erschienen in: Virginia, Frauenliteraturzeitschrift, Frühjahr 2003
und: Neue Wege, Zeitschrift für religiösen Sozialismus, Schweiz, Oktober 2003
und: ESWTR-Jahrbuch 11/2003
Aufsehen erregendes Leben
Dass die erste deutschsprachige Biographie der Victoria Woodhull (1838-1927) spannend zu lesen ist, haben bereits mehrere RezensentInnen erkannt. Antje Schrupp schreibt einen flotten Stil, und das Leben der Portraitierten ist unglaublich bunt: Aufgewachsen in einer durchaus schlampigen amerikanischen Unterschichtsfamilie stirbt die Woodhull
achtundachtzigjährig als Schlossbesitzerin und reiche Witwe eines englischen Adligen. Statt nach dem Vorbild gestandener Frauenrechtlerinnen “papierne Tiraden”(70) über die Gleichwertigkeit der Frau zu verfassen, praktiziert und propagiert sie die “freie Liebe”, geht sie, gefolgt von einem Schwarm von AnbeterInnen, ganz einfach wählen, gründet sie eine Zeitung und eine “Equal Rights Party”, kandidiert sie schliesslich im Jahr 1872 – knapp fünfzig Jahre vor Einführung des Frauenwahlrechts – für das Amt des Präsidenten der USA. Ihr Leben lang betätigt sie sich als Wahrsagerin und lässt sich von “Geistern” leiten. Sie scheut sich nicht, unter dem Vorwand der Hellseherei dem spiritistisch gesinnten Multimillionär Cornelius Vanderbilt Börsentipps zu geben, die sie sich in einem New Yorker Edelbordell besorgt hat. So kommt sie selbst zu viel Geld, das sie umgehend einsetzt, um ein Haus für ihre grosse Familie zu kaufen und eine eigene Brokerfirma zu gründen. Dank ihres rednerischen Talents und ihrer magischen Ausstrahlung wird sie von der Frauenbewegung als Zugpferd entdeckt – und wieder fallen gelassen. Statt sich nämlich auf “Frauenfragen” zu beschränken, gründet sie eine Sektion der sozialistischen Internationale, lässt sie als erste das “Kommunistische Manifest” in englischer Sprache drucken, legt sie sich mit einflussreichen Familien an, indem sie über deren bewegtes Liebesleben berichtet und damit die Doppelbödigkeit der “respektablen” Moral zur Debatte stellt...
Antje Schrupp will allerdings nicht nur unterhalten. Sie schreibt mit feministisch-theoretischem Interesse und stellt uns vor Fragen wie diese: Was bedeutet es, diese lange verdrängte Vorkämpferin heute, da die Frauenbewegung nach neuen Orientierungen sucht, wieder zu entdecken? Eignet sie sich als Vorbild, als personifizierte Mahnung, dass der Königsweg zu weiblicher Freiheit nicht einmal vor hundert Jahren über mehr “Gleichstellungsgesetz” führte? Wie moralistisch sind wir eigentlich? Und wenn wir es nicht sind: welche Massstäbe jenseits bürgerlicher Anständigkeit stehen uns zur Verfügung? Ist es z.B. legitim, Männer im eigenen und im Fraueninteresse zu erpressen oder – wenn es gilt, einen Wunschehemann aus reichem Hause zu ergattern – die eigene wilde Vergangenheit zu löschen? Was hat es zu bedeuten, dass Victorias Theorie der freien Liebe sich in späteren Jahren nahtlos in die damals im Trend liegende Eugenik fügt? Was bedeutet es, sich treu zu bleiben in der Fülle lockender Projekte und provozierender Thesen? Und wie komme ich mit einer Vormutter ins Gespräch, die das Leben bis an seine Grenzen auszukosten verstand, obwohl männliches Gesetz ihr all dies “eigentlich” verwehrte? Schliesslich: was bedeutet weibliche Freiheit heute, nachdem eine Unmenge einschränkender Gesetze und Vorurteile verschwunden ist und es längst nicht mehr so einfach ist wie zu Victorias Zeiten, Lebensgenuss aus Skandalen zu beziehen?
Die offenkundige Begeisterung der Biographin für ihre Heldin teile ich – sofern sie mehr ist als Lust an der Provokation. Was mich an Victoria interessiert, sind die vielen zukunftsweisenden Denkaufgaben, die sie mir als Ethikerin zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts stellt.
Ina Prätorius