Biografischer Lesestoff für den Herbst:
"Das Aufsehen erregende Leben der Victoria Woodhull"
Wirtschaftliche Flaute und Ebbe im Portemonnaie? Keine Zeit für Visionen?
Dass man auf eine mehr als bescheidene Ausgangsposition nicht mit Bescheidenheit
reagieren muss, vergegenwärtigt ein Blick auf das Leben der 1838 geborenen
Victoria Woodhull. Ein paar Lesestündchen wirken anregend und wehen etwaige
resignative Anflüge im Nu hinfort. Die Autorin Antje Schrupp stellt keine
geringere als die erste amerikanische Präsidentschaftskandidatin vor, die eine
Kandidatur errang, als Frauen noch nicht einmal das Wahlrecht hatten. Victoria
wurde als Kind vagabundierender Wunderheiler und Gelegenheitserpresser geboren
und gelangte als junge Frau durch gezieltes Networking an die Spitze der
amerikanischen Frauenbewegung. Sie erklüngelte sich die Bekanntschaft mit dem
damals reichsten Mann der USA, Cornelius Vanderbilt und nutzte ihre Kontakte für
erfolgreiche Spekulationen an der Börse.
Beeindruckend ist aber nicht nur das strategische Geschick dieser Frau, sondern auch die Freiheit, die sie sich nahm, um ihre eigenen gesellschaftlichen Visionen in ein politisches Programm zu gießen. Sie forderte die Abschaffung des Erbrechts zur Umverteilung des Reichtums, die Abschaffung der Todesstrafe, den 8-Stunden-Arbeitstag, eine allgemeine Schulbildung und einen internationalen Gerichtshof. Damit war sie weiter und in vielen Punkten radikaler als ihre Zeitgenossen. Skandalös radikal für eine Frau aus dem gesellschaftlichen Nirgendwo. Victoria Woodhull schreckte es nicht, Skandale auszulösen. Auch nicht unter den Mitstreiterinnen aus der Frauenrechtsbewegung.
Biografisch hätte bei diesem Material die Gefahr bestanden, Victoria Woodhull zu verklären. Antje Schrupp entgeht dieser Publicity fördernden Versuchung durch farbige Schilderungen der Widersprüche zwischen den einzelnen Zeitzeugnissen. In ihnen spiegeln sich auch die Ecken und Kanten dieser vergessenen Visionärin - die sich übrigens von den Geistern antiker Philosophen gelenkt fühlte. Mir hat es Spaß gemacht, in einem Jahrzehnt leisetretender und das Wahlvolk sedierender PolitikerInnen, von einer Frau zu lesen, die wider jeglichen moralischen Mainstream, freie Liebe propagierte und Volksabstimmungen über Gesetzesentwürfe verlangte. Ach ja, eine Zeitung hat sie auch herausgegeben. Und eine Partei gegründet.