»Ich heule, weil ich zornig bin«
Ich bin eine Heulsuse. Schon von klein auf. Als ich vier Jahre alt war, kauften meine Eltern eine diese Super-Acht-Kameras und seither ist die Karriere meiner Heulerei erbarmungslos dokumentiert. Wann immer sich die Familie im Wohnzimmer vor der aufgebauten Leinwand versammelte, um sich den Erinnerungen an den letzten Urlaub, das friedvolle Weihnachtsfest oder die lustige Geburtstagsfete hinzugeben, war sie da: Die Großaufnahme eines heulenden Kindes mit hochrotem Gesicht, verkniffenen Augen, die Mundwinkel nach unten gezogen, die Fäuste geballt. Mal hatte ein böser, älterer Cousin mir das Spielzeug weggenommen, oder der mühsam den Hügel hochgezogene Schlitten weigerte sich, in Fahrt zu kommen, oder das erwartungsvoll ausgepackte Geschenk erwies sich als unzureichend – die Reaktion war immer dieselbe: ich heulte. Aus diesen Bildern weiß ich, daß Tränen schon damals nicht Ausdruck meines Schmerzes waren, sondern meines Zorns.
Zorn ist für mich vor allem ein körperlicher Zustand. Ähnlich wie Fieber oder Übelkeit überkommt er mich, wenn auch nicht grundlos, so doch völlig unerwartet. Meistens mitten in einer Auseinandersetzung, manchmal aber auch aus heiterem Himmel, wenn meine umherschweifenden Gedanken sich an etwas erinnern. Was immer im konkreten Fall der Grund für meinen Zorn sein mag, er fragt nicht um Erlaubnis, unterwirft sich nicht meinem Willen, sondern wirkt unmittelbar auf meine Tränendrüsen, verschafft sich Audruck durch eine körperliche Reaktion. Zorn ist etwas anderes als Ärger oder Wut, die aus vernünftigen Überlegungen resultieren. Zornig ist man, Wut hat man. Ärger und Wut sind die Folge einer bewußt erlebten Unzufriedenheit, dem Willen unterworfen, steigern sich langsam und kontrolliert. Zorn ist einfach da. Er argumentiert nicht, er schockiert.
Solange ich klein war, hat sich meine Familie über diese kindlichen Ausbrüche amüsiert. Wie putzig, Klein-Antje in Rage. Als ich in die Pubertät kam, fanden meine Eltern das nicht mehr so lustig. Mit mir konnte man einfach nicht vernünftig reden. Sobald mir etwas nicht paßte, heulte ich los, schrie und heulte und war nicht mehr zu bändigen. Einmal mußte sogar ein Arzt gerufen werden, der mir eine Beruhigungsspritze verpaßte. Ich heulte, weil mich meine Eltern nicht übers Wochenende zum Campen fahren lassen wollten, weil meine Mutter die zerrissene Lieblingjeans weggeschmissen hatte, weil ich nicht mit dem Mofa in die Schule fahren durfte.
Für meinen Vater war ich der lebendige Beweis dafür, daß Frauen sich nicht fürs Politikmachen eignen. Weil sie sich nicht unter Kontrolle haben, weil sie sich von ihren Emotionen überwältigen lassen, sich nicht zusammenreißen können. Schau dich doch an, wenn euch die Argumente ausgehen, heult ihr los. Das sagte er jedesmal, wenn ich tobte, und jedesmal ärgerte ich mich fürchterlich. Denn ich wollte ja keine typische Frau sein, ich wollte ernstgenommen werden. Also versuchte ich, meinen Zorn zu bändigen. Verzweifelt kämpfte ich dagegen an, wollte mich unter Kontrolle halten, sachlich argumentieren, ruhig bleiben. Ohne Erfolg. Mein Körper arbeitete selbstständig. Jedesmal, wenn ich in einer Auseinandersetzung zu unterliegen drohte, ging es los. Mein Kopf wurde heiß, ich bekam Beklemmungsgefühle, fühlte mich eingesperrt, fing an zu zittern, und dann brachen die Dämme. Ich heulte und es gab kein Halten mehr.
Viele meiner Freundinnen kennen solche Situationen auch: Ein Streit, du fühlst dich ohnmächtig, ungerecht behandelt, siehst keinen Ausweg mehr, Wut, Empörung, Zorn steigen in dir auf – und dann kommen die Tränen. Alles vorbei. Du hast wieder einmal die Fassung verloren, und die Scham folgt auf dem Fuß, die Scham, Schwäche zu zeigen, den Spielregeln nicht gewachsen zu sein, versagt zu haben. Scham vor dem höhnischen Blick des Siegers, der cool geblieben ist. Vergessen ist die Ursache deiner Empörung, du selbst bist ja an deiner Niederlage schuld. Wäre ich doch nur ruhig geblieben, dann hätte ich vielleicht etwas erreicht. Unter der Verachtung des Siegerblicks verwandelt sich dein Zorn in Selbstzweifel und deine Wut richtet sich gegen dich selbst. Du könntest dich »in den Arsch beißen«.
Wir haben die unterschiedlichsten Strategien entwickelt, um mit solchen Situationen fertig zu werden. Eine Freundin erzählt mir, daß sie inzwischen schon im Vorfeld spürt, wenn ihr die Zornestränen kommen und daß es ihr jetzt meistens gelingt, noch einen bissigen Satz hervorzustoßen, Türen knallend aus dem Zimmer zu laufen und erst auf dem Klo ihren Tränen freien Lauf zu lassen. Eine andere Freundin hat den Kniff entwickelt, in Auseinandersetzungen das Verhalten des Gegners zu kopieren: Wird sie angepöbelt, pöbelt sie zurück, spricht er mit leiser, schneidender Stimme, mindert auch sie ihr Stimmvolumen, kommt man ihr jovial-väterlich, reagiert sie mit Ironie. Überleben durch Mimesis. Ihre Strategie ist erfolgreich, nach einer solchen Konfrontation fühlt sie sich nicht mehr unterlegen. Doch dazu läßt sie sich auf ein Spiel ein, bei dem andere die Regeln festgelegt haben. Hinterher, so erzählt sie, muß sie erstmal eine Zigarette rauchen, minutenlang zittern ihr die Hände.
Bei mir sind solche Versuche, meine Zornesausbrüche in den Griff zu bekommen, weniger erfolgreich. Deshalb habe ich angefangen, darüber nachzudenken: Wenn sich mein Zorn schon nicht kontrollieren läßt, dann vielleicht doch wenigstens verstehen. Was macht eine Situation aus, die für mich im wahrsten Sinn des Wortes »zum Heulen ist«? Ich glaube, es ist das Zusammenspiel von Ohnmacht und Mißverständnis. Auch wenn die anderen, bei meinem Vater angefangen, das leugnen: Ich heule nicht etwa dann, wenn mir die Argumente ausgehen, sondern wenn meine Argumente nicht gehört werden. Wenn ich davon überzeugt bin, daß ich recht habe, dieses Wissen aber nicht vermitteln kann. Zum Beispiel wußte ich genau, daß ich mich beim Campen nicht von den Jungs schwängern lassen würde, aber mein Vater verbot mir trotzdem hinzugehen, er glaubte mir nicht. Ich wußte genau, daß in der Schule die zerrissene Jeans notwendig war, um in der Clique anerkannt zu sein, aber meine Mutter schmiß sie trotzdem weg. Nicht, weil sie mir böse wollte, weil sie sich mit blanker Gewalt durchsetzte, sondern weil sie mich nicht verstand. Sie wußte nicht einmal, was sie tat – und das war es, was mich so zornig machte.
Ohnmacht und Mißverständnis – das ist in der Tat eine fatale Kombination. Kampf und Widerstand sind dann nicht mehr möglich. Der Mächtige versteht nicht, und muß sich auch nicht um Verständnis bemühen. Selbst dein Protest wird zum Baustein für seinen Sieg. Der Ohnmächtige weiß, daß sich der Mächtige irrt, aber er kann sich nicht verständlich machen. Ein Teufelskreis. Die Mächtigen maßen sich die Definitionsgewalt über die Realität an und du sitzt in der Falle.
Ich erinnere mich an zwei fast identische Situationen, von der die eine in mir den Zorn weckte, die andere aber nicht. Beidesmal hatte mein jeweiliger Chefredakteur einen Kommentar von mir abgelehnt, beidesmal ging es darum, daß ihnen irgendeine Kritik, die ich äußerte, unberechtigt erschien. Der eine Chef beendete die Debatte, indem er sagte, sinngemäß, wir könnten gerne noch bis in die Nacht diskutieren, aber er halte meine Meinung eben für falsch und weil er der Verantwortliche für den Inhalt der Zeitung sei, habe er auch das letzte Wort und Schluß. Natürlich war ich wütend, aber Tränen kamen mir keine. Es war eben eine Machtfrage. Ich hatte meine Argumente vorgebracht, sie waren gehört worden, wenn sie auch nicht überzeugen konnten. Damit konnte ich leben. Im anderen Fall kam mir der Chef väterlich. Ich sei eben nicht professionell genug, würde die Lage nicht richtig erfassen, hätte dieses und jenes übersehen, sei eben voreingenommen und so weiter. Was auch immer ich sagte, er interpretierte es falsch. Sobald ich den Mund aufmachte, wußte er schon, was ich sagen wollte. Ich konnte mich ihm nicht verständlich machen. Bald war »Nein« das einzige Wort, das ich noch herausbrachte, und dann auch das nicht mehr. Ich heulte los.
Damals merkte ich zum ersten Mal, daß meine vermeintliche Niederlage, die mit den Tränen besiegelt schien, in Wahrheit ein Sieg war. In Tränen auszubrechen, meinem Zorn auf diese – nach den herrschenden Spielregeln des Berufslebens völlig unangemessene und peinliche Weise – freien Lauf zu lassen, war nämlich die einzige Möglichkeit, das Gespräch zu beenden, ohne mich zu unterwerfen, ohne mit ihm zu kollaborieren. Denn die Situation war ja ohnehin ausweglos, die Kommunikation in einer Sackgasse. Er wollte nicht nur entscheiden – was ihm aufgrund seiner Position ja zustand – sondern auch noch mein Einverständnis. Ich sollte einsehen, daß ich unrecht hatte, vernünftig sein. Er baute mir sogar goldene Brücken. Ohne meine Tränen wäre ich vielleicht dieser Versuchung erlegen, hätte den Schein gewahrt, mich nicht bloßgestellt, und wäre ehrenvoll aus der verfahrenen Situation herausgekommen. Ich hätte mir selber einreden können, nicht vor der Macht kapituliert, sondern einfach nur meine Meinung geändert zu haben. Mein Körper hat mich vor dieser Selbstverleugnung bewahrt, er spielte nicht mit, stellte unmißverständlich klar: Ich will nicht, ich bin dagegen. Wenn zur Macht die Ignoranz hinzukommt, dann ist Zorn die einzig mögliche Manifestation des Widerstands. Dem Sieg der Mächtigen soll wenigstens ein gewisses Unbehagen anhaften.
Seither habe ich aufgehört, gegen meine Tränen anzukämpfen und mich stattdessen darauf konzentriert, dieses idiotische Schamgefühl auszurotten, das sich in solchen Situationen einstellt und auf fatale Weise meinen Zorn in Autoaggression wandelt und damit den Sieg, die Verweigerung meines Einverständnisses und meiner Kollaboration mit den Mächtigen, in eine Niederlage verkehrt. Wenn ich mir die Bilder von mir als Vierjährige anschaue, dann ist es ganz offensichtlich, daß man mir im Laufe meiner Sozialisation nicht etwa die Tränen antrainiert hat, sondern das damit verbundene Schamgefühl: Geheult habe ich als Vierjährige auch schon, aber damals habe ich mich nicht dafür geschämt. Daß Tränen ein Zeichen von Schwäche seien, ist eine Interpretation, die meiner eigenen Erfahrung widerspricht: Auf diesen Filmen ist zu sehen, daß ich niemals leise weinte, ich heulte, laut wie eine Sirene und nicht zu überhören. Ich fühlte mich stark, im Recht. Ich inszenierte meinen Zorn öffentlich. Nicht etwa absichtlich – Zornesausbrüche kommen immer unkontrolliert – aber wirkungsvoll: Was sollen die Nachbarn denken – das war die größte Sorge meiner Eltern.
Vor allem Männer lassen sich von meinen Tränen irritieren. Sie haben Angst vor diesen Heulszenen, den Gewändern meines Zorns und meiner Ohnmacht. Sie sind peinlich berührt, wollen den Protest nicht wahrhaben, der sich da so gewaltsam Bahn bricht und sich von keiner Züchtigungsmaßnahme eindämmen läßt, vom Sachargument nicht und auch nicht von einer Tracht Prügel. Es sind auch fast immer Männer, die in mir diese körperliche Reaktion des Zornes auslösen. Vermutlich weil sie mich so leicht mißverstehen und mir damit dieses Leid zufügen, das das Gefühl, die eigenen Ideen nicht kommunizieren zu können, mit sich bringt. Wenn es stimmt, daß Frauen leichter die Tränen kommen, als Männern, dann liegt das vielleicht gar nicht daran, daß sie emotionaler sind oder schwächer und wehleidiger, sondern daß sie einfach objektiv häufiger Anlaß haben, zornig zu sein. Nicht unbedingt, weil sie generell ohnmächtiger sind, sondern weil zu ihrer Ohnmacht oft noch das Mißverständnis hinzukommt, die fehlgeleitete Kommunikation, die Sinnlosigkeit ihrer Bemühungen, sich verständlich zu machen.
Frauen sind nicht seltener zornig, als Männer, Zorn drückt sich bei ihnen nur anders aus. Zornige Frauen heulen, zornige Männer schlagen – nun ja, das ist vielleicht eine etwas grobe Vereinfachung. Aber eines ist sicher: Es geht hier um die Wahrnehmung, die Interpretation der Realität. Die Frauen müssen sich nicht ändern, sie müssen darangehen, die Welt und sich selbst mit eigenen Augen zu sehen, statt mit denen der anderen. Ich heule, weil ich zornig bin. Je klarer mir selbst das bewußt ist, desto absurder erscheint mir die Idee, Tränen könnten ein Zeichen von Schwäche sein. Nicht mit meiner Schwäche haben sie etwas zu tun – also mit einem Defizit meinerseits – sondern mit objektiv ungerechten Verhältnissen, mit Macht und Kommunikationsunfähigkeit. Etwas anderes lasse ich mir nicht länger einreden.
Inzwischen bin ich dankbar für meine Heulanfälle. Wenn mir die Tränen kommen, dann ist das ein sicheres Zeichen dafür, daß ich gerade wieder einmal darauf gestoßen bin: Auf Ungerechtigkeit, auf die Ignoranz der Mächtigen. Seit ich mich meiner Tränen nicht mehr schäme, sondern sie als Ausdruck meiner Widerständigkeit interpretiere, kann ich sehr gut mit ihnen leben. Dankbar bin ich auch, daß mein Zorn sich nicht kontrollieren läßt: Ist er doch nur deshalb untrüglich. Er ist mir ein Wegweiser, ein Indikator für Situationen, in denen Argumente nichts mehr nutzen, in denen ich mich der Auseinandersetzung durch Verweigerung entziehen muß. Mein Zorn trifft meinen Gegner, in dem er ihm klarmacht, daß er auf mich keinen Zugriff hat: Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als mir Befehle zu erteilen, er muß sich, und in der Regel tut er das mit Unbehagen, auf seine ungeschminkte Rolle als Machthaber zurückziehen, kann nicht länger die Illusion aufrechterhalten, mit mir in einem partnerschaftlichen Verhältnis zu stehen. Seit ich nicht meinen Zorn und meine Tränen, sondern meine Scham im Griff habe, gehen die höhnischen Blicke meiner Gegner ins Leere. Wie sich herausstellt, galt ihre Verachtung meiner Scham, nicht meinen Tränen.
Mein Zorn hilft aber vor allem mir selbst, weil er mich davon abhält, meine Energien auf unfruchtbare Konfrontationen zu verschwenden. Er zwingt mich, aus diesem Teufelskreis von Unverständnis auszubrechen und hilft mir so, meine Kräfte an anderer Stelle zu sammeln und neue, erfolgversprechendere Strategien zu erfinden. Zorn ist ein Gewitter, das den Horizont meines Denkens und Handelns wieder frei macht, ein schmerzhafter, aber reinigender Prozeß. Hinterher sehe ich klarer.
aus: Publik Forum Nr. 5, 1997