Antje Schrupp im Netz

Schutzheilige der Nation

Eine Wallfahrt zu »Nossa Senhora Aparecida« – und zur zweitgrößten Kathedrale der Welt

Eine kleine, nicht einmal vierzig Zentimeter hohe Madonnenfigur machte aus einem verschlafenen Nest in der Nähe von São Paulo einen der größten Wallfahrtsorte der Welt. Jedes Jahr pilgern sieben Millionen Menschen zu Nossa Senhora Aparecida , um der brasilianischen Nationalheiligen die Ehre zu erweisen.

Bild Dona Esmeralda ist, wie die meisten ihrer Landsleute, fromme Katholikin. »Nossa Senhora!« ruft sie aus, wenn der Briefträger wieder mal schlechte Nachrichten bringt oder der Hund den Blumentopf umgeworfen hat. Und wie überall in Brasilien ist auch in ihrer Wohnung die schwarze Madonna mit dem bodenlangen blauen Umhang, auf dem links und rechts die Nationalflagge prangt, allgegenwärtig: Ihr Bildnis schmückt den Kalender an der Wand, das Notizheft, in dem Dona Esmeralda ihre Rezepte aufbewahrt, die Windschutzscheibe des Autos. Und so antwortet meine Gastgeberin in São Paulo auch sehr bestimmt auf die Frage, was ich denn in den zwei Wochen, die vor mir liegen, alles besichtigen soll: »Aparecida natürlich!«

Aparecida? Kaum wage ich zuzugeben, dass ich von einem Ort dieses Namens noch nie etwas gehört habe. Auch mein gewöhnlich gut informierter Reiseführer Lonely Planet lässt mich diesmal im Stich – kein Eintrag. »Wie kann man Aparecida nicht kennen?« Dona Esmeralda schüttelt entrüstet den Kopf: »Das ist die zweitgrößte Kathedrale der Welt, gleich nach dem Petersdom in Rom!« Und offenbar so eine Art brasilianisches Mekka: »Einmal im Leben muss jeder zum Tempel der schwarzen Madonna pilgern«, sagt Dona Esmeralda entschieden. Sie selbst war sogar schon zweimal dort. Und beschließt, meinen Besuch zum Anlass für eine dritte Wallfahrt zu nehmen. Morgen früh geht’s los.

BildZeit genug, um noch nach einigen Informationen zu fahnden. Der gelehrte *Baedecke**r* weiß immerhin, dass es einen Ort dieses Namens gibt: Aparecida, erfahre ich, hat eine »alte« und eine »neue Basilika«. Verehrt werde dort eine kleine Madonnenfigur, die Fischer im Jahre 1717 in ihren Netzen aus dem Fluss zogen. Dass man dort unbedingt einmal gewesen sein muss, glaubt der *Baedecker* offensichtlich aber auch nicht.

Doch Dona Esmeralda duldet keinen Widerspruch. Während ich Fotoapparat und Notizblock bereitlege, drapiert sie Blumen und Muscheln in ein Körbchen – Opfergaben für Nossa Senhora, erklärt sie mir. Opfergaben? Dona Esmeralda nimmt mich mit in die Waschküche, wo ihr Hausaltar aufgebaut ist: Die Statue der Aparecida thront natürlich im Zentrum, umringt von einer Vielzahl von Gestalten, darunter der Heilige Georg in Ritterrüstung, ein alter Schwarzer mit grauem Haar, der Heilige Sebastian, dem das Blut aus den Wunden läuft, eine Plastikpuppe, die das Jesuskind darstellen soll. »Nossa Senhora mag Blumen«, erklärt mir Dona Esmeralda. »Und Muscheln, denn sie ist auch die Göttin der Meere. Der alte Schwarze ist der Geist unserer Vorfahren. Ihm muss man jeden Tag frischen Kaffee bringen. Und das hier« – sie zeigt auf den Heilige Georg – »ist Oxossi, der Gott des Waldes, ein großer Krieger. Er mag Holz und Eisen.«

Von der in Brasilien weit verbreiteten Vermischung von Katholizismus und afrikanischer Naturreligion habe ich zwar schon gehört. Trotzdem frage ich vorsichtshalber noch einmal nach: »Aber du bist doch katholisch?« – »Natürlich!« sagt Dona Esmeralda. »Aber das heißt doch nicht, dass ich Nossa Senhora mit leeren Händen besuchen muss!«

Bevor wir losfahren können, schickt sie mich erst noch einmal zum Umziehen: Ein rotes T-Shirt ist inakzeptabel, Pilgerinnen kleiden sich weiß. Schulterfrei geht in Ordnung. Als Dona Esmeralda endlich mit meinem Outfit zufrieden ist, drückt sie mir noch ein Werbeheftchen in die Hand, das sie in irgendeiner Schublade gefunden hat: Die »neue Basilika« von Aparecida, lese ich da, sei die zweitgrößte Kathedrale der Welt nach dem Petersdom. Ich muss schmunzeln. Weiter mit den harten Fakten: 7 Millionen Besucherinnen und Besucher pro Jahr,18.000Quadratmeter Grundfläche, 45.000 Sitzplätze, Parkplatz für 4.000 Busse und 6.000 Autos, nebenan ein »Shoppingcenter des Glaubens« mit über 700 Geschäften und Restaurants, 500 Toiletten. 50 Tonnen Müll jedes Wochenende. Na dann!

Wir fahren auf die Autobahn Richtung Rio de Janeiro und erreichen nach gut 150 Kilometern unser Ziel. Der Vergleich mit dem Petersdom hat in meiner Phantasie wohl die Vorstellung einer prunkvollen Kathedrale entstehen lassen, denn als wir mitten in der Landschaft von der Autobahn abfahren und in der Ferne die ganz unspektakuläre helle Kuppel von Aparecida auftaucht, bin ich ein wenig enttäuscht. Heiliges Erschauern fühle ich keines, eher kommt es mir so vor, als führen wir zu einem Mega-Einkaufszentrum auf der grünen Wiese. Ein so riesiger Parkplatz lässt wohl jede Kathedrale klein aussehen, selbst die zweitgrößte nach dem Petersdom.

Wir wandern los – wandern ist das richtige Wort, denn die Entfernungen sind enorm und für ältere Damen wie Dona Esmeralda durchaus beschwerlich. Immerhin müssen wir mitten in der Woche nicht Schlange stehen: Lange Metallgeländer, die Besucherströme lenken sollen, zeugen davon, dass das auch anders sein kann. Je näher wir kommen, desto beeindruckter bin ich tatsächlich von den riesigen Dimensionen dieses Bauwerks. Schlichter Backstein, wieso nicht? Wozu braucht man zum Pilgern Gold, Marmor und Michelangelo?

Bild Aparecida ist ein pragmatischer Wallfahrtsort. Der Zweck des riesigen Bauwerks ist es ganz offensichtlich nicht, den Menschen ihre eigene Kleinheit angesichts von Gottes Größe und Allmacht vor Augen zu führen. Die Kirche ist nur deshalb so groß, weil viele darin Platz finden müssen. Ein Wachstum über Jahrhunderte: Anfangs hatte die schwarze Madonna nur einen kleinen Hausaltar, dann wurde ein Kapellchen gebaut, dann eine Kirche, dann eine größere Kirche, und jetzt eben die zweitgrößte der Welt.

Drei Fischer waren es, die der Legende nach diesen Ort begründeten. Im Jahr 1717 sollten sie für die Bewirtung eines durchreisenden Gouverneurs sorgen, doch statt Fischen fanden sie in ihren Netzen nur eine kleine, zerbrochene Terrakotta-Figur der Muttergottes – zuerst den Körper, etwas später dann den dazugehörigen Kopf. Sie fügten beides zusammen, und plötzlich zogen sie volle Netze aus dem Fluss. Aus Dank bauten sie der so unverhofft Aufgetauchten, »aparecida« auf portugiesisch, eine kleine Kapelle. Bald zeigte sich, dass die kleine Madonna weiter Wunder wirkte. Sie heilte Kranke, sorgte für gute Ernten, und 1850 befreite sie den Afrikaner Zacarias aus der Sklaverei. Seither gilt die verwitterte dunkle Terrakotta-Figur erst recht als »schwarze« Madonna, als Schutzheilige vor allem der afrobrasilianischen Bevölkerung.

An den Namen des ursprünglichen Dorfes erinnert sich niemand mehr; die Stadt, zu der es längst geworden ist, heißt heute ebenfalls Aparecida. Erst relativ spät haben auch die Obrigkeiten sich das Phänomen zu eigen gemacht: Ende des 18. Jahrhunderts, also fast 200 Jahre nach dem Auftauchen der Madonnenfigur, stiftete die portugiesische Prinzessin Isabel ihr einen blauen Umhang und eine diamantene Krone, und nachdem Brasilien unabhängig war, bekam Nossa Senhora Aparecida sogar einen eigenen Nationalfeiertag.Papst Pius XIerklärtesie 1929 zur Nationalheiligen Brasiliens, und im Jahr 1980 wurde die »neue Basilika« von Papst Johannes Paul II persönlich geweiht.

Wir betreten die riesige Halle des Kirchenschiffs, dessen Grundriss, habe ich gelesen, wie ein griechisches Kreuz gestaltet ist, 173 Meter lang und 168 Meter breit. Viel Platz, und keine Spur von Gold, Marmor, überhaupt keine Schnörkel. Hier und da hat ein naiver Künstler die Wände mit antiken Torbögen und blauem Nachthimmel bemalt. Das erste, was ins Auge fällt, ist aber die Nationalflagge. Gut sichtbar prangt sie neben dem Altar.

Bild Trotz ihrer eindrucksvollen weltlichen wie geistlichen Karriere ist die Madonna von Aparecida eine Angelegenheit der einfachen Leute geblieben. Unbekümmert hüpfen Kinder durchs Kirchenschiff, Liebespaare halten Händchen, Grüppchen diskutieren, Fotoapparate klicken, sogar ein Hund läuft herum. Niemand kontrolliert, ob Knie und Schultern auch züchtig bedeckt sind. Es sind überwiegend Brasilianerinnen und Brasilianer hier, ab und zu spricht auch mal jemand spanisch, wahrscheinlich Pilger aus Argentinien. Touristen gibt es, ganz anders als im Petersdom, so gut wie keine. Auch Rollstühle, Krücken und Blindenstöcke fehlen. Heilungen an Ort und Stelle werden offensichtlich nicht erwartet. Die Leute kommen her, um zu beten, um mal da gewesen zu sein, um Maria ihre Reverenz zu erweisen. Und viele kommen, so wie wir, nicht mit leeren Händen.

Die Liste der Wunder, die die schwarze Madonna vollbracht hat, ist vergleichsweise kurz, und die meisten liegen lange zurück. Viel Spektakuläres ist ohnehin nicht dabei: Zwei Kerzen, die sich von selbst entzündeten, eine Handvoll Heilungen. Wie erklärt sich die enorme Anziehungskraft der Aparecida, wenn sie doch gar keine Wunder tut, will ich deshalb von Dona Esmeralda wissen. »Wie kommst du denn darauf?« fragt sie etwas konsterniert zurück. »Sind wir etwa nicht gesund hier angekommen? Haben wir nicht einen sonnigen Tag erwischt? Kann ich mit meinem kaputten Knie nicht ganz gut laufen heute?« – auch was ein Wunder ist, ist eben relativ.

Zielstrebig zieht mich Dona Esmeralda dorthin, wo wir schließlich doch noch Schlange stehen müssen. Langsam rücken wir vor, bis an der Wand ein paar Quadratmeter goldfarbener Stoff glitzern. Mehr Luxus hat die Madonna von Aparecida nicht nötig, oder doch: »Schau her«, flüstert Dona Esmeralda ehrfürchtig, als wir dann vor ihr stehen, »echter Marmor!« und deutet auf die kleine Nische. Ganz offensichtlich hat sie hat keine Vorstellung davon, wie es im Petersdom aussieht.

Die Madonna selbst sieht genauso aus, wie ich sie von den Bildern kenne: Stark gedunkelter Ton, ein gütiges, etwas pausbäckiges Gesicht, umhüllt von einem blauen Samtumhang. Auch die Nationalflagge ist tatsächlich aufgenäht, die diamantene Krone sitzt auf dem Kopf. Kaum zu glauben, dass dieses knapp 40 Zentimeter hohe und 2,5 Kilo schwere Figürchen für all den Rummel hier verantwortlich sein soll.

»Das brasilianische Volk liebt Maria«, erklärt mir Patricia Tosta, Journalistin bei Radio Aparecida , einem ganz der Madonna gewidmeten Radiosender, später. »Dieser Kult ist Teil unserer Volksreligiosität. Wir verehren Maria, die Mutter, die Beschützerin, die Frau, die unter so vielen Schwierigkeiten zu leiden hatte. Auch unser Volk leidet unter vielem, und deshalb sieht es in Maria die Gefährtin, von der es Hilfe erbittet.« Maria ist hier nicht die große Lichtgestalt, die für die Menschen ihre Probleme löst, sondern diejenige, die mit ihnen leidet und ihnen deshalb näher steht, als Gott oder Jesus oben im Himmel. Patricia Tosta zeigt uns den »Kerzensaal«, wo es mir fast den Atem verschlägt. Hunderte, ach was, tausende Kerzen brennen nebeneinander, ein Meer von Wachs, die Wände sind komplett verrußt, der Sauerstoffgehalt der Luft, so scheint mir, lebensbedrohlich niedrig. Hätte ich einen Reiseführer zu schreiben, gehörte dieser Kerzenraum definitiv zu den Top Ten.

Patricia Tosta hat noch ein paar Superlative parat: 2 Millionen Beichten werden im Jahr abgenommen, 18 Stockwerke hat der Turm, in dem Büros, ein Museum und eine Aussichtsplattform untergebracht sind. Im Untergeschoss gibt es einen extra Taufbereich, inklusive Wickelkomoden uns sonstiger Infrastruktur. Und wenn wir das alles gesehen haben, müssen wir unbedingt noch in die Stadt hinüber und uns die alte Kirche aus dem 18. Jahrhundert anschauen. Von dem langen Betonsteig für Fußgänger, der direkt dort hinführt, kann man ein gutes Foto mit dem obligatorischen Motiv machen: »Ich vor der Aparecida-Basilika«.

Zuerst will ich von Patricia Tosta aber noch etwas anderes wissen. Ist die Kathedrale von Aparecida wirklich die zweitgrößte der Welt? Darauf will sich die Pressefrau, ganz Profi, nicht festlegen lassen. »Es kommt darauf an, wie man rechnet. Manche sagen auch, sie sei in Wahrheit größer als der Petersdom.«

Box:

Anreise: Flug nach São Paulo, dann über die Autobahn Pres. Dutra (BR 116) bis Aparecida. Ganzjährig geöffnet, besondere Festtage der Aparecida sind der 12. Oktober und der 8. Dezember. Internetseite (portugiesisch): www.santuarionacional.com.br

In: Publik Forum-Extra, Mai 2005