Was muss, das muss. Über Notwendigkeit
Vortrag am 20.1.2014 im Ev. Frauenbegegnungszentrum Frankfurt
(Eine längere Version dieses Textes ist abgedruckt in: Werner Rätz, Ronald Blaschke (Hg): Teil der Lösung. Plädoyer für ein bedingungsloses Grundeinkommen, Rotpunktverlag 2013)
Letztes Jahr habe ich tagelang das Badezimmer geputzt, habe Schränke ausgeräumt, Wände gescheuert, bis in die letzte Ritze, immer und immer wieder. Dabei bin ich gar nicht besonders pingelig in Bezug auf Sauberkeit. Putzen macht mir auch nicht sonderlich Spaß und bezahlt hat mich auch niemand dafür. Der Grund für meinen Arbeitseifer war etwas viel Zwingenderes: pure Notwendigkeit. Denn bei meiner Rückkehr von einer mehrwöchigen Reise hatte sich mein Bad in ein schimmeliges Feuchtbiotop verwandelt. Der Heißwasserhahn hatte die ganze Zeit vor sich hin getröpfelt, während gleichzeitig Tür und Fenster fest verschlossen waren. Selten war ich zu einer Arbeit so motiviert wie an diesem Tag.
Ein Einwand, der häufig gegen die Idee eines leistungsunabhängigen Grundeinkommens vorgebracht wird, ist die Befürchtung, dann würde die allgemeine Arbeitsleistung so sehr sinken, dass es sich negativ auf den allgemeinen Wohlstand auswirken würde: Es kann eben nur verteilt werden, was vorher auch erwirtschaftet wurde. Tatsächlich ist es wichtig, die Frage zu stellen, welche Auswirkungen ein Grundeinkommen auf den persönlichen und gesellschaftlichen Wohlstand haben wird. Und es ist sicher zu kurz gedacht, gegen diesen Einwand einfach hoffnungsfroh zu versichern, dass Menschen bestimmt auch ohne den Anreiz des Geldverdienens Sinnvolles für die Allgemeinheit tun werden. Gerade in Bezug auf die Frage, wer genau denn dann die unbeliebten Arbeiten machen wird, bleibt diese optimistische Sichtweise unbefriedigend. Woher sich die Motivation, etwas zu tun, denn konkret speisen soll, wenn der Zwang zum Geldverdienen wegfällt, muss vielmehr explizit geklärt werden: Wie kann die Motivation, zu arbeiten, also mit der eigenen Tätigkeit etwas zum gesellschaftlichen Wohlstand beizutragen, kulturell anders gedacht und befördert werden als bisher?
In diesem Beitrag möchte ich den Vorschlag machen, dabei den Aspekt der Notwendigkeit in die Diskussion einzuführen. Denn zu erkennen, dass eine Arbeit notwendig ist, motiviert mehr als die Aussicht auf Geld. Und es stellt sicher, dass Arbeiten auch dann verlässlich erledigt werden, wenn einmal niemand da ist, der gerade Lust dazu hat. Gleichzeitig könnte Notwendigkeit auch ein anderer Maßstab für Wohlstand sein als die Höhe des Bruttosozialproduktes. Ein gutes Leben für alle gibt es nämlich nicht dann, wenn möglichst viel Geld zirkuliert, sondern wenn für alles, was notwendig ist, verlässlich und in guter Qualität gesorgt wird.
Wenn etwas wirklich notwendig ist, fangen Menschen an, ohne Wenn und Aber die Ärmel aufzukrempeln, so wie ich angesichts meines verschimmelten Badezimmers. Aber, wie das Beispiel ebenfalls zeigt: Notwendigkeit ist nicht unbedingt schön. Sie übt einen unmittelbaren Zwang aus, nimmt keine Rücksicht darauf, ob wir gerade Lust haben, etwas zu tun. Wenn etwas notwendig ist, müssen wir es tun, ob wir wollen oder nicht.
In der westlichen Philosophie – schon seit der Antike – gilt Notwendigkeit aus diesem Grund als unvereinbar mit Freiheit. Aristoteles etwa setzte Notwendigkeit mit Gewalt gleich und definierte sie als »Gegenteil einer nach Entscheidung und Nachdenken verlaufenden Bewegung«. Ganz ähnlich argumentierte in einem Internetforum ein Kommentator, der meiner Einschätzung widersprach, die geschlechtsspezifische Ungleichverteilung bei der unbezahlten Sorgearbeit sei ungerecht. Er schrieb: »Frauen müssen sich also um Kinder, Alte und Haushalt kümmern. Wer sagt eigentlich, dass sie müssen? Wer zwingt sie dazu? Das Patriarchat, verkörpert durch den Herrn und Gebieter daheim?«
Die Logik hinter dieser Argumentation ist, dass Menschen nur dann etwas tun müssen, wenn sie von einer äußeren Kraft unmittelbar dazu gezwungen werden. Da Frauen heute aber niemand mehr dazu zwingt, Haus- und Fürsorgearbeit zu erledigen, müssen sie diese Arbeiten auch nicht tun – und wenn sie es dennoch tun, tun sie es aus freien Stücken und brauchen sich also über eine ungleiche Beteiligung nicht zu beklagen. Diese Haltung zeigt deutlich, dass das Kriterium der Notwendigkeit in Bezug auf die Begründung des menschlichen Handelns nicht im Blick ist. Denn die Notwendigkeit ist ja ein Drittes. Sie ist weder äußerer Zwang, noch ist sie reine Setzung des eigenen Willens. Das Notwendige zeigt sich keineswegs, wie Aristoteles glaubte, als äußere Gewalt, sondern eher als innerer Zwang. Etwas Notwendiges zu tun, ist die Antwort eines freien Menschen auf die Erfordernisse der Welt. Ja, eine Mutter »muss« sich um ihr Kind kümmern, aber nicht, weil sie jemand dazu zwingt und sie kein freier Mensch wäre.
Doch die westlich-männliche Philosophietradition steht dem Tun des Notwendigen skeptisch gegenüber, denn sie glaubt, etwas Notwendiges zu tun, bedeute, dass hinter der entsprechenden Handlung keine freie Entscheidung mehr stehe. Als frei gilt ihr nur, wer in seinem Alltag vom Tun des Notwendigen befreit ist, zum Beispiel, weil er über andere verfügen kann, die ihm diese Arbeiten abnehmen: Sklavinnen und Sklaven, bezahlte Angestellte, externe Dienstleister. Freies Tätigsein ist, so verstanden, nur ein Tätigsein, dem kein Zwang zugrunde liegt, das sich also nicht aus einem Müssen herleitet (denn dann, so die Vorstellung dahinter, wäre es ja nicht mehr frei), sondern aus einem selbst gewählten Wollen.
Aus dieser Gegenüberstellung erklärt sich die große Abneigung der westlichen Philosophen gegen alles Körperliche. Denn die Tatsache, dass Menschen körperliche Wesen sind, macht es ihnen ja prinzipiell unmöglich, der Notwendigkeit zu entkommen. Sie müssen essen, schlafen, scheißen. Sie brauchen Kleidung, sie brauchen Essen, sie brauchen die Möglichkeit, aufs Klo zu gehen, und einen Ort, wo sie schlafen können. Das alles ist mit Arbeit verbunden. Die Kleidung hält nicht ewig, Essen muss immer wieder neu beschafft, das Bett gemacht und das Klo geputzt werden. Kein Mensch kann diesen Notwendigkeiten entkommen, egal wie reich, egal wie mächtig er ist. Aufgrund ihrer Körperlichkeit sind Menschen prinzipiell Bedürftige, und zwar alle Menschen ohne Ausnahme.
Und, um es noch schlimmer zu machen: Kein Mensch ist in der Lage, diese für sein eigenes Überleben so dringend notwendigen Arbeiten selbst zu erledigen. Menschen kommen nicht als voll funktionstüchtige Erwachsene in diese Welt, sondern sie werden geboren, das heißt, sie rutschen als winzige, nackte, hilflose Wesen aus dem Körper einer Frau und können vom ersten Moment ihres Lebens an erst einmal gar nichts selber machen. Auch als Erwachsene stehen sie ständig in der Gefahr, krank zu werden oder einen Unfall zu haben. Sie können also jederzeit in die Situation geraten, zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse existenziell auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein. Dies ist eine Tatsache, die untrennbar zum Menschsein dazugehört.
Wenn man also Freiheit als Nichtbetroffensein vom Tun des Notwendigen versteht, bedeutet das, konsequent zu Ende gedacht, dass Menschen unmöglich frei sein können. Freiheit als Unabhängigkeit widerspricht der conditio humana, die eben prinzipielle Abhängigkeit ist, es sei denn, man greift zu einem Trick und löst das Problem durch Verdrängung, Ausgliederung und Unsichtbarmachung, so wie patriarchale Kulturen es getan haben. Sie erklärten nämlich diejenigen Arbeiten, die mit den Notwendigkeiten verbunden waren, die sich unmittelbar aus der körperlichen Bedürftigkeit der Menschen ergeben, zum Aufgabenbereich ganz bestimmter Menschen, zuerst der Sklavinnen und Sklaven, später der Frauen. Feministische Wissenschaftlerinnen haben herausgearbeitet, wie konstitutiv der ungeschriebene »Geschlechtervertrag« (Carol Pateman), der den Frauen die private Sorgearbeit, den Männern den öffentlichen Markt zugewiesen hat, für das Entstehen der modernen Gesellschaften war. Die Idee einer öffentlichen Sphäre und eines Marktes, wo sich freie und gleiche Männer auf Augenhöhe begegnen, konnte nur entstehen und kann nur existieren auf der Grundlage eines gleichzeitigen Einschlusses und Ausschlusses der Frauen: Sie waren in das System von Markt und Polis eingeschlossen, weil ihre Arbeit für das Funktionieren des Ganzen unverzichtbar war, und gleichzeitig von ihm ausgeschlossen, weil ihre Arbeit nicht mit den Prinzipien von Gleichheit und Freiheit der Märkte und der Politik vereinbar war, weshalb den Frauen auch der Zutritt zu diesen Orten verwehrt werden musste.
Eine von vielen Folgen dieser Verdrängung der Notwendigkeit aus dem westlichen Freiheitskonzept war ein verzerrtes Verständnis von Ökonomie, nach dem der große Anteil menschlicher Pflege- und Fürsorgearbeiten in den meisten Wirtschaftstheorien völlig unbeachtet blieb, was teilweise bis heute so ist. Statt zu untersuchen und zu reflektieren, wodurch Menschen motiviert sind, Arbeiten zu übernehmen, die für das körperliche Überleben bedürftiger Menschenwesen notwendig sind (obwohl es dafür weder Geld noch gesellschaftlichen Status gibt), hat man sich zu esoterischen Spekulationen verstiegen und die Gründe in ominösen Befindlichkeiten wie mütterlichen Instinkten oder weiblichen Tugenden vermutet. Die Frage, warum Frauen für ihre Männer die Wäsche waschen, obwohl die das selbst könnten, warum Erwachsene sich jahrelang um die Bedürfnisse kleiner Kinder kümmern, obwohl diese ihnen gar nichts im Tausch dafür zurückgeben können, warum Schwiegertöchter die alten Schwiegereltern pflegen, obwohl man sie dazu nicht zwingen kann, wurde nicht gestellt. Es galt irgendwie als selbstverständlich, dass sie das tun. Das war doch schon immer so, oder nicht? All diese Arbeiten, obwohl sie einen so großen Anteil am Wohlstand jeder Gesellschaft haben, wurden schlicht als nicht erforschenswert betrachtet, denn man erkannte in ihnen nicht einen wichtigen Teilbereich von Kultur oder ökonomischen Verhältnissen, sondern behauptete, das alles sei Teil einer natürlichen Ordnung oder eines göttlichen Schöpferwillens, also den politischen Verhandlungen der Menschen ohnehin entzogen und prinzipiell unveränderlich.
Heute wissen wir, wie illusorisch diese Annahme war. Das Desinteresse an den kulturellen Grundlagen für unbezahlte Arbeit kommt die westlichen Gesellschaften inzwischen teuer zu stehen. Denn natürlich sind es nicht die Gene oder die Natur, die sicherstellen, dass Frauen bis in alle Ewigkeit putzen, pflegen und Essen kochen. Die Frauen haben den Geschlechtervertrag aufgekündigt und beanspruchen einen gleichberechtigten Zugang zur Politik und zum Erwerbsarbeitsmarkt. Deshalb stellt sich dringend die Frage, wer all die Arbeiten erledigen soll, die bisher die Frauen gratis in den Haushalten erledigt haben, wenn es keine Hausfrauen mehr gibt? Eine Antwort auf diese Frage ist nicht in Sicht, und gleichzeitig ist angesichts des demografischen Wandels bereits absehbar, dass der Bedarf an solchen Arbeiten in Zukunft größer wird.
Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit Menschen in der Lage sind, das, was notwendig ist, zu erkennen? Philosophinnen wie Simone Weil und Iris Murdoch haben sich intensiv mit dieser Frage beschäftigt und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass vor allem Aufmerksamkeit und bewusste Anwesenheit in einer Situation erforderlich ist, um die ihr innewohnenden Notwendigkeiten zu erkennen. Das bedeutet: Die Notwendigkeit existiert zwar unabhängig vom subjektiven Willen, doch ohne dessen Einwilligung ist sie unwirksam. Gerade weil das Notwendige sich nicht in Form eines äußeren Zwanges zeigt, sondern in Form einer inneren Erkenntnis, ist es nicht objektiv und allgemeinverbindlich festlegbar. Bekanntermaßen beantworten unterschiedliche Menschen die Frage, wie genau eine Toilette aussehen muss, damit sie notwendigerweise geputzt werden muss, unterschiedlich.
Notwendigkeit ist keine absolute Größe, sondern es gibt, im Unterschied zum Zwang, einen gewissen Interpretationsspielraum. Wenn wir das Erkennen des Notwendigen als Paradigma für eine stabile Ökonomie verstehen wollen, so kann das daher nicht bedeuten, dass von irgendeiner Instanz festgelegt wird, was notwendig ist. Denn das Notwendige entfaltet seine Motivation zum Arbeiten nur dann, wenn diejenige, die diese Arbeit tun wird, diese Notwendigkeit auch subjektiv erkennt und nicht von außen vorgeschrieben bekommt. Das Erkennen einer Notwendigkeit und die Übernahme der Verantwortung, also die Bereitschaft, das, was als notwendig erkannt wurde, auch wirklich zu tun, vollzieht sich als innere Beziehung zwischen der Welt und einer Person.
Das Notwendige zu sehen und dann auch entsprechend zu handeln, ist eine kulturelle Kompetenz, es geschieht nicht automatisch. Es ist auch möglich, dass Menschen vor dem Notwendigen die Augen verschließen oder sich auf den Standpunkt stellen, sie wären dafür nicht zuständig (und es könne sie schließlich auch niemand dazu zwingen). Es braucht also ein bestimmtes kulturelles Paradigma, um im Tun des Notwendigen eine Motivation fürs Arbeiten zu finden. Das Achten auf Notwendigkeiten als kulturelle Praxis zu verankern bedeutet, dass Menschen das Kriterium der Notwendigkeit in Bezug auf die eigenen Handlungen und Entscheidungen ernst nehmen (können). Es ist nahe liegend, dass ein solcher Paradigmenwechsel – Notwendigkeit als wesentliche Arbeitsmotivation zu verstehen und nicht in erster Linie Geld oder eigene Befriedigung – helfen würde, die ungelöste Frage nach der Fürsorgearbeit zu beantworten. Und ein Grundeinkommen würde für die Einzelnen mehr Spielraum schaffen, sodass sie bei der Entscheidung, was sie tun sollen, dem Kriterium der Notwendigkeit Priorität einräumen vor dem Kriterium der Bezahlung. Dafür ist es wichtig, bei Visionen für neue ökonomische Prinzipien – auch für die Einführung eines Grundeinkommens – nicht sloganhaft ein »Ende der Arbeit« zu versprechen (wie etwa Jeremy Rifkin), sondern deutlich zu machen, dass auch in Zukunft noch gearbeitet wird und werden muss, nur eben unter anderen Bedingungen, nämlich nicht über den Markt, sondern über die Notwendigkeit vermittelt.
Wenn die Notwendigkeit des Arbeitens nicht mehr im Zwang, Geld verdienen zu müssen, liegt, wächst die Wahrscheinlichkeit, dass diejenigen Notwendigkeiten in den Blick kommen, die sich im Hinblick auf gesellschaftlichen Wohlstand tatsächlich stellen. Die Erwerbsarbeitslogik hat die Frage, was notwendig ist, nicht nur aus den ökonomischen Gesetzmäßigkeiten entfernt, sondern auch aus dem persönlichen Alltagsrepertoire vieler Menschen, vor allem derer, die in ihrem persönlichen Umfeld nicht direkt mit Sorgebedürftigkeit konfrontiert sind. Übrig geblieben sind nur die Unterordnung unter äußeren Zwang auf der einen Seite (der Befehl vom Chef) oder subjektives Spaßhaben auf der anderen (Selbstverwirklichung). Ein Grundeinkommen macht es möglich, stattdessen die Frage der Notwendigkeit wieder ins Zentrum kultureller und ökonomischer Debatten und Auseinandersetzungen zu stellen, also das eigene Tätigsein bewusst daran auszurichten, was getan werden muss, ohne dieses Müssen nach objektiven Maßstäben für alle verbindlich zu machen. Unser aller zukünftiger Wohlstand wird ganz maßgeblich davon abhängen, ob dieser Paradigmenwechsel gelingt.