Die Wirtin
Sozialgefüge der Geburt
Maria und Josef fanden keinen Raum in der Herberge, erzählt die Weihnachtsgeschichte. Ein lapidarer Satz, doch welches Dilemma dahinter steckt, kann wohl jede nachfühlen, die schon einmal auf Reisen spät abends noch auf Zimmersuche war. Dass Maria so kurz vor ihrer Niederkunft nicht zu Hause bleibt, sondern sich auf Reisen begibt – und dann auch noch sozusagen in der Hochsaison und ohne feste Reservierung – das ist zumindest merkwürdig. Sicher, da war das Gebot des Kaisers Augustus, und dann auch das Bestreben der Evangelisten, Jesus durch den Geburtsort Bethehem als Messias auszuweisen. Trotzdem bleibt das Bild von der Hochschwangeren auf erfolgloser Zimmersuche irritierend.
Maria sucht für die Geburt ihres Kindes eine Herberge und findet keine. Ihre Suche zeigt an, dass eine Geburt keine Privatangelegenheit ist, sondern ein soziales Gefüge braucht. Und eine materielle Absicherung – die Geburt im Stall wurde daher auch als Zeichen für Jesu Armut interpretiert. Was fehlt, ist also eine Herbergsmutter, eine Wirtin. Die Wirtin fehlt real in der Weihnachtsgeschichte. Aber sie fehlt auch symbolisch, und zwar einem Denken, das sich auf den Dualismus von privater und öffentlicher Sphäre, von geistlichem und materiellem Reichtum kapriziert hat. Durch welche Tür müssen Maria und damit auch ihr Kind schreiten, wenn ihnen eine Wirtin den Weg weist? ? Wie ließe sich diese Leerstelle füllen, die Marias Suche nach dem Ort für die Geburt anzeigt?
Die erste Wirtin meines Lebens war mittleren Alters, hatte eine blondierte Hochfrisur und schaute immer ziemlich streng, wenn sie uns Schnitzel mit Pommes servierte. Den einzigen »Kinderteller«, den sie im Angebot hatte. Kinder mögen doch Schnitzel mit Pommes, oder? Dieser Meinung war jedenfalls die Wirtin meiner Kindheit, Spaghetti mit Tomatensoße und Ähnliches kamen bei ihr nicht auf den Tisch.
Ihre Gaststätte hieß »Einhaus«, denn sie lag etwas außerhalb unseres Dorfes allein auf weiter Flur an einer Straßenkreuzung, nur »ein Haus« eben und sonst nichts. Für mich als Fünf- oder Sechsjährige hörte sich das Wort aber eher an wie »Einhorn«, vermutlich deshalb, weil die Einkehr dort etwas Verzaubertes hatte. Eine Aura des Außergewöhnlichen, die mir Respekt, Bescheidenheit und vor allem gutes Benehmen abverlangte, sonst setzte es mütterlicherseits schmerzhafte Kniffe in den Oberschenkel.
Trotzdem liebte ich diese familiären Kneipenbesuche, vermutlich deshalb, weil sie sehr selten waren. Ins »Einhaus« gingen wir zum Beispiel nach einem anstrengenden Besuch in den Kaufhäusern der nahe gelegenen Kleinstadt, denn an solchen Tagen hatte Mama keine Zeit zum Kochen. Mama war es auch, die die letzte Entscheidung traf, ob wir ins »Einhaus« gingen oder doch lieber gleich nach Hause fuhren, wo sie vielleicht noch eine Suppe von gestern im Kühlschrank hatte. So eine Einkehr in der Wirtschaft war schließlich eine zweischneidige Angelegenheit. Am Ende unseres Mahls zückte die Frau Wirtin nämlich unweigerlich einen Block und addierte mit ihrer strengen Miene Zahlenreihen auf, bei denen herauskam, wie viel Papa berappen musste. Geld war aber nur in begrenzter Menge vorhanden, wie wir Kinder schon ganz genau wussten, und es war deshalb auch unverzeihlich, das Schnitzel nicht aufgegessen zu haben.
Obwohl es andererseits auch nicht wirklich gut schmecken durfte. Da war nämlich deutlich eine gewisse Konkurrenz zwischen Mama und der Wirtin zu spüren. »Zuhause schmeckt es doch am Besten« beteuerte mein Vater, nachdem er sein Riesen-Jägerschnitzel bis auf den letzten Krümmel verzehrt hatte. War da nicht ein Fleck auf dem Glas gewesen? Und habt ihr diese geschmacklosen rot-weiß-karierten Tischdecken gesehen? Solchermaßen waren die Kommentare meiner Mutter, wenn wir später im Auto wieder nach Hause fuhren, froh, dass wir es nicht nötig hatten, häufiger »auswärts« zu essen. Denn wir hatten ja ein Haus, mit einer Mutter darin, die uns gut versorgte und alles besser konnte als jede Wirtin der Welt: Kochen, Putzen, Betten machen und Tischdecken aussuchen.
Mit anderen Worten: Wir hatten die Wirtin nicht wirklich nötig. Ich stelle mir vor, dass die Wirtin im »Einhaus« auch deshalb immer einen so strengen Gesichtsausdruck hatte, weil sie wusste, dass wir gar keine richtigen Gäste sind. Wir waren schließlich nicht in der Fremde, wie Maria und Josef in Bethlehem. Wenn wir im Einhaus keine »Herberge« fanden, weil dort zum Beispiel alle Tische schon besetzt waren, dann fuhren wir eben die paar Kilometer weiter und aßen zu Hause Salamibrot, ätsch!
An der Konkurrenz zwischen Hausfrau und Wirtin entsponnen sich immer wieder die Phantasien. Romane, Volksweisen und Kinofilme schildern die Wirtin nicht nur als eine, die stellvertretend für Ehefrau und Mutter die notwendigen Arbeiten der alltäglichen Reproduktion erledigt, sondern auch als eine, die viel nachsichtiger ist mit den Männern und ihren Lastern: »Es steht ein Wirtshaus an der Lahn, da kehren alle Fuhrleut' an, Frau Wirtin sitzt am Ofen, die Fuhrleut' um den Tisch herum, die Gäste sind besoffen« dichtete der Volksmund in meiner Heimat. Bei der Wirtin darf Mann, anders als zu Hause, aber nicht nur saufen, sondern noch viel mehr: »Frau Wirtin singt zur Leier, und alle Männer hören zu und kratzen sich die Eier«, heißt es in einer weiteren Strophe.
Dem Bild der sexuell freizügigen, vollbusigen Wirtin, bei der man mal so richtig »die Sau rauslassen« darf, steht freilich ein anderes Klischee gegenüber: die Wirtin als prüde Anstandsdame, die aufpasst, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Dass die bei ihr einquartierten Studenten ordentlich zu essen bekommen und keine Damenbesuche auf dem Zimmer empfangen. Im 19. Jahrhundert garantierten die Pensionsbetreiberinnen, die Unterkünfte für die oft von weither stammenden Textilarbeiterinnen stellten, deren Eltern für die Tugendhaftigkeit ihrer Töchter und bekamen häufig auch den Lohn ihrer Mieterinnen direkt von den Unternehmern ausgehändigt.
Womit wir beim Thema Ökonomie wären, das im Deutschen nicht zufällig »Wirtschaft« genannt wird. Die Wirtin ist Ökonomin, das heißt, sie will Geld verdienen – ein weiterer Punkt, der in patriarchaler Tradition als Gegenpart zur Ehefrau und Mutter verstanden wurde, die schließlich »selbstlos« und »nur aus Liebe« für Tisch und Bett sorgt. Eine Illusion natürlich, denn verhandelt wird überall, innerhalb und außerhalb der Familie, aber was die Wirtin betrifft hat sich der ökonomische Aspekt verselbstständigt, so wie das Geld inzwischen ja in vielen Bereichen als einziger Maßstab gilt. Eine Freundin von mir, die derzeit eine Ausbildung zur »Wirtin« absolviert – allerdings nicht zur Gastwirtin, sondern zur Kommunikationswirtin – hat das in ihrem Studium gelernt: Kommunikations-»Wirtin« heiße ihr angestrebter Beruf deshalb, weil er sich mit den »wirtschaftlichen«, das heißt, ökonomischen Bedingungen der Kommunikation beschäftige.
Ich bezweifle das. Und zwar weil meine Lieblingswirtin ganz anders ist. Weder ist sie ein Ersatz für die Mutter und Hausfrau, noch hat sie ökonomische Absichten. Sie ist zugegebenermaßen aber auch Fiktion, eine Erfindung. Sie lebt in der Zukunft, genauer gesagt im 24. Jahrhundert, und arbeitet auf einem Raumschiff, der legendären »Enterprise«.1Es ist ein Zeitalter, in dem hausfrauliche Arbeiten überflüssig geworden sind, denn es werden nur noch selbstreinigende Materialien verwendet und die Mahlzeiten kommen aus so genannten Replikatoren, die in allen Zimmern installiert sind: Computer, die jede beliebige einprogrammierte Nahrung in Sekundenschnelle materialisieren, vom Earl-Grey-Tee bis zum klingonischen Würmerauflauf. Es ist auch ein Zeitalter, in dem die Geldwirtschaft abgeschafft ist. Die Menschen arbeiten nicht mehr, um Geld zu verdienen, sondern weil sie Spaß daran haben, weil die Arbeit ihrem Leben einen Sinn gibt, eine Möglichkeit ist, die eigenen Wünsche und Ideen in die Welt zu tragen.
Obwohl hier weder gekocht noch Geld verdient werden muss, gibt es auch auf der Enterprise eine Kneipe und eine Wirtin: Guinan, grandios gespielt von Whoopy Goldberg. Guinan hat keine strengen Falten auf der Stirn, sondern ein wissendes Lächeln auf dem Mund. Das kommt daher, dass sie schon mehrere hundert Jahre alt ist und einiges erlebt hat im Universum. Sie hat Mark Twain persönlich gekannt und ist überhaupt schon ziemlich weit rumgekommen. Bei ihr gibt es auch nicht nur Schnitzel mit Pommes, sondern die unmöglichsten Gerichte, deren Rezepte (oder besser: molekulare Zusammensetzung) sie an den Rändern der Galaxis gesammelt hat. Deshalb sieht sie auch in jedem Gast eine Bereicherung. Sie ist offen für das Fremde, in jeder Hinsicht, an Anekdoten, Nachrichten und Meinungen genauso interessiert, wie an neuen Rezepten. Sie kann gut zuhören, hält aber mit ihrer eigenen Meinung keineswegs hinterm Berg. Denn sie ist weise, ungeheuer weise.
Wenn man sie so mit ihren wallenden Gewändern und schrillen Hüten hinter der langen Theke sieht, fällt es schwer, in ihr eine Konkurrenz zu meiner Mutter zu sehen. Wenn Mama hier essen ginge und sich über die lasche Schnitzelsoße beschwerte, dann würde Guinan nicht eine schnippische Bemerkung über Zuständigkeiten machen oder sich über den schlechten Geschmack terranischer Hausfrauen mokieren, sondern die Gelegenheit nutzen, um die Programmierung ihrer Replikatoren zu verbessern. Anschließend würde sie Mama einen knallblauen vulkanischen Pudding vorsetzen, bei der ihr Hören und Sehen vergeht. Und dann würden sich die beiden in eine Diskussion darüber vertiefen, ob die strengen Uniformen der Raumschiff-Offiziere eigentlich noch zeitgemäß sind …
Guinan ist auch keine Projektionsfläche für männliche Phantasien, denn sie verkörpert kein Abbild von Weiblichkeit, sondern sie ist eine Frau. An ihrem Frau-Sein gibt es niemals einen Zweifel, egal ob sie flirtet oder fechtet oder Getränke mixt oder Ratschläge erteilt, zum Beispiel einem Gast mit Liebeskummer oder einem Captain, der nicht weiß, wie er auf einen feindlichen Angriff reagieren soll. Was aber macht Guinan zur idealen Wirtin, wo sie doch weder Geld verdienen noch Mama ersetzen will? Sie steht als Person im Zentrum eines Ortes. Sie führt ein »Lokal«. Wie alle Wirtinnen. Denn das verbindet die erste Wirtin meines Lebens und ihr »Einhaus« mit meiner Lieblingswirtin aus der Zukunft, deren Etablissement »Zehn vorne« heißt, weil es auf dem zehnten vorderen Deck der Enterprise zu finden ist. Und mit der Wirtin aus dem »Wirtshaus an der Lahn« und den Pensionen in der Nachbarschaft von Universitäten oder Textilfabriken. Mit den Hotels in fremden Städten, in die ich reise, den Cafés im Stadtzentrum, wo ich mich nach dem Einkaufen ausruhe, den Bars, in denen ich mich mit Freundinnen verabrede.
Der Wert von Wirtschaften liegt gerade darin, dass sie die falsche Alternative von privat und öffentlich überwinden. Hier kann ich persönliche Gespräche führen, ohne jemanden in meine Wohnung zu lassen. Ich kann schlafen und duschen, obwohl ich in der Fremde bin. Lokale stehen – anders als das heimische Wohnzimmer – gerade den Fremden offen, und doch sind sie – anders als die meist »unwirtlichen« öffentlichen Plätze – heimelig, jedenfalls wenn sie gut sind. Dafür garantiert die Wirtin mit ihrer Person: Sie schafft ein Ambiente, das den einen gefällt und den anderen nicht, das ihre persönlichen Vorlieben mit den Ansprüchen der Gäste abgleicht. Sie entscheidet, ob es nur Schnitzel gibt oder auch Spaghetti, ob nur Frauen reindürfen oder auch Männer, welche Musik hier spielt und ob das Bier zwei Euro kostet oder dreifünfzig. Sie verhandelt das, mit den Gästen und mit sich selbst, und dann trifft sie ihre Entscheidung: das »Gesetz des Hauses«, so übrigens die wörtliche Bedeutung von »Ökonomie«.
Wirtschaften sind Orte, Lokale eben, an denen Menschen, Ressourcen, Dinge und Tätigkeiten sich zu einem Ganzen verbinden, das einen produktiven Austausch zum gegenseitigen Nutzen ermöglicht. Sie leben vom Aufeinandertreffen von Einheimischen und Fremden, von Leuten, die etwas haben und anderen, denen genau das fehlt: Umschlagplätze für Waren, Dienstleistungen, Informationen, Liebe. Getauscht wird Geld gegen Essen, Neuigkeiten gegen Ratschläge, Unterhaltung gegen ein Bett und, warum nicht, auch mal Sex gegen Moral. Jedes Einzelne davon kann wegfallen. Es gibt Lokale, in denen kann man nicht übernachten und andere, in denen gibt es nichts zu essen.
Was aber nicht wegfallen kann, das ist der reale Ort, der die Begegnung von Menschen in Fleisch und Blut ermöglicht, und die Person der Wirtin, diejenige, die dafür sorgt, dass der Austausch von was auch immer möglich ist. Denn ohne den Ort, ein Haus, und ohne Gesetz, die Autorität der Wirtin, wird die Wirtschaft zu dem, wofür manche so genannten Experten sie heute tatsächlich schon halten: Seelenlose Zahlen, die ohne Sinn um den Globus schwirren.
aus: Andrea Günter (Hg): Maria liest. Das heilige Fest der Geburt. Christel-Göttert-Verlag, Rüsselsheim 2004.
Lesung bei der Veranstaltung »Wirtinschaft« beim Deutschen Evangelischen Kirchentag, 25.5.2005, in Hannover.
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Das Beispiel bezieht sich auf die Serie »Star Trek – The Next Generation«, die in den späten 80er und frühen 90er Jahren gedreht wurde – nicht zu verwechseln mit den ursprünglichen »Star Trek«-Folgen mit Captain Kirk. ↩