»Wachsen am Mehr anderer Frauen«
Vorwort zur Neuauflage von Dorothee Markerts Buch
Als ich für dieses Vorwort die Texte wieder las, die Dorothee Markert in diesem Buch zusammengestellt hat, war ich überrascht davon, wie viel Neues ich darin fand. Und das, obwohl ich das Buch schon damals, beim Erscheinen der ersten Auflage im Jahr 2002, gründlich gelesen hatte und seit vielen Jahren mit Dorothee in einem so engen und regelmäßigen Gedankenaustausch stehe, dass mir das, was sie denkt und schreibt, eigentlich gar nicht »neu« sein dürfte.
Wahrscheinlich liegt das daran, dass sich die zentralen Gedanken dieses Buches auf eine »neue« Weise verknüpften mit dem, was in den vergangenen Jahren geschehen ist, vor allem mit den wieder aktuell gewordenen öffentlichen Debatten über einen »neuen Feminismus« in Deutschland. Diese Debatten sind ja recht zwiespältig. Einerseits legen sie Zeugnis davon ab, dass Frauen sich inzwischen mit großer Entschlossenheit und viel Selbstbewusstsein als politische Subjekte einmischen, dass sie alte Geschlechterhierarchien entschieden zurückweisen und auf ihre Rechte und Chancen pochen. Andererseits ist daran auch vieles ärgerlich, und ganz besonders der ständig wiederkehrende Gestus, sich immer erst einmal von der »alten« Frauenbewegung zu distanzieren und abzugrenzen, bevor die eigenen Wünsche und Ideen formuliert werden.
Wenn es stimmt, was Luisa Muraros zentraler Gedanke in dem hier ebenfalls abgedruckten Text ist, dass nämlich weibliches Selbstbewusstsein »zusammen mit der Dankbarkeit gegenüber der Frau entsteht, die mich zur Welt gebracht hat« (S. 91), dann könnte sich bald schon herausstellen, dass die vermeintliche Stärke der neuen deutschen »F-Klasse«-Feministinnen auf tönernen Füßen steht. Und zwar genau deshalb, weil sie sich selbst außerhalb jener weiblichen Tradition und Genealogie stellen, die auf dem »Wachsen am Mehr« einer anderen Frau begründet ist. Ist ihr Einfluss tatsächlich einem Zuwachs an weiblicher Autorität zu verdanken? Oder besteht er nur solange, wie sie die grundlegende symbolische Ordnung nicht wirklich in Frage stellen?
Man muss dies wohl im Einzelfall beurteilen, doch genau dafür sind die drei Stichworte, unter denen Dorothee Markert ihre Texte versammelt hat – Begehren, Dankbarkeit und Politik – höchst hilfreich. Denn sie verweisen genau auf die neuralgischen Punkte, an denen es mit der weiblichen Freiheit trotz aller emanzipatorischen Fortschritte noch immer hapert.
Was das Begehren der Frauen betrifft, so spielt es jedenfalls in den medial transportierten Feminismusdebatten bislang kaum eine Rolle. Im Gegenteil geistert nach wie vor jene alte Vorstellung durch die Zeitungsspalten, wonach es so etwas wie »die Frauen« gäbe, die alle dasselbe wollen (zurzeit: Beruf und Familie vereinbaren), und die eben vom Wesen her das genaue Gegenteil von weiblicher Freiheit ist. Das geht soweit, dass sogar wieder ganz offen über die Nützlichkeit der Frauen für die Allgemeinheit philosophiert wird, nur dass man diese heute nicht mehr nur im Haushalt und bei der Kindererziehung sicherstellen will, sondern auch in den dynamischen, globalisierten Wirtschaftsunternehmen, die ohne weibliche Leistungsträgerinnen offenbar nicht mehr auskommen.
Zum Thema Dankbarkeit – nicht nur gegenüber der Mutter oder den feministischen Vordenkerinnen, sondern ganz generell als politische oder philosophische Denkfigur – ist festzustellen, dass sie heute vermutlich sogar noch weniger eine Rolle spielt, als zu der Zeit, als diese Texte entstanden sind. Im Gegenteil werden immer mehr Bereiche des menschlichen Zusammenlebens nach betriebswirtschaftlichen Kategorien organisiert und interpretiert, in denen so etwas wie »Dankbarkeit« nicht kalkuliert werden kann. Und was schließlich die Politik betrifft, so fragen sich viele, ob es das überhaupt noch gibt. Zumindest ist das Gefühl der Ohnmacht, das viele angesichts globaler Dynamiken empfinden, die den Verhandlungen der Einzelnen weitgehend entzogen zu sein scheinen, eher noch gewachsen.
Angesichts dieser Situation macht dieses Buch Mut. Es fordert uns heraus, einen Schritt zurückzutreten, sich den aktuellen Aufgeregtheiten erst einmal zu entziehen und wieder über die Grundlagen des eigenen Handelns nachzudenken. Dabei ist es keineswegs abstrakt oder auf eine abgehobene Weise philosophisch. Ich kenne keine andere Denkerin, der es so gut wie Dorothee Markert gelingt, schwierige (weil neue und ungewohnte) Gedanken anhand von ganz konkreten und leicht nachvollziehbaren Alltagssituationen zu erläutern. Und zwar ohne dass diese Beispiele gestellt oder platt wirken. Mit großer Ehrlichkeit und vorurteilsfrei erzählt sie, durch welche Situationen und Konflikte hindurch ihre Ideen und Erkenntnisse sich geformt haben, und bindet so sehr anschaulich »Theorie« und »Praxis« zusammen.
Was die angesprochenen Themen betrifft, so haben sie an Aktualität überhaupt nicht verloren, leider, möchte man sagen. Insbesondere die Texte über die Abwertung von Haus- und Familienarbeit und wie diese Abwertung mit einer Abwertung des Weiblichen zusammenhängt, betreffen ein Thema, das zwar inzwischen auch in den Fokus der »offiziellen« Politik geraten ist, doch mit eher zwiespältigem Ergebnis. Ob die Lösung hier wirklich in einer bloßen Umverteilung zwischen Frauen und Männern zu suchen ist, wie derzeit viele »Frauenpolitikerinnen« anzunehmen scheinen, ist mehr als fraglich. Markerts Text öffnen den Blick für die symbolischen Aspekte der Debatte, erinnern daran, dass gerade dieses Thema in der Frauenbewegung schon seit Jahrzehnten diskutiert wird und geben höchst konstruktive Anregungen.
Fast noch wichtiger finde ich aber die Ermutigung an Frauen, sich der Versuchung des Konformismus zu entziehen – eine Versuchung, für die Frauen nach wie vor anfällig sind. Der Wunsch, Konflikte möglichst zu vermeiden und die Erwartungen anderer zu erfüllen, ist verständlich im Rahmen einer Kultur, die Konflikte in der Regel kriegerisch oder doch auf verletzende Weise austrägt. Dass es andere und bessere Möglichkeiten gibt, aus Differenzen heraus Stärke zu entfalten, Unterschiede fruchtbar zu machen, und dass es sich lohnt (und möglich ist), dem eigenen Begehren treu zu bleiben, auch wenn das bedeutet, sich gegen den Mainstream zu stellen – das ist eine Botschaft, die gar nicht oft genug wiederholt werden kann.
Die Schilderungen, wie aus unangenehmen Situationen, aus Streit und Kränkungen neue Erkenntnisse gewachsen sind, gehören für mich jedenfalls zu den eindrücklichsten Passagen dieses Buches. Gerade deshalb ist zu wünschen, dass auch viele jüngere Frauen diese Texte lesen. Ganz abgesehen davon, dass sie, trotz aller inhaltlichen Aktualität, inzwischen auch historische Dokumente sind: Sie geben wertvolle Einblicke in das oft schmerzliche, aber eben auch sehr fruchtbare Ringen der Frauenbewegung seit den 1970er Jahren, von dem im öffentlichen Mediendiskurs leider so wenig zu hören ist – und von dem sich doch auch heute noch so vieles lernen lässt.
Vorwort zur Neuauflage von Dorothee Markert: Wachsen am Mehr anderer Frauen, Christel Göttert Verlag, Rüsselsheim 2009. Bestellen bei www.frauenbuchladen.net