass es Frauen mit unterschiedlichen Meinungen gibt. Sondern es gibt Frauen, die mehr reden als andere. Frauen, die interessantere Dinge sagen, als andere. Es gibt ganz unterschiedliche Wünsche und Absichten. Es gibt verschiedene soziale Herkünfte und verschiedene Hautfarben. Heute kommt dazu, dass es verschiedene Religionen, Kulturen und Ethnien gibt, die sich alle nicht auf einen einheitlichen Nenner »Wir Frauen« bringen lassen.

Lange wurde diese Differenz unter Frauen als Problem gesehen. Frauen, die sich weigerten, ihre persönlichen Wünsche und Absichten der »Bewegung« unterzuordnen, galten rasch als Verräterinnen oder als Egoistinnen. Ihr kennt vielleicht das Bild vom Krabbenkorb: Sobald eine nach oben klettert, wird sie von den anderen wieder hinunter gezogen. Frauen, die nicht die »richtige« feministische Meinung hatten, wurden verdächtigt, nicht solidarisch zu sein oder nicht das richtige Bewusstsein zu haben. Sehr häufig also bedeuteten Beziehungen unter Frauen keineswegs Freiheit, sondern Unfreiheit. Es war es ein schwieriger Weg, die Art und Weise zu verstehen, wie Beziehungen unter Frauen weibliche Freiheit ermöglichen.

Viele Frauen zogen daher – und ziehen, wenn wir ehrlich sind, immer noch – die Gesellschaft und Beziehungen zu Männern vor. Vielleicht ist deshalb bald oder auch in der Öffentlichkeit der der Kampf um gleiche Rechte mit den Männern bzw. die Anerkennung der Frauen seitens der männlich geprägten Institutionen in den Vordergrund geraten.

Die Herausforderung ist also die Frage: Wie lässt sich Frauenbezogenheit und Freiheit zusammen denken? So dass ich feministisch-solidarisch sein kann, aber deshalb nicht auf bestimmte Inhalte festgelegt werde und vom Krabbenkorb immer wieder herunter gezogen?

Die italienischen Philosophinnen waren die ersten, die sich deutlich vom Ideal der Gleichheit – sowohl der Frauen mit den Männern, als auch der Frauen untereinander – distanziert haben. Sie lehnten seit den 80er Jahren zunächst den Emanzipations-Feminismus ab, der sich zum Ziel die Gleichheit von Frauen mit den Männern gesetzt hat, weibliche Freiheit also in Analogie zur männlichen Freiheit verstand und versuchte, sie mit politischen Programmen wie Quotenregelungen und Frauenförderplänen durchzusetzen. »Nicht glauben, Rechte zu haben« ist der eigentliche Titel ihres Buches, das in der deutschen Übersetzung »Wie weibliche Freiheit entsteht« heißt.

Rechte können weibliche Freiheit nicht garantieren, denn sie werden den Frauen nicht gewährt, weil sie Frauen sind, sondern im Gegenteil gerade unabhängig davon – nämlich deshalb, weil sie gleich sind mit den Männern. Wenn Frauen nicht gleich sind mit den Männern, dann haben sie auch keine Rechte – Beispiel Musliminnen, die ein Kopftuch tragen.

Die Liebe der Frauen zur Freiheit, ihr Begehren, frei zu sein, das sich in der Frauenbewegung ausdrückt, beinhaltet aber den Gedanken, dass Frau sein und Frei sein sich nicht gegenseitig ausschließt. Es geht also darum, zu verstehen, was Freiheit ist, die nicht das Frausein verleugnet. Früher, vor der Frauenbewegung, wurde ja häufig gesagt, wenn eine Frau sich frei machte von weiblichen Rollenmustern, wenn sie Pilotin wurde oder Forscherin, dass sie das macht, obwohl sie eine Frau ist. So als sei das Frausein eine Behinderung.

Heute, nach der Frauenbewegung, ist das nicht mehr so. Heute wissen wir, dass eine Frau frei ist, alles zu tun, was sie will, dass ihr Frau sein sie nicht auf etwas festlegt. Und dass sie deshalb auch nicht dieses Frausein ablegen muss, um frei zu sein. Oder anders gesagt, eine Frau, die heute Fußball spielt, übt keine männliche Tätigkeit aus, sondern eine weibliche. Und eine Frau, die Hosen trägt, übernimmt keine Männerkleidung, sondern trägt Frauenkleidung.

Das ist die Freiheit einer Frau. Wenn ihr weder die Freiheit, noch das Frausein verloren geht. Damit aber sind wir bei der Bedeutung der Differenz: Weibliche Freiheit bedeutet eben gerade auch die Freiheit, sich aktiv von anderen Frauen zu unterscheiden. Etwas anderes zu tun, als die Mehrheit der Frauen für richtig hält. Wenn Frauen frei sind, dann haben sie keine gemeinsamen Interessen und Meinungen, allein weil sie Frauen sind. Und dennoch mutieren sie dabei nicht zu Neutren, zu geschlechtslosen Wesen. Sie sind Frauen, und das hat eine Bedeutung. Nur dass diese Bedeutung nun eben frei ist – sie ist nicht von ihrer Natur, ihren Genen, ihrem vermeintlich weiblichen Wesen abhängig, das irgendwie festgelegt ist, sondern was es bedeutet, eine Frau zu sein, wird jederzeit neu verhandelt und kann sich deshalb auch verändern.

Neulich hörte ich den Vortrag eines Pädagogen, der sagte, Bildung habe immer etwas mit einer Differenz zu tun: Der Differenz zwischen dem, was ich schon bin, kann, darf und dem, was ich noch nicht bin, kann und darf. Und ich finde, damit hat er Recht. Die Frage ist nur: Wie erfahre ich diese Differenz? Und welche Differenz hat etwas mit dem Begehren zu tun und nicht einfach nur mit dem Höher – besser – schneller – weiter unserer Leistungsgesellschaft? Denn nicht alles, was ich sein will oder mir wünsche, hat etwas mit dem Begehren zu tun, das aus der Liebe zur Freiheit erwächst. Manchmal will ich auch einfach nur funktionieren. Oder mit anderen konkurrieren.

Die Antwort lautet: Freiheit ist in Beziehung. Frauen sind nicht automatisch qua Geschlecht miteinander verbunden und stehen zueinander in Beziehung; sie müssen diese Beziehungen untereinander aktiv eingehen. Und zwar nicht Beziehungen allgemein, sondern konkret, die jeweilige Frau, die eine Beziehung hat zu einer konkreten anderen Frau.

Dass Freiheit etwas ist, das aus einer Beziehung, aus einer Abhängigkeit also in gewisser Weise entsteht, ist zunächst einmal ein ungewöhnlicher Gedanke. Denn üblicherweise hat ja die westliche Philosophie nicht Beziehungen zur Grundlage von Freiheit gemacht hat, sondern Autonomie, also »Selbst-Gesetzgebung«, die Loslösung des Subjekts von den Beschränkungen durch Beziehungen. Die anderen und die eigene Bezogenheit wurde nicht als Grundlage von Freiheit gesehen, sondern als deren Grenze: Meine Freiheit, so wurde gesagt, endet da, wo sie die Freiheit der anderen einschränkt.

Insofern ist die weibliche Entdeckung der Freiheit in Bezogenheit eine Endeckung, die das westliche Weltbild umkrempelt, sie ist nicht nur auf die Frauen beschränkt, sondern sie ist ein Angebot auch für Männer. »Sich in Beziehung setzen« heißt zum Beispiel auch ein Buch, herausgegeben von Ina Prätorius, in dem Autorinnen aus verschiedenen Fachgebieten, von der Politologie bis zur Ökonomie, von der Theologie bis zur Biologie zeigen, wie eine solche »Weltsicht der Freiheit in Bezogenheit« die Denkmuster dieser Fächer verändert.

Die Anderen/das Andere/die Differenz also ist nicht die Grenze meiner Freiheit, sondern ihre Basis. Nur weil es Andere/das Andere gibt, kann ich mich verändern, muss ich nicht bleiben, was und wie ich bin, kann diese Differenz zwischen dem, was ich bin und dem, was ich sein will, überwinden.

Wenn man aus dieser Perspektive schaut, dann sind die Unterschiede zwischen Frauen nicht mehr ein Problem, sondern die Basis weiblicher Politik. Frauenpolitik bedeutet dann nicht mehr die Einforderung von Rechten und besseren Lebensbedingungen für Frauen, etwa an die Adresse der Männer, der Institutionen, der Politik gerichtet, sondern die Aufmerksamkeit für das, was Frauen tun, was sie sagen, wie sie sich verhalten. Aus »Frauenpolitik« wird also eine »Politik der Frauen«.

Die Freiheit einer Frau orientiert sich nicht an den Männern, sondern an der Ungleichheit der anderen Frauen, an der Differenz zwischen meinem Begehren und dem Mehr, dem Anderssein, der anderen Frau, zu der ich eine persönliche Beziehung habe.

Begehren und Autorität beschreibt aber nicht nur eine Beziehung der Unterschiedlichkeit, sondern auch der Ungleichheit. Eines mehr und eines weniger.

Das Begehren ist, um es anders auszudrücken, nicht dasselbe wie der subjektive Wille, also das, was ich mit meinem Verstand und mit meiner Vernunft will und welche Ziele mir diese Vernunft setzt. Denn natürlich sind mein Verstand und meine Vernunft keineswegs frei. Sie sind geprägt von einer Jahrtausende alten patriarchalen Kultur. Meine Vernunft ist eitel, selbstsüchtig. Dahinter steht mein Ich, das Subjekt der westlichen Philosophie. Es ist ganz von der »diesseitigen« Ordnung geprägt und deshalb nicht frei.

Begehren ist etwas anderes. Es ist sozusagen offen für das Jenseitige, für die Transzendenz, für das wirklich Andere. Mein Ich, meine Vernunft, sucht im Mehr der Anderen einfach nur die Bestätigung seiner selbst: Ermutigung, Hilfestellung, Ratschläge, Training. Das Begehren hingegen strebt nicht nach Selbstbestätigung, sondern nach neuen Anfängen. Es lehnt sich aus dem Fenster der Realität hinaus, hat Luisa Muraro einmal gesagt. Gerade deshalb braucht es ja die Vermittlung weiblicher Autorität, um nicht hinauszufallen.

Das Begehren lässt sich nicht herstellen und machen. Es wird geweckt. Es erkennt Momente der Qualität und fühlt sich davon angezogen. Zum Beispiel von einem guten Buch, einem intensiven Gespräch, einer neuen Idee. Aber diese »Lichtfunken der Qualität in der Welt«, wie Chiara Zamboni es einmal formuliert hat, oder diese Erfahrung, dass etwas »100 Prozent passt«, wie Dorothee Markert es ausgedrückt hat – das lässt sich nicht wiederholen oder nach Plan herbeiführen.

Das habt ihr alle sicher schon einmal erlebt: Ein perfekter Urlaub, aber wenn man ein Jahr später noch mal an denselben Ort fährt, ist es nicht mehr so gut. Das Begehren muss daher experimentierfreudig sein, es versucht immer etwas Neues.

Mein Begehren ist daher auch für mich nicht verfügbar, sondern ich brauche die Autorität der anderen, um es überhaupt zu erkennen. Neid zum Beispiel kann ein Hinweis darauf sein, das in mir ein Begehren schlummert, von dem ich bisher noch gar nichts wusste. Was wäre, wenn wir das Anders-Sein einer Frau, auf die wir neidisch sind, nicht mehr als Konkurrenz oder missgünstig interpretieren, sondern als einen Anreiz, nachzuforschen, wohin wir eigentlich unterwegs sind? Neid und der Umgang damit ist ein gutes Beispiel dafür, wie eine Differenz, ein Konflikt, Ausgangspunkt sein kann für einen Neuanfang.

Zurück zu der Frage: Wie erfahre ich die Differenz – zum Beispiel eben die zwischen dem, was ich schon bin, und dem, was ich noch nicht bin? Ich erfahre sie nicht abstrakt, indem ich mich an den Schreibtisch setze und mir eine Liste mit meinen Zielen aufschreibe, sondern ich erfahre sie in der Begegnung mit einer Frau, die anders ist als ich, und deren Anderssein in mir ein Begehren weckt, mich selbst – und damit die Welt – zu verändern.

Aber ich brauche das Mehr einer anderen Frau nicht nur, um mein eigenes Begehren zu entdecken, sondern auch, um ihm zu folgen. Um diesem Begehren gemäß in der Welt zu handeln und aktiv zu sein. Denn die Welt hat auf das Begehren der Frauen ja nicht gewartet, ja lange Zeit hat sie sogar geleugnet, dass es das überhaupt gibt.

Weibliches Begehren braucht, um in der Welt handeln zu können, eine Vermittlung, eine Vermittlung mit der Realität, so wie sie nun einmal ist. Eine Frau, die ihr Begehren ohne die Vermittlung weiblicher Autorität in die Welt trägt, läuft Gefahr, für verrückt gehalten zu werden (weshalb früher so viele Frauen in Irrenhäuser gesteckt wurden). Oder zu scheitern.

In seinem Film »Gegen die Wand« beschreibt der Regisseur Fatih Akin sehr eindrücklich das Problem, dass eine Frau mit ihrem Begehren in der Welt keinen Ort findet. Sie hat nur zwei Alternativen: Entweder sich den traditionellen Rollen anzupassen oder eben buchstäblich »gegen die Wand« zu rennen, und zu sterben. Fatih Akin hat keine Lösung für das Problem gefunden. In seinem Film gibt es keine weibliche Autorität, nur weibliches Begehren. Aber das allein reicht eben nicht. Ein Begehren, das unvermittelt der Welt gegenüber tritt, wird nichts bewegen, es ist überschäumend, wild, aber es rennt eben buchstäblich gegen die Wand. Das Begehren kann sich nicht direkt an die Welt richten, es braucht die Vermittlung einer Autorität.

Ein Beispiel, an dem das schön deutlich wird, ist das Begehren eines Kindes, das Hunger hat und Milch will. Das Kind schreit, es trägt sein Begehren sozusagen der Welt vor, aber es wendet sich nicht direkt an die Welt, sondern an die Mutter. Also an eine, die ein Mehr hat im Bezug auf sein Begehren, die weiß, wo der Kühlschrank ist und wie man die Milch herausholt. Es hätte keinen Zweck, wenn das Baby den Kühlschrank anschreit.

Weibliche Autorität ist dann da, wenn es eine Antwort auf ein Begehren einer Frau gibt, wenn eine Vermittlung gelingt zwischen diesem Begehren und der Welt, so wie sie vorgefunden wird. Das kann ein Rat sein, ein Beispiel, konkrete Hilfe. Es lässt sich nicht verallgemeinern.

Auch Autorität lässt sich nicht herstellen, einklagen, einfordern. Sie ist da oder sie ist nicht da. Ob zum Beispiel das, was ich hier heute sage, für euch Autorität hat oder nicht, ob es bei der einen oder anderen ein Begehren anspricht, eine Antwort bietet auf irgend etwas, das habe ich nicht in der Hand.

Autorität kann auch in Gruppen da sein, »zirkulieren«. In Gespräche können Worte von Autorität fallen, die aber immer nur von derjenigen als solche wahrgenommen werden, die ein entsprechendes Begehren hat. Autorität ist immer von der Situation, vom Kontext abhängig, sie muss immer wieder neu in einer Beziehung begründet werden, sie kann sich nicht in Rangabzeichen oder Titeln festschreiben.

Das ist auch der große Unterschied zwischen Autorität und Macht. Macht ist abhängig von der Mehrheit. Sie gerinnt in Positionen und Status, sie muss nicht ständig neu ausgehandelt werden. Macht kann man einklagen, sich auf sie berufen.

Autorität hingegen braucht keine Mehrheiten. Sie braucht nur die Beziehung zwischen zwei Frauen. Deshalb macht Autorität auch von der Macht unabhängig – ich kann zum Beispiel einer Frau Autorität zusprechen, die von der Mehrheit überhaupt nicht anerkannt ist, die aber Antworten auf mein Begehren hat, die mir hilft, mit meinen Wünschen und Absichten in der Welt zu handeln. Und so kann Autorität die Macht aushebeln – weil sie neue Maßstäbe und Urteile ermöglicht.

Wenn es weibliche Autorität gibt, dann muss ich aber die Realität nicht leugnen, ich muss nicht mehr mit dem Kopf gegen die Wand rennen, sondern ich bin handlungsfähig, auch in schwierigen Umständen.

Meine Freiheit hängt nicht von Rechten oder Möglichkeiten ab, die mir gegeben werden, sondern davon, ob ich einen Weg finde, meinem Begehren zu folgen. Freiheit ist, dem eigenen Begehren auf der Spur zu bleiben.

Und das ist auch der Grund, warum Affidamento-Beziehungen, also Autoritäts-Beziehungen unter Frauen die Grundlage weiblicher Freiheit sind: Weil sie die einzelne Frau frei machen von den Mehrheitsmeinungen der Welt, dem Mainstrem, den üblichen Selbstverständlichkeiten, ohne dass sie dadurch aber orientierungslos wird und verloren ist. Indem ich Autorität anerkenne, indem ich Autoritäten finde, die zwischen meinem Begehren und der Realität vermitteln, werde ich handlungsfähig. Bin ich nicht mehr auf die Anerkennung der Machthaber oder der Mehrheitsmeinung angewiesen, denn ich habe einen anderen Maßstab gefunden.

Aber ich kann trotzdem handeln. Und indem ich handle, schaffe ich wieder neue Differenzen. Handeln bedeutet ja, dass ich mich aktiv von anderen Frauen unterscheide. Dass ich etwas tue oder sage, das neu ist, also vermutlich auf Widerspruch stoßen wird. Das zu Konflikten führen wird, aber damit gleichzeitig zu neuen Differenzen und neuen Möglichkeiten weiblicher Freiheit.

Nachdem die Ideen der Italienerinnen anfangs in Deutschland heftig abgelehnt wurden, weil man ihnen Biologismus und eine Rückkehr zu vermeintlich »natürlich Weiblichem« vorwarf, ist heute nirgendwo mehr vom Ideal der Gleichheit die Rede. Stattdessen spricht man heute von »Diversity«, von Vielfalt. Die Unterschiede zwischen Frauen (oder auch Kulturen und Religionen) werden nicht nur akzeptiert, es wird allgemein gesagt, diese Vielfalt sei fruchtbar und schön.

Ist damit also das gesellschaftliche Wirklichkeit geworden, was die Italienerinnen mit ihrer Wertschätzung der Differenz meinen?

Ich glaube nicht. Denn Diversity ist gerade nicht Differenz. Diversity ist Vielfalt – die bunte Vielfalt von Merci zum Beispiel: Die einen schmecken nach Marzipan, die anderen nach Haselnuss, aber letztlich ist doch alles Schokolade. Die einen sind Christen, die anderen Muslime, die einen Frauen, die anderen Männer, aber letztlich sind wir doch alle Menschen. Hinter dem Ideal der Vielfalt und Diversity steht immer noch die Norm, das Eine, das Eigentliche, der gemeinsame Bezugspunkt.

Es sind symmetrische Differenzen – bezogen auf eine gemeinsame Achse. Es geht aber um unsymmetrische Differenzen. Also um zweierlei, das sich nicht miteinander vergleichen oder auseinander herleiten lässt. Es geht nicht um Äpfel und Birnen – die man nämlich durchaus miteinander vergleichen kann, denn es ist jedes mal Obst, das mal so oder mal so schmeckt. Sondern es geht um die Differenz ohne Symmetrie, um die Differenz, sagen wir mal, von Äpfeln und Stoßstangen. Hier ist es unsinnig zu fragen, welches besser oder schlechter ist.

Bei asymmetrischer Differenz gibt es keinen gemeinsamen Bezugsrahmen. Was aber, wenn das auch für Menschen gilt, für Männer und Frauen? Wenn es im Bezug auf die Differenz zwischen Menschen diese oberste Richterinstanz nicht gibt? Wenn weder die Menschenrechte, noch Gott, noch ein allen gemeinsames »menschliches Wesen« entscheidet, was richtig und was falsch ist, sondern wenn wir nichts haben als unsere Differenz? Und damit auch unsere Differenzen – denn die Differenz ist nicht einfach eine spezielle Geschmacksrichtung, sondern eben das Andere, das, das nicht so ist, wie ich. Differenz bedeutet immer auch Konflikt.

Zum Beispiel Lynndie England, die Soldatin, die Gefangene im Irak foltert – sie übernimmt nicht einfach männliche Handlungsweisen aus dem Krieg, sondern sie erfindet eine neue Art des Frauseins. Das betrifft alle Frauen und fordert uns zu Urteilen, auch zu Konflikten heraus. Ihr Handeln ist nicht einfach eine bunte Facette weiblicher Vielfalt, sondern hier haben wir es mit einer echten Differenz zu tun zwischen ihr und mir.

Die Emanzipation hat die Teilnahme von Frauen an allen Bereichen ermöglicht. Aber gleichzeitig befördert sie auch die Unfreiheit von Frauen, wie das Beispiel Lynndie Englands zeigt, aber auch zum Beispiel die vielen Frauen, die gehetzt zwischen Kindergarten, Büro, Fitnessstudio und Discobesuch hin und her eilen. Hannah Arendt etwa hat einmal gesagt, dass es einer Frau nicht steht, wenn sie Befehle erteilt. Das fanden viele Feministinnen sehr unemanzipiert von ihr. Aber aus der Perspektive weiblicher Freiheit, aus der Perspektive des Affidamento betrachtet, ist das nicht ein Zurückdrängen der Frauen auf traditionelle Weiblichkeit. Hannah Arendt selbst hat ja kein typisch weibliches Leben geführt. Sondern es ist ein Urteil weiblicher Autorität, zum Beispiel für mich, die ein großes Unbehagen spürt angesichts all der befehlenden und funktionierenden Karrierefrauen, die wir inzwischen haben. Nein, es steht einer Frau nicht, wenn sie Befehle erteilt, und es steht ihr auch nicht, wenn sie Gefangene foltert. Nicht, weil das gegen die weibliche Natur verstößt. Das tut es ja ganz offensichtlich nicht. Sondern weil ich mit dem Verhalten dieser Frauen nicht einverstanden bin.

Das mit den Beziehungen, die die Grundlage für weibliche Freiheit sind – oder jedenfalls sein können – ist also nicht so einfach. Es geht nicht darum, dass ich einfach etwas Schönes von einer anderen Frau lerne, dass Frauen sich untereinander fördern, dass sie Netzwerke bilden und ihre unterschiedlichen Ressourcen kombinieren.

Sondern es geht um den sehr revolutionären Gedanken, dass Freiheit nur möglich ist, wenn ich eine Beziehung habe zu einer, die wirklich anders ist als ich. Einer, mit der ich Differenzen habe. Einer anderen, die nicht nur einfach etwas besser kann, sondern die etwas tut, das mir neu ist, das ich bisher vielleicht sogar für falsch gehalten habe. Denn nur dieses wirklich Anders-sein der Anderen, diese echte Differenz, die nicht Diversity ist, sondern Konflikt, ermöglicht es mir, etwas wirklich Neues zu entdecken, meine eingefahrene Meinung zu verändern, aus vorgegebenen Denkmustern und Bahnen auszubrechen – Freiheit also. Freiheit von den eigenen Beschränkungen.

Dass dieser Gedanke sehr radikal ist, liegt auf der Hand. Herkömmlicherweise werden Beziehungen der Differenz ja bekanntlich anders ausgetragen – vor Gericht zum Beispiel. Ein externer Richter entscheidet, wer gewinnt oder verliert. Und wenn kein solcher Richter da ist, dann gibt es Krieg.

Die Vielfalt kann akzeptiert werden, wenn sie unter einem gemeinsamen obersten Nenner für ein wenig Abwechslung und Folklore sorgt. Das wirklich Andere, die Differenz und ihre Differenzen, das wird aber nach wie vor als Problem und als Bedrohung gesehen.

Wir betreten also nach wie vor Neuland, wenn wir versuchen, »Affidamento« als eine Beziehung der Differenz zu verstehen.


Vortrag am 27. August 2005 beim Beginentreffen in Bielefeld und am 4.6.2007 in der Kreativ-Werkstatt Frankfurt am Main