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ORF, Ö1, 16.11.2004

 

 

Victoria Woodhull - die vergessene Pionierin

 

 

Als die Vereinigten Staaten von Amerika im Jahr 1920 das Frauenwahlrecht einführten, lud im fernen England eine alte Dame zur Pressekonferenz. Victoria Woodhull, 82 Jahre alt und Hausherrin des noblen Norton Manor in der Grafschaft Worcestershire, erklärte den erstaunten Lokaljournalisten, in Wahrheit sei sie die „Mutter des amerikanischen Frauenwahlrechts“. Stolz posierte sie mit ihrem Freund, dem Earl von Coventry, für’s Pressefoto. Was die Journalisten nicht wussten: Victoria Woodhulls Eigenlob war stark untertrieben. Sie hatte in ihrer Jugend nicht einfach nur wählen wollen, sie wollte Präsidentin von Amerika werden. Victoria Woodhull, die nette, englische Dame, war einmal die radikalste, skandalumwittertste Feministin gewesen, die Amerika je erlebt hat.

 

Sie hat mehr für die Frauen getan, als jede andere von uns es gekonnt hätte. Sie hat den Männern getrotzt und sie herausgefordert, und wurde dafür mit Schmähungen überschüttet, die eine Frau schaudern lassen. Sie hat es riskiert, mit jener Art von Schande gezeichnet zu werden, die jede andere von uns, die man doch immer willensstark genannt hat, gelähmt haben würde. Sie wird so berühmt sein, wie sie berüchtigt war, ehrlos gemacht von unwissenden und feigen Männern und Frauen. In den Annalen der Emanzipation wird Victoria Woodhulls Name als der einer Befreierin verzeichnet sein.

 

Als die prominente amerikanische Frauenrechtlerin Elizabeth Cady Stanton dies im Jahr 1875 schrieb, kannte wohl jeder in Amerika den Namen Victoria Woodhull. Noch gut erinnerte man sich an den unglaublichen Aufstieg des Gossenmädchens aus Ohio zur reichen Wall Street-Brokerin. An die Aufsehen erregenden Reden über Sozialismus und freie Liebe, zu denen Tausende in die größten Hallen New Yorks strömten. An ihren Auftritt vor Politikern in Washington, der die Woodhull zur umjubelten Anführerin der Frauenrechtlerinnen gemacht hatte. Jahrelang waren die Zeitungen voll gewesen mit Klatsch und Tratsch über die angeblich unmoralischen Lebensverhältnisse der Frau, die als erste in der amerikanischen Geschichte für die Präsidentschaft kandidiert hatte – und das fast fünfzig Jahre vor der Einführung des Frauenwahlrechts.

 

Die jungen Journalisten, die im englischen Norton Manor Woodhulls Pressekonferenz lauschten, hatten von all dem jedoch noch nie etwas gehört. Und heute, noch einmal achtzig Jahre später, ist Victoria Woodhull vollends in Vergessenheit geraten. Beim amerikanischen „Wer wird Millionär“-Quiz war die Frage nach der ersten weiblichen Präsidentschaftskandidatin stattliche 250.000-Dollar wert. Der Kandidat musste passen.

 

Auch in den politikwissenschaftlichen Kanon ist Victoria Woodhull, zu ihrer Zeit eine der bekanntesten Frauen Amerikas, bis heute nicht zurück gekehrt – dreißig Jahren Frauenforschung zum Trotz. Weder die Frauenbewegung, noch der Marxismus, und erst recht nicht die bürgerliche Geschichtsschreibung wussten etwas mit ihr anzufangen. Sie passte nun einmal in keine Schublade: War sie Sozialistin oder Kapitalistin? Nützte sie der Sache der Frauen oder schadete sie ihr? War sie eine ernst zu nehmende Politikerin oder war sie einfach nur verrückt?

 

Ganz sicher jedenfalls war Victoria Woodhull keine Frau, die dem gängigen Frauenbild des 19. Jahrhunderts entsprach.

 

Sie kann reiten wie ein Indianer, auf Bäume klettern wie ein Sportler, sie kann schwimmen, ein Boot rudern, Billard spielen und tanzen. Und schließlich, als Krone ihrer körperlichen Tugenden: Sie kann den ganzen Tag lang gehen wie eine Engländerin.

 

Victoria Woodhull liebte es, wenn Journalisten solche Dinge über sie schrieben. Frauen sind schwach, tugendsam, auf Hilfe angewiesen? Von wegen. Victoria Woodhull, geborene Claflin, hat sich von klein auf selbst zu helfen gewusst. Als Tochter eines kleinkriminellen Trickbetrügers und einer Analphabetin und Spiritistin war sie in ihrer Kindheit mit einer vielköpfigen Geschwisterschar durch den mittleren Westen der USA getingelt. Die Eltern lebten von kleineren und größeren Betrügereien und dem Verkauf selbstgebrauter Medizin. Schon früh vermarkteten sie ihre Töchter als Wahrsagerinnen und spiritistische Wunderkinder. Eine nennenswerte Schulbildung gab es nicht. Victoria Woodhull stammte nicht einfach aus der Unterschicht, aus jenem Milieu also, das im bürgerlichen Bildungsroman gern als „arm, aber ehrbar“ geschildert wird, nein. Victoria Woodhull kam aus der Gosse.

 

Ihre Lebenserfahrungen unterschieden sich deshalb auch ganz erheblich von jenen bürgerlicher Feministinnen. Victoria hatte keinen Vater oder Ehemann, dessen Einkommen ihr den Lebensunterhalt sicherte und der ihre politischen Kampagnen finanzierte. Zwar heiratete sie im Alter von 15 Jahren einen Arzt namens Canning Woodhull, um ihrem jähzornigen Vater zu entkommen. Doch der Gatte entpuppte sich bald als Alkoholiker, für ihren Lebensunterhalt und den ihrer zwei Kinder, von denen eines zudem schwer behindert war, musste Victoria Woodhull auch als verheiratete Frau selbst aufkommen. Und kam zu der Auffassung: 

 

Dass Frauen Geld verdienen können, ist ein besserer Schutz gegen die Tyrannei und Brutalität von Männern, als dass sie wählen können.

 

Nach acht Jahren ließ Victoria Woodhull das unvorteilhafte Ehe-Arrangement hinter sich und machte sich als Wahrsagerin und Heilerin – heute würde man sagen: als esoterisch angehauchte Psychotherapeutin – selbstständig, erst in Chicago, später in St. Louis. Was sie bei dieser Arbeit erfuhr, war die Motivation für ihr späteres politisches Engagement:

 

Hunderte, was sage ich, Tausende von verzweifelten, todtraurigen Männern und Frauen suchten meinen Rat. Die Horrorgeschichten, das erschreckende Unrecht, das mir dabei zu Ohren kam, hat meine Aufmerksamkeit geweckt für die Falschheit und Verkommenheit der Gesellschaft und mich dazu gebracht, darüber nachzudenken, ob Gesetze, die so viel Verbrechen und Elend hervorbringen, weiter bestehen sollten.

 

Keine Frage, sie sollten nicht. Doch die politischen Antworten, die Victoria Woodhull fand, entziehen sich den Kategorien, nach denen das 19. Jahrhundert in der Regel betrachtet wird. In eine bürgerliche Welt hinein, die den politischen Diskurs damals wie heute dominierte,  wollte Victoria Woodhull die Lebenserfahrung der Unterschichten vermitteln. Sie gab sich nicht damit zufrieden, persönlich das Beste aus ihrer jeweiligen Situation zu machen, wie die meisten anderen in ihrem Milieu. Victoria Woodhull entwickelte den Ehrgeiz, ihre Themen und Anliegen in den öffentlichen Diskurs einzubringen. Im April 1870 war in der renommierten New Yorker Tageszeitung Herald folgende Anzeige zu lesen:

  

Während andere meines Geschlechts einen Kreuzzug gegen Gesetze führen, die die Frauen des Landes einschränken, habe ich meine persönliche Unabhängigkeit behauptet. Während andere für bessere Zeiten beteten, tat ich etwas dafür. Während andere für die Gleichheit von Frauen mit den Männern argumentierten, habe ich sie unter Beweis gestellt, indem ich eine erfolgreiche Geschäftsfrau wurde. Während andere zu zeigen versuchen, dass es keinen vernünftigen Grund gibt, warum Frauen als dem Mann untergeordnet behandelt werden sollten, habe ich unerschrocken die Arena der Politik und der Wirtschaft betreten und die Rechte ausgeübt, die ich bereits besaß. Deshalb beanspruche ich für mich das Recht, für die vom Wahlrecht ausgeschlossenen Frauen des Landes zu sprechen und kündige hiermit meine Kandidatur für die Präsidentschaft an.

 

Wie kommt eine 31 Jahre alte Frau mit einer verwahrlosten Kindheit, einer gescheiterten Ehe, und ohne formale Bildung auf die Idee, Präsidentin von Amerika werden zu wollen? Maßgeblicher Motor von Woodhulls Ambitionen war vor allem ihr neuer Lebensgefährte James Blood, ein linker Intellektueller aus der libertären, radikalen Reformbewegung, äußerst belesen, und der erste, der Woodhull überhaupt mit politischem Denken in Kontakt brachte. Neben Blood gehörte auch Woodhulls jüngere Schwester Tennessee Claflin zum Team: Jung, schön und lebenslustig, sorgte Tennie dafür, dass ihrer Schwester trotz aller politischer Ambitionen die Radikalität nicht abhanden kam. Tennie trug Männerkleidung, empfing Journalisten an heißen Tagen auch schon mal in Unterwäsche und erregte Aufsehen, indem sie als weiße Frau mit afroamerikanischen Männern ausging.

 

Entscheidend für Woodhulls erstaunlichen Aufstieg war aber vor allem ihre Bekanntschaft mit Cornelius Vanderbilt, dem Eisenbahnmagnaten und reichsten Mann Amerikas. Vanderbilt, ein verschrobener Mittsiebziger, war selbst ein Aufsteiger, der trotz seines sagenhaften Reichtums von der besseren Gesellschaft in New York niemals richtig akzeptiert wurde. Er war, wie so viele in dieser Zeit, überzeugter Spiritist, und er mochte junge Frauen – ein ideale Kunde also für das Woodhull und Claflin-Team: Tennessee wurde Vanderbilts Mätresse, Victoria seine spirituelle Beraterin. Sie sagte dem „Commodore“, wie er sich gerne nennen ließ, die Börsenkurse voraus – mit Hilfe der Geister, wie sie selbst behauptete, in Wahrheit aber mit Insidertipps, die ihre Freundinnen aus dem Rotlichtmilieu von ihren Kunden in Erfahrung brachten. Im September 1869 gelang ihr ein richtig großer Coup: Von einer befreundeten Kurtisane erfuhr sie, dass ein korruptes Konsortium, das bis in die Familie des Präsidenten hinein reichte, dabei war, den Goldpreis künstlich in die Höhe zu treiben. Sie riet Vanderbilt, sein gesamtes flüssiges Vermögen in Gold zu investieren und alles bei einem bestimmten Preis zu verkaufen. Der Plan ging auf. Als der Goldpreis einbrach, kam es zum ersten großen Börsencrash an der Wall Street. Victoria Woodhull hatte für sich die Hälfte von Vanderbilts Reingewinn verlangt – von einem Tag auf dem anderen war sie um 700 000 Dollar reicher.

 

Dieses Geld war der Grundstock, mit dem Victoria Woodhull ihre politischen Ambitionen in die Tat umsetzen konnte. Zusammen mit Tennessee gründete sie die erste weibliche Broker-Firma an der Wallstreet, und sie druckte eine Wochenzeitung, die „Woodhull and Claflin’s Weekly“, mit der sie ihre Themen der Öffentlichkeit näher brachte. Die Zeitung enthielt Artikel über Hygiene und Gesundheit, Erwerbsmöglichkeiten für Frauen, Wirtschaftsnachrichten und die Börsenkurse sowie neueste spiritistische Trends. Und eine Witze-Ecke:

 

Sagt ein aufgeblasener Ehemann, dessen Frau ihm von hinten unverhofft einen Kuss gegeben hat: „Madam, ich betrachte ein solches Verhalten als unangemessen.“ Sagt die Frau: „Entschuldigung, ich wusste nicht, dass du es warst“.

 

Bürgerliche Moralvorstellungen griff Woodhull ebenso an, wie menschenunwürdige Arbeitsbedingungen, wobei sie immer auf die Selbsthilfe der Betroffenen setzte, indem sie entsprechende Tipps und Hilfestellungen gab. Im rechtlichen Sinne diskriminiert, wie ihre bürgerlichen Schwestern, die darunter litten, von den politischen Szenarien ihrer Männer, Brüder, Väter und Söhne ausgeschlossen zu sein, fühlte sich Victoria Woodhull nicht. Von den Leuten, die sie kannte, ging niemand wählen, egal ob Mann oder Frau. Die Frauen, die bei ihr Rat suchten, litten nicht an verweigertem Wahlrecht, sie litten an Armut, an ungewollten Schwangerschaften, Vergewaltigungen, gewalttätigen oder alkoholsüchtigen Ehemännern, mitleidslosen Dienstherren und am Tod ihrer im Bürgerkrieg verlorenen Söhne. Für all das bot das Wahlrecht keine Lösung:

 

Wird das Recht der Frauen zu wählen, das gewünschte Resultat nach sich ziehen? Wohl kaum, auch wenn das unzweifelhaft ein Schritt in die richtige Richtung wäre. Aber wenn deine Sicht durch einen hässlichen, giftigen Baum verschandelt wäre, würdest du ja auch nicht versuchen, ihn dadurch zu zerstören, dass du ein paar seiner längsten Äste absägst, sondern du würdest die Axt direkt an den Wurzeln ansetzen und ihn mit einem großen Schlag für immer zerstören.

 

Doch es war klar: Wenn Victoria Woodhull sich auf der politischen Bühne ihrer Zeit Gehör verschaffen wollte, musste sie sich zum Wahlrecht äußern, denn es war das bestimmende Thema der bürgerlichen Frauenrechtlerinnen. Im Januar 1871 hielt sie – als erste Frau überhaupt – eine Rede vor dem Rechtsausschuss von Senat und Kongress in Washington und trug dort ihre Ansicht zum Wahlrecht vor. Vermittelt hatte diesen spektakulären Auftritt der republikanische Senator Benjamin Butler, der für seine radikalen Ansichten bekannt war und ein großer Fan der Woodhull war. Keineswegs zufällig fiel der Termin genau auf den Tag, an dem die Nationale Frauenwahlrechts-Vereinigung ihren Jahreskongress in Washington eröffnen wollte. Während die Frauenrechtlerinnen jedoch eine Wahlrechtsänderung zugunsten der Frauen forderten, schlug Woodhull einen ganz anderen Weg ein. Sie argumentierte, dass Frauen das Wahlrecht längst hätten, es werde ihnen nur unrechtmäßig vorenthalten. In der Tat war das Wort „männlich“ erst wenige Jahre zuvor, bei der Wahlrechtsänderung zugunsten afroamerikanischer Männer, in den Gesetzestext eingefügt worden – vorher hatte dort einfach geschlechtsneutral „citizen“ gestanden. Woodhull forderte den Rechtsausschuss auf, den ihrer Ansicht nach verfassungswidrigen Einschub „männlich“ wieder zu streichen und titelte schon einmal frohgemut in ihrer Zeitung:

 

Ich gebe hiermit bekannt, dass die Frauen der Vereinigten Staaten von Amerika ab sofort das Wahlrecht haben.

 

Zwar lehnte der Rechtsausschuss ihren Antrag ab, trotzdem waren die Frauenrechtlerinnen begeistert. Schon über zwanzig Jahre kämpften sie für das Wahlrecht und waren ihrem Ziel noch keinen Schritt näher gekommen. Frustration hatte sich breit gemacht, zumal viele Kämpferinnen von einst bereits in die Jahre gekommen waren. Woodhull hingegen war jung, sie war willensstark, sie hatte Charisma, konnte die Menschen begeistern und strahlte Optimismus aus.

 

Doch nicht alle Amerikanerinnen waren mit diesem neuen Zugpferd der Frauenbewegung einverstanden. Zahlreiche Senatoren-Gattinnen unterschrieben eine Petition gegen das Frauenwahlrecht, und selbst viele Feministinnen hielten Woodhulls Ambitionen für falsch. So schrieb die bekannte Schriftstellerin Harriet Beecher-Stowe, die Autorin des Antisklaverei-Bestsellers Onkel Tom’s Hütte, als Reaktion auf Woodhulls Präsidentschaftskampagne:

 

Wer immer auch Präsident der Vereinigten Staaten werden will, muss sich darauf einstellen, dass sein Charakter in Stücke gerissen wird, dass er verletzt, geschlagen und mit Schmutz überzogen wird von jedem unflätigen Blättchen im ganzen Land. Keine Frau, die nicht wie ein alter Putzlumpen durch jede Gosse und jedes dreckige Wasserloch gezogen werden will, würde jemals einer Kandidatur zustimmen. Es ist eine Qual, die einen Mann umbringen kann. Was für ein unverschämtes Luder von einer Frau muss das sein, die so etwas aushält, ohne dass es sie umbringt?

 

Die Strategie von Woodhulls Gegnerinnen stand rasch fest: Wegen ihrer Herkunft und ihres Lebenswandels galt sie als moralisch nicht tragbar, als nicht „respektabel“, wie das damals hieß. Was aus einer bürgerlichen Perspektive auch durchaus stimmte: Inzwischen waren nämlich Woodhulls Eltern, Geschwister, sowie eine große Schar meist unehelicher Nichten und Neffen aus allen Himmelrichtungen nach New York gekommen, um ihren Anteil vom Kuchen einzufordern – ein ganz gewiss nicht „respektabler“ Haushalt. Sogar Woodhulls heruntergekommener Ex-Mann hatte sich eingefunden und gnädige Aufnahme gefunden. Eine Präsidentschaftskandidatin, die mit zwei Ehemännern, einem aktuellen und einem ehemaligen, unter einem Dach lebte – das war ein gefundenes Fressen für Klatschreporter aller Art. Zumal Woodhull keinerlei Anstalten machte, auf die moralischen Gefühle der Frauenrechtlerinnen Rücksicht zu nehmen, im Gegenteil: Je schärfer sie angegriffen wurde, desto deutlicher sagte sie ihre Meinung:

 

Ja, ich bin eine Anhängerin der freien Liebe. Ich habe das unveräußerliche, verfassungsmäßige und natürliche Recht zu lieben wen ich will, so lang oder kurz wie ich kann, diese Liebe jeden Tag zu wechseln, wenn es mir gefällt, und niemand von euch und kein Gesetz hat das Recht, mir das zu verbieten.

 

Die Ehe, so Woodhull, sei eine überflüssige Institution, und alle Gesetze zu diesem Thema müssten abgeschafft werden. Wenn man sich vor Augen führt, welchen Skandal die Affäre von Präsident Bill Clinton mit einer Praktikantin noch vor wenigen Jahren auslöste, kann man sich vorstellen, wie solche Ansichten die amerikanischen Gemüter erhitzten. Auch strikte Tabus griff Woodhull offensiv auf:

 

Die Wahrheit ist, dass Prostituierte, die nicht trinken und sich gegen Krankheiten schützen, zu den gesündesten aller Frauen gehören und ihre Schönheit und Lebenskraft bis ins hohe Alter behalten. Es kann Prostitution in der Ehe geben und fairen Handel in einem Bordell. Ich kann keinen moralischen Unterschied sehen zwischen einer Frau, die heiratet und mit einem Mann zusammen lebt, nur weil er sie versorgen kann, und einer Frau, die nicht verheiratet ist, aber denselben Preis bezahlt, um versorgt zu sein.

 

Selbst das in den USA bis heute vielleicht heikelste aller Themen sparte sie nicht aus:

 

Abtreibung ist nur ein Symptom für eine tiefer liegende Unordnung unserer Sozialstruktur. Sie kann nicht durch das Gesetz bekämpft werden. Normalerweise ist eine Mutter von zehn Kindern gesund, sie kann so jugendlich und schön sein wie eine gesunde Jungfrau. Kinder kriegen ist keine Krankheit, sondern eine wundervolle Möglichkeit der Natur. Aber für unsere erschöpften, kranken und ausgebeuteten Frauen ist es eine furchterregende Pflicht. Fast jedes unserer Kinder ist ungewollt. Abtreibung ist für solche Frauen dann das kleinere Übel.

 

Vor allem die weniger radikalen Frauenrechtlerinnen waren entrüstet über Woodhulls Auftritte. Sie fürchteten um das Ansehen ihrer Bewegung und polemisierten gegen die Aufsteigerin, wo immer sie konnten. Sie sorgten dafür, dass man ihr keine Vortragshallen vermietete und lancierten diffamierende Berichte in den Medien. Schon bald bekamen Woodhulls Gegnerinnen Schützenhilfe von dritter Seite. Denn je prominenter sie wurde, desto mehr Skandalgeschichten gruben die Zeitungen über sie und ihre Familie aus: Hier eine alte Anklage gegen Tennessee wegen Betrugs in Ohio, dort der Verdacht, ihre Eltern hätten in Chicago ein Bordell betrieben. Elizabeth Cady-Stanton war eine der wenigen, die Woodhull in Schutz nahmen:

 

Wenn wir anfangen, in der Vergangenheit von denen herumzuschnüffeln, die ihren Kopf und ihr Geld in unsere Arbeit für das Frauenwahlrecht einbringen, dann sollte es erst mal die der Männer sein, nicht die der Frauen. Sie ist eine der fähigsten Rednerinnen und Autorinnen des Jahrhunderts: zuverlässig und radikal in politischen, religiösen und sozialen Fragen gleichermaßen. Selbst wenn alles, was sie ihr vorwerfen, wahr wäre, ist Frau Woodhull immer noch besser als neun Zehntel unserer Väter, Ehemänner und Söhne.

 

Hinter Elizabeth Cady-Stantons kämpferischer Haltung steckt jedoch auch ein Stück Ignoranz. Denn die große alte Dame des amerikanischen Feminismus war ebenso bürgerlich, wie alle anderen. An den sozialen Fragen, gar an Themen wie freie Liebe oder Prostitution, lag ihr nichts. Sie sah in der charismatischen Woodhull lediglich ein Instrument, das wieder Schwung in die eingefahrene Frauenbewegung bringen sollte. Cady-Stanton kannte nur ein einziges Thema, und das war das Wahlrecht. Darauf war sie so fixiert, dass ihr wirklich jede Hilfe recht war. Selbst von ausgewiesenen Rassisten ließ sie sich unterstützen, warum dann nicht auch von einer mit zwei Ehemännern?

 

Victoria Woodhull allerdings hatte keineswegs die Absicht, sich von der Frauenbewegung instrumentalisieren zu lassen und sammelte ihre Anhängerinnen und Anhängern ebenso in anderen Lagern, unter Spiritistinnen, Schwarzen, Sozialisten. Ihre Zeitung war die erste in Amerika, die das Kommunistische Manifest veröffentlichte, und sie gründete Sektionen der Ersten Internationale, jenes legendären Dachverbandes der europäischen Arbeiterbewegung, der durch Einwanderer auch nach Amerika gebracht worden war. Doch auch dem Sozialismus schloss sich Victoria Woodhull nicht einfach an. Die Arbeiterbewegung war für sie nur eine weitere Plattform, auf der sie ihre politischen Überzeugungen verbreitete. Und auch hier ließ Widerspruch nicht lange auf sich warten. Denn die aus Deutschland, Irland oder Polen eingewanderten Sozialisten waren keineswegs der Ansicht, dass die Arbeiterbewegung etwas mit der Frauenemanzipation zu tun haben sollte, von freier Liebe ganz zu schweigen. Besorgt schrieben sie an Karl Marx im Generalrat der Internationale:

 

Wir wollen nicht, dass man ihre lächerlichen Vorstellungen für die Ansichten dieser Gesellschaft hält. Der Unsinn, von dem sie reden, Frauenwahlrecht und freie Liebe, mag vielleicht in der Zukunft einmal berücksichtigt werden, aber die Frage, die uns als Arbeiter interessiert, ist die von Arbeit und Löhnen.

 

Karl Marx reagierte prompt. Die Sektionen dieser „geistershakernden Bourgeoisweiber“, wie er sich ausdrückte, sollten aus der Internationale ausgeschlossen werden, schrieb er nach New York. Trotzdem stellten sich zahlreiche amerikanischen Sozialisten auch weiter hinter Victoria Woodhull. Im Mai versammelten sich 600 Delegierte aus 22 Staaten in New York und kürten Victoria Woodhull zur Präsidentschaftskandidatin ihrer neu gegründeten „Equal Rights Party“ – ein bunter Zusammenschluss aus Sozialisten, Spiritisten, Frauenrechtlerinnen, Afroamerikanern, Freidenkern und anderen Radikalen. Es war ihr gelungen, aus allen Reformbewegungen Anhängerinnen und Anhänger zu werben – und dabei hatte sie sich gleichzeitig jeweils andere Teile derselben Bewegung zu erbitterten Gegnern gemacht.

 

Und das wurde ihr schließlich auch zum Verhängnis. Als nämlich im November 1872 die amerikanischen Präsidentschaftswahlen stattfanden, saß Victoria Woodhull im Gefängnis. Sie hatte den Bogen überspannt, als sie in ihrer Zeitung über eine außereheliche Affäre des  bekannten presbyterianischen Predigers Henry Ward Beecher mit einer ebenfalls prominenten Frauenrechtlerin berichtet hatte. Beecher, dessen eheliche Untreue damals als offenes Geheimnis galt, war der jüngere Bruder von Harriet Beecher-Stowe, einer der vehementesten Gegnerinnen Woodhulls. Die war entsprechend entrüstet: Obwohl der ehrbare Prediger Beecher doch ganz offensichtlich die freie Liebe praktizierte, musste sie sich von seiner Schwester als unmoralisch beschimpfen lassen. Nichts war Victoria Woodhull so verhasst wie Heuchelei.

 

Wenn eine Person glaubt, dass eine bestimmte Theorie wahr ist und daher vertreten und praktiziert werden müsste, aber aufgrund der Unpopularität dieser Theorie oder weil sie gegen die etablierte öffentliche Meinung steht, nicht den moralischen Mut hat, sie zu vertreten oder zu praktizieren, dann ist diese Person ein moralischer Feigling und eine Verräterin an ihrem eigenen Gewissen, das Gott ihr als Führer und Wächter gegeben hat.

 

Mit ihrem Beecher-Artikel löste Woodhull einen Medienskandal aus, der die amerikanische Öffentlichkeit über Jahre beschäftigte. Doch das war auch das Ende ihrer eigenen politischen Karriere. Die Beechers waren eine der mächtigsten Familien in Amerika. Mit an den Haaren herbeigezogenen Anklagen, gefälschten Zeugenaussagen und ihnen wohl gesonnenen Richtern brachten sie Victoria Woodhull ins Gefängnis. Es war ein Schlag, von dem sie sich trotz einiger Comeback-Versuche in späteren Jahren nicht wirklich erholte. Sie wanderte zusammen mit ihren Eltern, ihrer Schwester und ihren beiden Kindern nach England aus, wo sie einen reichen Bankier heiratete und bis ins hohe Alter zurückgezogen lebte.

 

Und vollkommen in Vergessenheit geriet. Im 20. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Ideologien, war für eine wie sie offenbar kein Platz. Im 21. Jahrhundert jedoch, dem Jahrhundert der zerbrochenen Systeme, könnte Victoria Woodhull wieder entdeckt werden – als Symbol für die weibliche Liebe zur Freiheit, die das Risiko eingeht, sich der Welt und ihren Widersprüchlichkeiten ohne Dogmatismus zu stellen. Diese Wiederentdeckung wird aber wohl eher nicht von den Universitäten ausgehen. Zwar sind in den letzten Jahren erste Biografien über sie geschrieben worden, doch die Nachricht von dieser erstaunlichen Feministin verbreitet sich bislang eher abseits der akademischen Gleise. Dem Andenken einer Victoria Woodhull ist das vielleicht sogar angemessen, schließlich stand sie auch zu ihren Lebzeiten außerhalb jeder Institution. Auf akademische Würden legte sie keinen Wert, eine gute PR aber wusste Victoria Woodhull immer zu schätzen. Sie wäre mit Sicherheit erfreut zu hören, dass in Hollywood bereits ein Drehbuch über ihr Leben geschrieben wird.

 

Radiosendung, 16.11.2004, Ö1