Antje Schrupp im Netz

Weil wir es uns wert sind

(Dieser Artikel erschien in einer redigierten Fassung in der Stuttgarter Zeitung, Beilage »Die Brücke zur Welt«, 25.7.2015)

Seit einiger Zeit ist immer häufiger ein Begriff zu hören, der eine Leerstelle in herkömmlichen ökonomischen Debatten beleuchtet: „Care-Arbeit“. Das englische Wort „Care“ bedeutet ins Deutsche übersetzt Fürsorge, aber auch Achtsamkeit, Obhut, Pflege und Umsicht. Gemeint sind also die so genannten „Sorgearbeiten“, Kindererziehung, die Pflege von Alten und Kranken, Putzen und Waschen, Essen zubereiten und dergleichen.

Es sind Arbeiten, die früher größtenteils von Hausfrauen ohne Bezahlung in Familien gemacht wurden – ein Modell, das heute jedoch nicht mehr funktioniert. Das Lebensmodell der „Nur-Hausfrau“, die nach alter patriarchaler Vorstellung „in ihrem Heim“ waltete, aber das Wirken in der Öffentlichkeit, die Politik und die Erwerbsarbeit, ihrem Ehemann überließ (und von diesem in sozialer und materieller Hinsicht vollkommen abhängig war), ist für die meisten Frauen heute nicht mehr attraktiv. Und auch die Wirtschaft möchte ja auf die Arbeitskraft der oft gut ausgebildeten Frauen nicht länger verzichten.

Als die Frauenbewegung das Thema in den 1970er Jahren auf die Tagesordnung setzte, schwebte den meisten Feministinnen eine Umverteilung von Arbeit vor. Frauen und Männer sollten sich jeweils halbe-halbe fürs Geldverdienen und für die Haus- und Fürsorgearbeit zuständig fühlen, lautete ihr Vorschlag. Gekommen ist es anders. Statt gesellschaftliche Verhältnisse neu zu ordnen, wurden die Frauen den Männern „gleichgestellt“, das heißt, es werden an sie heute im Erwerbsarbeitsleben dieselben Ansprüche gestellt. Teilzeitstellen sind, gerade in qualifizierten Berufen, praktisch nicht zu bekommen, die meisten Arbeitgeber fordern ganz offen Vollzeitengagement von allen ihren Angestellten. Aus diesem Grund befinden sich die „Care-Arbeiten“ heute in einer Krise – es ist nicht klar, wer sie in Zukunft machen soll und unter welchen Bedingungen.

Momentan gibt es nur gleichermaßen schlechte Modelle. Eine ganze Reihe von Frauen verzichtet immer noch teilweise oder ganz auf eine eigene Erwerbsarbeit, um für Kinder und Haushalt zu sorgen. Allerdings wird dieser Lebensstil immer riskanter, da politische Vergünstigungen zunehmend wegfallen, zum Beispiel durch die weitgehende Abschaffung von Unterhaltsansprüchen im Fall einer Scheidung. Deshalb sind in vielen Familien Frauen und Männer heute gleichermaßen erwerbstägig, höchstens reduzieren sie – öfter die Frauen als die Männer – die Stundenzahl, wenn die Kinder noch sehr klein sind. Diese Lösung bedeutet aber eine erhebliche Mehrbelastung: Statt ehemals 40 Stunden Erwerbsarbeit leistet ein Ehepaar gemeinsam nun 60, 70 oder 80 Stunden. Die Hausarbeit muss abends und am Wochenende erledigt werden. Für die Kinderbetreuung haben Eltern inzwischen zwar etwas Unterstützung, da es ein Recht auf einen Betreuungsplatz auch für unter Dreijährige gibt. Doch ohne die Unterstützung ehrenamtlich einspringender Großeltern oder aus dem Bekanntenkreis ist es aber trotzdem kaum zu schaffen, denn Kinder sind ja nicht allein deshalb schon versorgt, weil sie einige Stunden am Tag in die Kita können. Auch morgens, abends und in der Nacht brauchen sie jemanden, der oder die für sie sorgt. Das Problem verschärft sich noch einmal, sobald die Kinder in die Schule kommen. Denn anders bei Kita-Plätzen gibt es keinen Rechtsanspruch auf einen Hortplatz, aber viele Eltern möchten ihre sechsjährigen Kinder nicht ganze Nachmittage allein lassen. Zudem geht es bei alldem ja nicht nur um Hausarbeit und Kinderbetreuung. Auch die Frage der Versorgung von Kranken oder von hilfs- und pflegebedürfigen Menschen ist ungelöst – und angesichts des demografischen Wandels stellt sie sich mit zunehmender Dringlichkeit.

Wohlhabendere Familien können einen Teil dieser Arbeiten „outsourcen“. Sie können es sich leisten, ihre Kinder in gut ausgestattete Kitas mit langen Öffnungszeiten oder in private Ganztagsschulen zu schicken. Für viele Haushaltsarbeiten können sie sich bezahlte Dienstleistungen einkaufen – Putzfrauen und Babysitter beschäftigen, Wäsche zum Waschen und Bügeln weggeben, im Restaurant essen und dergleichen. Doch erstens ist dies nur für Familien mit relativ hohem Einkommen eine Option, und zweitens ist dadurch ein weiteres Problemfeld entstanden: die massenhafte Nachfrage nach billigen Arbeitskräften. Denn so ein Arrangement rechnet sich ja letztlich nur, wenn die Putzfrauen oder Pflegekräfte, aber auch die Beschäftigten in Restaurants, Wäschereien, Kitas und Krankenhäusern deutlich weniger verdienen als man selbst. Gerade im Bereich der Altenpflege und der privaten Reinigungskräfte ist längst ein neuer Schattenmarkt entstanden. Feministische Ökonominnen sprechen dabei von „globalen Sorgeketten“: Frauen aus ärmeren Ländern übernehmen einen großen Teil der Care-Arbeiten in deutschen Haushalten, hinterlassen aber in ihren eigenen Familien Lücken, die dann häufig wieder von Migrantinnen aus noch ärmeren Ländern gefüllt werden. Solche transnationale Arrangements sind nicht nur ökonomische Rechenspiele. Es sind soziale Lebensverhältnisse ganzer Gesellschaften, die davon betroffen werden.

Dennoch wird die Krise der Care-Arbeit von herkömmlichen Wirtschaftstheorien noch selten erfasst, da sie sich meistens nur mit „Arbeit“ beschäftigt, wenn dafür im Rahmen herkömmlicher Arbeitsverträge Geld bezahlt wird. Alles andere gilt als „Privatsache“, obwohl die unbezahlte oder informelle und dadurch unsichtbare Care-Arbeit einen erheblichen Anteil am gesellschaftlichen Wohlstand hat. Die Politik wiederum gibt widersprüchliche, teils sogar gegensätzliche Anreize und Vorschriften. Einerseits sollen Frauen und Männer gleichermaßen erwerbstätig sein, am Besten in Vollzeit, andererseits wird zum Beispiel der Gesundheitsmarkt zunehmend betriebswirtschaftlich organisiert. Krankenhäuser müssen heute profitabel wirtschaften, weshalb sie Patientinnen und Patienten immer früher entlassen, häufig in einem Zustand, in dem sie sich zuhause noch nicht selbst versorgen können, was bedeutet, dass sie auf Care-Arbeit anderer angewiesen sind.

Allerdings bilden sich inzwischen eine Reihe zivilgesellschaftlicher Bewegungen, die auf den Missstand aufmerksam machen und Debatten über mögliche Auswege aus dem Dilemma anstoßen. Im März 2014 organisierte der feministisch inspirierte Aktionskreis „Care Revolution“ in Berlin einen Kongress, zu dem hundert Teilnehmerinnen und Teilnehmer erwartet wurden – gekommen sind dann fünfhundert. Das Thema brennt ganz offensichtlich vielen auf den Nägeln. Aus dem Treffen ist ein „Netzwerk Care Revolution“ hervorgegangen, das kontinuierlich an dem Thema weiter arbeitet und Netzwerktreffen und Konferenzen organisiert (www.care-revolution.org).

Es gilt dabei, das Thema „Care“ nicht mehr als Randgebiet der Ökonomie zu verstehen, sondern als deren Zentrum: Schließlich ist es die originäre Aufgabe von „Wirtschaft“, dafür zu sorgen, dass die Bedürfnisse der Menschen so befriedigt werden, dass möglichst alle gut leben können. Deshalb spielen klassische politische und ökonomische Unterscheidungen im Netzwerk Care Revolution keine Rolle, zum Beispiel, welcher Organisation oder Partei man angehört (und ob überhaupt) oder ob die eigene Care-Arbeit bezahlt wird oder nicht. Gewerkschafterinnen und Parteipolitiker arbeiten hier ebenso mit wie Aktivistinnen aus NGOs oder Einzelne, die gar keiner Organisation angehören. Krankenpfleger, Reinigungskräfte und Erzieherinnen – also Menschen, die Care-Arbeit als Erwerbsberuf haben – sind ebenso dabei wie Menschen, die, zum Beispiel in ihren Familien oder in selbst verwalteten Projekten – Care Arbeit ohne Bezahlung leisten. Denn aus einer „Care-Perspektive“ ist es wichtig, dass sich hier nicht Menschen gegeneinander ausspielen lassen, die eigentlich ähnliche Interessen und Anliegen haben, wie zum Beispiel Eltern und Erzieherinnen während des Kita-Streiks.

Dass die Care-Bewegung feministische Wurzeln hat, ist offensichtlich. Nicht nur steht das Thema „Hausarbeit und Kindererziehung“ schon seit den 1970er Jahren auf der Agenda der Frauenbewegung. Seither sind auch zahlreiche wissenschaftliche Analysen feministischer Ökonominnen und Philosophinnen erschienen. Auch im Bereich privater oder selbstverwalteter Initiativen hat sich vieles getan, sind neue und andere Formen erprobt worden, wie Care Arbeit organisiert werden kann. Jetzt geht es darum, diesen Fundus an Erkenntnissen und Erfahrungen in den gängigen Diskurs hinein zu vermitteln. Dass die Frage der Neuorganisation von Haus- und Fürsorgearbeit kein „Frauenthema“ ist, sondern eines, das alle betrifft, zeigt sich daran, dass auch zahlreiche Männer im Netzwerk Care Revolution mitarbeiten.

Dabei gilt es auch, bestimmten frauenpolitischen Engführungen zu widersprechen. Die Gleichstellungspolitik, in die hinein der gesellschaftspolitische feministische Aufbruch der 1970er Jahre in den Achtzigern und Neunzigern weitgehend kanalisiert wurde, hat nämlich das Thema der Care Arbeit häufig ebenfalls nicht genügend berücksichtigt. Inzwischen wird immer offensichtlicher, dass eine bloße „Gleichstellung“ der Frauen mit den Männern der falsche Ansatz ist, solange der männliche Part die Norm bleibt. Denn es wäre ja nichts gewonnen, wenn gut bezahlte Erwerbsarbeit auf der einen und prekäre, schlecht oder gar nicht bezahlte Care Arbeit auf der anderen Seite gleichmäßig zwischen Frauen und Männern aufgeteilt wäre, sich aber an dieser ungleichen Wertigkeit nichts ändern würde.

Dass Frauen von den Ungerechtigkeiten und materiellen Nachteilen, die die symbolische und damit auch materielle Geringschätzung der Sorgearbeit mit sich bringt, in stärkerem Ausmaß betroffen sind als Männer, ist lediglich ein Symptom dafür, dass hier etwas im Argen liegt. Der feministische Protest gegen die Abwertung weiblicher Haus- und Sorgearbeiten bedeutete für die Aktivistinnen der Frauenbewegung nicht, dass sie nun für sich dieselben Privilegien der Männer einforderten, schon gar nicht, wenn das auf dem Rücken anderer Frauen umgesetzt wird. Sondern es bedeutet, dass Frauen – also diejenigen, die in der Vergangenheit den Löwenanteil der unbezahlten und unsichtbaren Care Arbeit geleistet haben – Expertinnen auf diesem Gebiet sind. Ihre Erfahrungen müssen einfließen in das Projekt, neue „postpatriarchale“ Lösungen dafür zu finden, wie diese notwendige Arbeiten heute gerecht organisiert werden können, wo die häusliche Gratisarbeit von Frauen nicht mehr selbstverständlich zur Verfügung steht.

Alle ökonomischen und sozialpolitischen Vorschläge und Projekte sollten deshalb zukünftig an diesem Maßstab gemessen werden: Welche Auswirkungen und Folgen haben sie unter dem Aspekt einer notwendigen Neubewertung und Neuorganisation von Care-Arbeit?

Zum Weiterlesen:

Gabriele Winker: Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft, Bielefeld 2015.

Ina Praetorius: Wirtschaft ist Care oder: Die Wiederentdeckung des Selbstverständlichen, Berlin 2015 (kostenloser Download: https://www.boell.de/de/2015/02/19/wirtschaft-ist-care-oder-die-wiederentdeckung-des-selbstverstaendlichen)