Antje Schrupp im Netz

Die Waldenserkirche in Italien

»Alles muss sich ändern, damit alles so bleibt wie bisher« – dieser Satz von Tomasi di Lampedusa (in dem Roman »Der Leopard« dem Fürst von Salina in den Mund gelegt), gedacht als Parabel auf die italienische Mentalität, ist heute wieder ausgesprochen populär. Regierungschef Silvio Berlusconi, noch im Frühjahr nach seinem spektakulären Wahlerfolg als charismatischer Erneuerer gefeiert, ist inzwischen schwer angeschlagen. Von seinen vollmundigen Ankündigungen, dass sich nun alles ändern werde – zum Beispiel wollte er eine Million neue Arbeitsplätze schaffen – ist kaum mehr übrig geblieben, als der Kampf um das nackte Überleben. Bei den Kommunalwahlen im November hat seine Partei »Forza Italia« Verluste von über 20 Prozent hinnehmen müssen, die Koalitionspartner werden immer aufmüpfiger, die Opposition immer stärker und die Lira ist auf dem internationalen Geldmarkt so schwach wie lange nicht. Zu allem Überfluss geriet Berlusconi, der sich doch als großer Erneuerer des alten Parteienfilzes profilieren wollte, Ende November auch noch selbst unter Korruptionsverdacht. Bleibt also in Italien wieder mal alles beim Alten, auch nachdem sich alles geändert hat?

Zu den Konstanten des italienischen Lebens gehrte bis zum Machtwechsel im Frühjahr auch der Einfluss der katholischen Kirche auf die Politik. In kaum einem Land sind Patriotismus und konfessionelles Christentum traditionell so eng miteinander verschmolzen, wie hier, wo der Satz, der Katholizismus sei »die alleinige Religion des Staates« erst 1985 aus der Verfassung gestrichen wurde. Auch das wollte Berlusconi »ändern. Er lebt in zweiter Ehe, gehört also zum Kreis derer, die Papst Johannes Paul II. Erst kürzlich wieder von der Kommunion ausgeschlossen hat. In der Öffentlichkeit macht der Regierungschef keinen Hehl aus seiner distanzierten Haltung zum katholischen Glauben. Anlässlich der Einweihung eines neuen Fiat-Werkes zum Beispiel verkündete Berlusconi, er habe auf seinem Nachttisch kein Madonnenbildnis stehen, sondern eine Fotografie des Fiat-Präsidenten Gianni Agnelli.

Andere Zeiten, andere Götter. Die evangelischen Kirchen in Italien – von denen die Waldenserkirche mit rund 30.000 Mitgliedern die größte ist – haben die unverhohlene Einmischung der katholischen Kirche in die Landespolitik und die weitreichenden Privilegien, die der Staat ihr zugesteht, immer wieder kritisiert. Dass nun aber stattdessen der Gott Mammon verehrt werden soll, wird von ihnen auch nicht gerade bejubelt. Die evangelischen Kirchen in Italien haben die politischen Ambitionen des mächtigen Privatunternehmers Berlusconi von Anfang an skeptisch beurteilt. Zweifelhaft erschien ihnen vor allem sein Vorhaben, Italien müsse nicht nach althergebrachter Politikerart geführt werden, sondern wie ein großes Wirtschaftsunternehmen. Die nun geplante Finanzreform, die unter anderem Kürzungen der Pensionen und radikale Einschnitte im Gesundheits- und Sozialbereich vorsieht, hat diese Bedenken bestätigt. Maria Bonafede, waldensische Pfarrerin in Rom, hält das liberale und antiklerikale Auftreten Berlusconis ohnehin für Augenwischerei. Katholische Ideologie und die Wirtschaftsstrategie der Regierung arbeiten ihrer Ansicht nach Hand in Hand an einer konservativen Umgestaltung des Landes – vor allem zu Lasten der sozial Schwachen und der Frauen.

Es gibt zwar noch nichts Konkretes, aber wir sind in großer Sorge. Das Ausmaß der Arbeitslosigkeit ist besorgniserregend, und der Mangel an Arbeitsplätzen trifft vor allem die Frauen, weil sie die ersten sind, die aus der Arbeitswelt ausgeschlossen werden. Dazu kommen die Pläne der Regierung, die Pensionen und Renten zu kürzen, auch die geringen. Das würde zweifellos die Frauen viel mehr belasten, als die Männer, weil sie häufig weniger Arbeitsjahre vorzuweisen haben und ohnehin schon nur sehr kleine Pensionen beziehen. In diesem Sinne erscheint uns die Orientierung der Regierung vor allem zulasten der Frauen und der sozial Schwachen zu gehen. Dabei wird sie, sozusagen in theoretischer Hinsicht, vom Katholizismus unterstützt, der die Aufgaben der Frau wieder verstärkt im Bereich der Familie sucht, als so genannte Hüterin moralischer Werte, als Helferin für Kinder und Ehemann. Diese beiden Entwicklungen ergänzen sich verhängnisvoll, einerseits die Arbeitslosigkeit, die Rentenkürzungen, die Einschnitte auf dem Gebiet der öffentlichen Gesundheits- und Sozialversorgung von Seiten der Regierung und auf der anderen Seite der öffentliche Diskurs der katholischen Kirche.

Neben der übermächtigen großen katholischen Schwester können die Evangelischen in Italien jedoch nur schwer ihren Einfluss geltend machen. Ihre Anzahl bewegt sich, gemessen an der Bevölkerungszahl, im Promillebereich. Die waldensische, die methodistische und die baptistische Kirche, die sich im Bund der Evangelischen Kirchen Italiens zusammengeschlossen haben, bringen es zusammen Gerademahl auf 60.000 Mitglieder, und das bei 57 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern des Landes. Daneben gibt es zwar noch freie missionarische und fundamentalistische Gruppen, vor allem pfingstlerische, aber die arbeiten kaum mit den organisierten evangelischen Kirchen zusammen. Dabei ist Italien eigentlich sogar die Wiege des Protestantismus. Schon dreihundert Jahre vor Luther, zu Anfang des 13. Jahrhunderts, hatte sich nämlich in Norditalien mit dem Waldensertum eine Alternative zum Katholizismus etabliert. Die aus Frankreich eingewanderten Anhängerinnen und Anhänger der Armutsbewegung, die ein Kaufmann namens Petrus Waldes in Lyon gegründet hatte, predigten schon damals eine typisch protestantische Theologie: Studium der Bibel in der Volkssprache, Kritik an der kirchlichen Hierarchie, Laienpredigt, und den Glauben an eine direkte Beziehung zwischen Gläubigen und Gott, also den Verzicht auf die Vermittlung durch einen geweihten Priester. Vor der Inquisition waren viele Waldenserinnen und Waldenser aus Frankreich geflohen und hatten in Norditalien, vor allem im Piemont und in der Lombardei, Aufnahme gefunden. Die politischen Verhältnisse jener Zeit, den Streit zwischen Papst und Kaiser geschickt nutzend, verdrängten sie in zahlreichen Städten und Dörfern die katholische Kirche als offizielle Religion und etablierten sich selbst, mit eigenen Gottesdiensthäusern und diakonischen Einrichtungen. Dieses goldene Zeitalter des Waldensertums dauerte jedoch nur wenige Jahrzehnte. Die Inquisitionsgerichte – unterstützt von den päpstlichen Armeen – sorgten für ein baldiges Ende dieses ersten protestantischen Aufbegehrens. Hinrichtungen, Verfolgungen und Massaker ließen die Waldenserbewegung auf ein kleines Häuflein Unbeirrbare zusammenschrumpfen, die sich in den unzugänglichen Bergtälern der italienischen Alpen verschanzten und auf bessere Zeiten warteten.

Eigentlich ist es ein Wunder, dass sie bis heute überlebt haben. Und trotz ihrer geringen Anzahl an Mitgliedern, von denen bis heute rund die Hälfte in den ehemaligen Waldensertälern lebt, verfügt die Kirche über einen gesellschaftlichen Einfluss, der ungleich größer ist, als es die unbedeutenden Mitgliedszahlen vermuten lassen. Das liegt vor allem auch an der Unterstützung durch die großen evangelischen Schwesterkirchen im Ausland, vor allem in Deutschland und in der Schweiz. Sie schätzen diese älteste evangelische Kirche Europas schon aus eigener Traditionspflege hoch und unterstützen sie finanziell und ideell. Die waldensische und die methodistische Kirche, die seit 1975 eine gemeinsame Kirchenleitung haben, betreiben eine theologische Fakultät in Rom mit einer umfangreichen Bibliothek. Sie ist der einzige Ort in Italien, wo man wissenschaftlich über den Protestantismus forschen kann und wird entsprechend frequentiert. Kircheneigene Verlage und Publikationen erreichen eine Öffentlichkeit, die weit über den Kreis der eigentlichen Mitglieder hinausgeht. Und schließlich nimmt die waldensisch-methodistische Kirche immer wieder zu aktuellen Fragen Stellung und bringt ihre eigenen Positionen durch Vertreterinnen und Vertreter in politischen Gremien und Kommissionen zu Gehör. Dabei tendiert sie deutlich nach links – von den sechs waldensischen Abgeordneten im neuen Parlament zum Beispiel gehören fünf zum linken sozialistisch-ökologischen Parteienbündnis der »Progressisti«. Da sie von staatlichen Zuschüssen völlig unabhängig sind, brauchen die Waldenserinnen und Waldenser kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Gianni Rostan, seit einem Jahr im Amt des Moderatore der waldensisch-methodistischen Kirchenleitung, der so genannten »Tavola«, und damit oberster Repräsentant der beiden Kirchen, versteht die kritische Haltung gegenüber der Regierung Berlusconi nicht in erster Linie als Politik, sondern als Konsequenz protestantischer Ethik.

Jede Regierung hat das Recht und die Pflicht, das Land zu regieren und so vertreten wir als italienische Staatsbürger unsere politischen Meinungen unabhängig davon, was wir als Kirche darstellen. In diesem Sinn gibt es keine einheitliche Position unserer Kirche zu dieser Regierung. Trotzdem kann man sagen, dass wir heute die Regierung Berlusconi, ebenso wie andere Regierungen früher, in den Bereichen kritisieren, wo ihre Haltung der protestantischen Ethik widerspricht. Ein Beispiel dafür ist der Schutz der Minderheiten, der für uns sehr wichtig ist und wir sehen eben, dass diese Regierung die politischen Minderheiten missachtet. Wir sind ausserdem der Meinung, dass ethische Positionen nicht ausreichend berücksichtigt werden. Zum Beispiel alles was die Vermischung von privaten und öffentlichen Interessen angeht. Es ist unsere Pflicht, in diesen Bereichen alternative Positionen vorzustellen zu denen, die heute in Italien Mehrheitsmeinung sind. Und das tun wir ausdrücklich als Protestanten, für uns ist das eine eindeutig protestantische Position.

Die Kritikpunkte der Waldenserkirche an der Regierungskoalition unter Berlusconi sind die gleichen, wie sie auch von anderen oppositionellen Kräften vorgebracht werden: Finanzielle Sanierung des Staatshaushaltes vor allem auf Kosten der sozial Schwachen, Vermischung von persönlichen und privaten Interessen in der Person des Privatunternehmers und Regierungschefs Berlusconi, die Beteiligung der Neofaschisten an der Regierung, Missachtung der Rechte der Minderheiten und restriktive Ausländerpolitik. Bei den Waldenserinnen und Waldensern mischt sich in diese Kritik jedoch immer auch die Kritik an der ideologischen Vormachtstellung des Katholizismus. Gianni Rostan hält etwa die Umstrukturierung des staatlichen Fernsehens RAI für den Ausdruck einer typisch italienischen, weil katholischen Mentalität – nämlich der Tendenz zur Zensur oppositionellen Denkens. Berlusconi hatte die gesamte Führungsriege des staatlichen Fernsehens durch regierungstreue Leute auswechseln lassen mit dem Argument, es gehe nicht an, dass das Staatsfernsehen gegen die Interessen der Regierung berichte, denn die repräsentiere ja schliesslich den Willen der Mehrheit des Volkes. Diese Angst vor Andersdenkenden, vor Minderheiten, vor dem Nicht-Normalen, meint Gianni Rostan, sei typisch katholisch und tief im italienischen Denken verwurzelt.

Kritik an der Regierung und Kritik an der katholischen Kirche – das läuft für die Waldenserinnen und Waldenser in Italien auf ein und dasselbe hinaus. Eine Haltung, die angesichts der Geschichte nur allzu verständlich ist. Erst 1848 wurde – wenigstens in den Regionen Italiens, die nicht zum katholischen Kirchenstaat gehörten – das Verbot anderer Gottesdienstformen aufgehoben und damit auch die evangelischen Waldensergottesdienste toleriert. Aus Engand und den USA kamen nun auch baptistische und methodistische Prediger ins Land und versuchten, evangelische Gemeinden aufzubauen. Aber diese liberale Periode war nicht von langer Dauer. Zwar war die Vormachtstellung des Katholizismus vor allem nach der Abschaffung des Kirchenstaates im Jahr 1870 hart angeschlagen, sie wurde jedoch schon wenige Jahrzehnte später unter dem Faschismus wieder neu stabilisiert. Der Duce sah in den evangelischen »Sekten«, wie er sie nannte, eine Gefahr fürs Vaterland. »Die religiöse Einheit ist eine der grossen Kräfte eines Volkes«, predigte Mussolini, »sie zu gefährden oder auch nur in Frage zu stellen, ist gleichbedeutend mit einem Vergehen gegen die Nation.« Mit dem Konkordat und den Lateranvertr»gen gestand er der katholischen Kirche Rechte und Privilegien zu, die in den modernen europ»ischen Staaten ihresgleichen suchen. Evangelische galten nun nicht mehr nur als Abtrünnige vom rechten Glauben, sondern als potentielle Staatsfeinde, ihre Gottesdienste und Versammlungen wurden polizeilich überwacht, weitergehende Aktivit»ten, etwa auf diakonischem oder p»dagogischem Gebiet, kurzerhand verboten.

Dabei ist es auch nach dem Ende des zweiten Weltkrieges geblieben. Die katholisch-bürgerliche Partei der »Democrazia Cristiana«, die 1948 die Regierungsgeschäfte in Italien übernahm und sie bis zum Ende der sogenannten »ersten Republik« in diesem Frühjahr auch nicht wieder hergab, hatte keinerlei Interesse an einer religiösen Liberalisierung des Landes. Und auch ihre politischen Gegenspieler von der kommunistischen Partei hatten andere Sorgen – ohne grosse Diskussionen stimmten sie der Beibehaltung des Konkordats zu. Die katholische Presse und die Politiker der »Democrazia Cristiana« führten die Tradition Mussolinis fort, Evangelische als potentielle Staatsfeinde zu diffamieren – ein gleichbleibender Vorwurf war zum Beispiel der, die Waldenserkirche werde aus dem Ausland finanziert und habe in Italien selbst eigentlich überhaupt keine Basis. Mit anderen Worten: Nur ein katholischer Italiener ist ein guter Italiener. Antiprotestantische Kampagnen, Druck auf die liberale Presse, die für die Minderheitsrechte der Evangelischen eintrat, das Verbot evangelischer Werbung und Öffentlichkeitsarbeit – dies war die Atmosphäre in Italien in den fünfziger Jahren. Viele Waldenserinnen und Waldenser empfanden ihre Lage in dieser Zeit als noch schlimmer, als unter dem Faschismus. Noch bis in die sechziger Jahre hinein kam es immer wieder vor, dass Polizeitruppen evangelische Versammlungen auflösten und Pfarrbüros durchsuchten, dass Kommunen evangelische Beerdigungen auf öffentlichen Friedhöfen verweigerten und Aktivitäten der Kirchen durch bürokratische Schikanen behinderten.

Nach dem zweiten vatikanischen Konzil hat sich die Situation der Evangelischen in Italien deutlich gebessert und sie werden immerhin als exotische Randerscheinung toleriert. Dennoch kann von gleichen Rechten für alle Religionen und Konfessionen noch lange nicht die Rede sein. Der Religionsunterricht an den Schulen ist grundsätzlich katholisch, erst Ende der siebziger Jahre konnte die waldensische Kirche das Recht auf Befreiung vom Religionsunterricht durchsetzen. Christentum wird in Italien nach wie vor mit Katholizismus gleichgesetzt, auch weltlichen und liberalen Tageszeitungen ist jeder Schnupfen des Papstes noch immer eine Schlagzeile auf der Titelseite wert. Ist der politische Wechsel in Italien, das Ende der Herrschaft der katholischen Democrazia Cristiana nun eine Gelegenheit für die Evangelischen, gleiche Rechte einzufordern? Sollen sie sich am Rennen um einen Anteil aus den öffentlichen Geldtöpfen beteiligen, die Einführung eines evangelischen Schulunterrichtes fordern und die Einrichtung diakonischer Werke, Krankenhäuser und Kindergärten unter evangelischer Leitung, finanziert aus öffentlichen Mitteln – etwa nach dem Vorbild der evangelischen Kirche in Deutschland? Weit gefehlt. »Keine Privilegien für die Kirche«, das ist schon immer das Motto der evangelischen Kirchen in Italien, und dabei soll es auch bleiben. Der Moderatore Gianni Rostan beschreibt, wie das Verh»ltnis von Staat und Kirche geregelt sein sollte:

Wir haben in Italien zwei verschiedene Modi, wie dieses Verhältnis organisiert werden kann: Das Konkordat zwischen katholischer Kirche und Staat, durch das sich die Kirche durch den Staat gewisse Privilegien versichern lässt. Wir als protestantische Kirchen haben einen anderen Weg gewählt, den einfacher Übereinkünfte mit dem Staat, die die gegenseitigen Rechte und Pflichten regeln und die Unabhängigkeit der kirchlichen Ordnungen anerkennen. Das bedeutet also, dass wir keinerlei Privilegien für die Kirche fordern. Auswirkungen hat das zum Beispiel auf die Finanzierung der Gefängnis- oder Krankenhauspfarrer, die bei uns von der Kirche bezahlt werden, während im Fall der katholischen Kirche die Militärpfarrer zum Beispiel vom Staat bezahlt werden. Diese Unterscheidung ist klar und deutlich und wir beanspruchen, dass unsere Position moderner und vor allem gerechter ist und deshalb bemühen wir uns, sie als Alternative zu den traditionellen katholischen Positionen des Konkordats zu präsentieren.

Die Behauptung der eigenen – vor allem finanziellen – Unabhängigkeit vom Staat hat sich im italienischen Protestantismus als eine zentrale Gegenposition zur katholischen Kirche herausgebildet – und das, obwohl sich viele waldensische und methodistische Gemeinden aus Geldmangel noch nicht mal eine Pfarrerin oder einen Pfarrer leisten können. Jüngstes Beispiel dafür sind die Diskussionen um ihre Beteiligung an der Sozialsteuer. In Italien wird die Kirchensteuer, anders als in Deutschland, nicht zusätzlich zur normalen Steuer bezahlt. Stattdessen müssen alle Steuerzahler einen Anteil von 8 Promille ihres Einkommens als Sozialsteuer abführen, können aber angeben, ob dieses Geld dem Staat, der katholischen Kirche oder einer anderen Religionsgemeinschaft zukommen soll. Sechs Jahre lang diskutierten die waldensisch-methodistischen Synoden und Gemeinden diese Frage, bis sie sich im Sommer dieses Jahres zu einem »Ja -aber« durchgerungen haben. Ab 1995 haben damit die italienischen Steuerzahler erstmals die Möglichkeit, ihre Sozialsteuer den evangelischen Kirchen zukommen zu lassen – aber die haben dafür andere Modalitäten ausgehandelt, als sie auf katholischer Seite üblich sind. Die waldensisch-methodistische Kirche will nur die Zahlungen derer annehmen, die tatsächlich diese Option in ihrer Steuererklärung angekreuzt haben – während die katholische Kirche auch den proportionalen Anteil derer einstreicht, die gar kein Kreuzchen gemacht haben. Ausserdem sind die Einkünfte streng zweckgebunden zu investieren, also in soziale und diakonische Einrichtungen, die allen Italienerinnen und Italienern offen stehen. Neue Pfarrerinnen und Pfarrer können daher auch von diesem Geld nicht eingestellt werden. Trotz dieser Einschränkungen ist die Entscheidung in den Gemeinden nicht unumstritten. Denn eine weitere waldensische Grundüberzeugung besagt, dass soziale Arbeit nicht zu den Aufgaben einer Kirche gehört, sondern allein vom Staat zu gewährleisten ist. Was aber, wenn der Staat seine sozialen Aufgaben zunehmend vernachlässigt? Die sozialpolitische Radikalkur, die die neue Regierung Berlusconi zur Sanierung des Staatshaushaltes angekündigt hat, trug hier sicher zur Entscheidungsfindung bei.

Auch nach innen, hinsichtlich der eigenen Kirchenorganisation, praktizieren die Waldenserinnen und Waldenser ein weitaus radikaleres Protestantentum, als es etwa in der grossen evangelischen Volkskirche in Deutschland üblich ist. Wer hier Pfarrerin oder Pfarrer wird, tut das aus Idealismus und keineswegs aus Karrieregründen. Nicht nur ist das Gehalt von rund 2000 Mark monatlich keineswegs üppig – auch die Professoren an der waldensischen Fakultät müssen sich übrigens mit diesem Einkommen zufriedengeben – der Priesterstand ebnet hier zudem keineswegs den Weg zu innerkirchlichen Machtpositionen. Die Stellung der Laiinnen und Laien ist in der waldensischen Kirche unvergleichlich höher, als in anderen protestantischen Kirchen. Anders als zum Beispiel in der evangelischen Kirche in Deutschland stehen ihnen ausnahmslos alle Ämter in der Kirchenleitung offen. Dass das nicht nur auf dem Papier so ist, hat sich gezeigt, als mit Gianni Rostan erstmals ein Laie in das Amt des Moderatore, also des obersten Kirchenrepräsentanten gewählt wurde. Die waldensische Kirche gehörte auch zu den ersten, die das Priesteramt für Frauen einführte, schon Anfang der 60er Jahre. Pfarrerin Maria Bonafede:

In der waldensischen Kirche haben die Frauen die Möglichkeit, das Priesteramt zu gleichen Bedingungen auszuüben, wie die Männer, und diese Entscheidung ist inzwischen dreissig Jahre alt. Die Zulassung von Frauen zum Priesteramt ist eine sehr wichtige Entscheidung gewesen, auch weil sie eine Praxis wiedereingeführt hat, die es in der mittelalterlichen Waldenserbewegung bereits gegeben hat und die in den folgenden Jahrhunderten dann verloren gegangen ist. Auch in den Führungsgremien der Kirche sind Frauen wie Männer vertreten, sowohl im zentralen Exekutivgremium, der Tavola Valdese, als auch in den regionalen Versammlungen. Das heisst natürlich noch nicht, dass im Alltagsleben der waldensischen Familien und auch in den Gemeinden diese Gleichheit von Männern und Frauen ein für alle Mal erreicht wäre, da gibt es noch viel zu tun, sowohl auf dem Gebet des Predigens, als auch in wissenschaftlichen Studien, damit diese gleiche Würde von Männern und Frauen dann auch wirklich im Alltagsleben umgesetzt wird.

Dass die formale Gleichstellung von Frauen allein auch nach dreissigjähriger Praxis und in einer kleinen und flexiblen Kirche nicht zu einer wirklichen Gleichstellung führt, zeigt sich darin, dass der prozentuale Anteil von Frauen in Leitungsämtern in der Waldenserkirche nicht höher ist, als in den grossen evangelischen Volkskirchen. In der Kirchenleitung stehen zwei Frauen fünf Männern gegenüber, der Anteil der Pfarrerinnen liegt bei rund 15 Prozent. Doch schon allein die formale Gleichstellung von Frauen und Männern in der Waldenserkirche wirkt im klassischen Macho-Land Italien noch äusserst exotisch. Angesichts des kompromisslosen Kurses der katholischen Kirche unter ihrem derzeitigen Papst, nicht nur was die Stellung der Frauen angeht, sondern hinsichtlich der Sexual- und Familienmoral generell, werden die waldensischen Gemeinden zunehmend auch für katholische Menschen attraktiv, die die Positionen ihrer eigenen Kirche als unzeitgemäss empfinden und mit ihren pseudomoralischen Anforderungen nicht zurechtkommen. Eine Tendenz, die sich vor allem im letzten Jahr, nach dem definitiven Nein des Papstes zur Frauenordination und dem Ausschluss von geschiedenen Wiederverheirateten von der Kommunion, verstärkt bemerkbar macht. Maria Bonafede:

In letzter Zeit sind viele zu uns gekommen, zum Beispiel Homosexuelle oder Menschen mit familiären Problemen oder Geschiedene, die sich den evangelischen Kirchen annähern über diese Probleme. Das ist die Erfahrung dieses letzten Jahres. Wir wollen natürlich nicht, dass die Leuten nur deshalb zu uns kommen, aber es gibt zur Zeit diese Strömung, Menschen, die sich uns annähern, weil sie mit den beschränkten Positionen der katholischen Kirche über ihr sexuelles Leben oder ihre persönliche Identität, wie im Fall der Homosexuellen, nicht mehr zurechtkommen.

Mit ihrem Protest gegen konservative Kirchenideologie und wirtschaftspolitische Radikalkuren auf Kosten der sozial Schwachen nehmen die Waldenserinnen und Waldenser teil an einer breiten gesellschaftlichen Oppositionsbewegung, die in den letzten Wochen immer stärker wird und vielleicht sogar zum Sturz der Regierung Berlusconi führen wird. Nach zwei Generalstreiks in nur fünf Wochen und einer in der Geschichte Italiens beispiellosen Massendemonstration in Rom, an der weit über eine Million Menschen teilgenommen haben, war die Regierung bereits zu deutlichen Änderungen an ihren ursprünglichen Plänen zur Finanzreform gezwungen. Hunderte von Schulen und Universitäten sind seit Wochen besetzt, täglich demonstrieren in allen Regionen Italiens tausende von Menschen gegen die verschiedensten Pläne und Vorhaben. Obwohl Berlusconi alle Hebel seiner Medienmacht in Bewegung setzt, ist seine Popularität deutlich am Schwinden, kaum noch jemand glaubt daran, dass er die volle Legislaturperiode unbeschadet übersteht. Ob bei den immer wahrscheinlicher werdenden Neuwahlen jedoch das sozialdemokratisch-ökologische Linksbündnis als Sieger hervorgeht, ist dennoch fraglich. Denn die Stimmen, die Berlusconi verliert, sammelt derzeit zum Gutteil die neofaschistische Alleanza Nazionale unter ihrem charismatischen und sprachgewandten Führer Gianfranco Fini ein. Und immer lauter werden auch die Stimmen, die sagen, ohne die katholische Kirche könne Italien eben nicht regiert werden. Die Nachfolgepartei der katholischen Democrazia Cristiana, der Partito Populare Italiano, marschiert nach Meinungsumfragen inzwischen wieder auf die 20-Prozent-Marke zu und ist von links wie von rechts als möglicher Koalitionspartner heftig umworben. Dass für die unter der Hand bereits angelaufenden Sondierungsgespräche aus dem Vatikan Anweisungen an den Parteisekretär des PPI, Rocco Buttiglione, ergehen, wundert in Italien niemand.


Sendung: 1996 auf hr2