»Ohne Netz und doppelten Boden« – mit (Un)Sicherheit leben
Zunächst einmal herzlichen Dank, dass Sie mich eingeladen haben, diesen Vortrag zu halten. Das Vertrauen, das Sie als Einladende hierbei in mich setzen, ehrt mich – zumal Sie sich darauf eingelassen haben, obwohl ich nicht vorher sagen konnte, was ich heute zu diesem Thema sagen würde – der Vortrag ist ganz neu. Sehen wir es so: Es ist gleich zu Beginn eine praktische Übung zum Thema »mit Unsicherheit leben«.
Dass das Thema Sicherheit und Unsicherheit heute wieder so aktuell ist, hat natürlich vor allem politische Gründe. Ein einschneidendes Ereignis, das diese Diskussionen belebt hat, war sicher der 11. September 2001, der Terrorangriff auf das World Trade Center in New York. Dieses Ereignis machte die Angreifbarkeit und Verletzlichkeit auch der westlichen Länder deutlich sichtbar. Vorher hatten wir uns in Europa doch vergleichsweise sicher gefühlt und die großen Katastrophen eher den Ländern der so genannten Dritten Welt zugeordnet – Kriege, Hungersnöte, Elend, das war etwas, das die Menschen anderswo bedrohte, aber doch nicht uns selbst. Mit dem 11. September rückte die Gefahr näher. Bekanntlich hat dieses Ereignis ja eine riesige Welle an Debatten zum Thema Sicherheitspolitik nach sich gezogen, angefangen von der Frage nach der militärischen Präsenz in fernen Weltregionen wie Afghanistan oder Irak, bis hin zu den gegenwärtigen Debatten über innere Sicherheitspolitik: Ausweise mit biometrischen Daten, Computerüberwachung, Rasterfahndung und Vorratsspeicherung von möglicherweise sicherheitsrelevanten Daten, das alles soll die drohende Gefahr solcher Anschläge minimieren.
Der zweite große politische Komplex, der das Thema Sicherheit und Unsicherheit wieder auf die politische Tagesordnung gebracht hat, ist die wirtschaftliche Entwicklung im Rahmen der Globalisierung. Sie führt dazu, dass soziale Sicherungssysteme, von denen wir glaubten, sie wären fest etabliert, in die Erosion geraten. Sind unsere Renten sicher, ist unser Gesundheitssystem zukunftsfähig? Unsicherheit macht sich breit. Wir können nicht mehr sicher sein, dass wir abgesichert sind im Falle von Krankheit, von Arbeitslosigkeit, von Pflegebedürftigkeit. Eine Unsicherheit, die nicht nur gefühlt ist, denn alle Studien ergeben, dass auch in Deutschland die mittleren Einkommensschichten kleiner werden, während die Extreme, die Schichten mit geringem Einkommen und Armutsgefahr ebenso wie die Reichen und Superreichen zunehmen.
Beide Gefahren für die traditionelle Sicherheit westlich-mittelständischer Bevölkerungsschichten – die Bedrohung durch Terroranschläge von außen und die Bedrohung durch sozialen Abstieg von innen – sollten freilich nicht überschätzt werden. Im Vergleich zu anderen Regionen der Welt leben wir absolut gesehen noch immer in großer Sicherheit. Wir leben in einem reichen Land und die Gefahr, bei einem Autounfall ums Leben zu kommen ist ungleich größer als die, einem Terroranschlag zum Opfer zu fallen. Aber dennoch ist es sinnvoll, diese politischen Debatten zum Anlass zu nehmen, das Thema etwas genauer zu betrachten: Was macht Unsicherheit aus? Was gibt uns ein Gefühl von Sicherheit? Wie fließen dabei äußere Umstände und innere Haltung zusammen?
Was mir im Zusammenhang dieser Debatten auffällt ist, das sich dabei üblicherweise zwei Parteien gegenüber zu stehen scheinen, wobei die eine Seite eine starke und rigide Sicherheitspolitik verlangt, während die andere uns auffordert, risikobereiter zu sein und mehr Eigenverantwortung zu übernehmen. Interessanter Weise geht diese Diskussion quer zum üblichen politischen Lagerdenken in links und rechts. Beim Thema militärische Sicherheit – also der Abwehr der Bedrohung von Terroranschlägen und Kriminalität – sind es die Rechten, die Schäubles und Bushs, die für Sicherheit um jeden Preis plädieren, und harte und durchgreifende staatliche Maßnahmen fordern, um sie abzuwehren, während die Linken auf die Gefahr hinweisen, dass solche Maßnahmen Freiheitsrechte einschränken, möglicherweise ohnehin nichts nützen und ethisch fragwürdig sind. Beim Thema soziale Sicherheit hingegen ist es genau umgekehrt. Hier sind es die Linken, die mehr staatliche Kontrolle und Einflussnahme fordern, etwa strengere Steuerkontrollen, bessere Absicherung und Rechte für Einkommensschwache, eine politische Durchsetzung etwa von Mindestlöhnen, und es sind die Rechten, die für mehr Risikobereitschaft eintreten und möglichst wenig staatliche Einflussnahme wollen.
Im Hinblick auf den Umgang mit Unsicherheit und Sicherheit helfen uns die üblichen politischen Parteienschemata offenbar nicht weiter, was mich nicht sehr wundert, weil mir diese Kategorien auch schon bisher bei allen wichtigen Themen nicht weiter geholfen haben. Ich vermute daher sehr, dass wir es auch hier wieder mit falschen Dualismen, falschen Gegenüberstellungen zu tun haben.
Die Frage scheint mir nicht so sehr zu sein, ob wir für Sicherheit eintreten oder für die Akzeptanz der Unsicherheit, sondern vielmehr: Wann und unter welchen Umständen brauchen wir Sicherheit bzw. können wir Sicherheit erreichen? Und wann und unter welchen Umständen müssen wir Unsicherheit akzeptieren und lernen, mit ihr umzugehen?
Als ich über diese Frage nachdachte, ist mir keine politische Situation oder Fragestellung eingefallen, sondern etwas anderes: Und zwar die Situation, in der ich mit meinen zwei Neffen in der Stadt unterwegs bin. Meine Neffen sind jetzt sechs und neun Jahre alt, und manchmal kommen sie mich besuchen oder ich passe auf sie auf. Das macht mir Spaß, und ist auch nicht sehr mühsam oder anstrengend, aber die Last der Verantwortung ist, wenn man mal einen Moment darüber nachdenkt, eigentlich ungeheuerlich groß. Denn egal wie aufmerksam ich bin, wie verantwortungsbewusst und wach, ich kann nicht dafür garantieren, dass nicht irgend etwas Schlimmes passiert. Dass einer auf die Straße rennt und vom Auto überfahren wird oder sich an einer Fischgräte verschluckt oder was auch immer. Dass einem der beiden irgend etwas zustößt, während ich für sie verantwortlich bin, ist sozusagen das größte Horrorszenario, das ich mir vorstellen kann.
Und es ist gleichzeitig eines, gegen das ich mich nicht absichern kann. Natürlich kann ich gewisse Sicherheitsmaßnahmen einführen, rote Ampeln beachten und sie bei gefährlichen Kreuzungen an die Hand nehmen, aber ich habe keine Garantie dafür, dass alles gut geht. Ich kann mich gegen den Ernstfall auch nicht versichern, weil es keine Frage des Geldes ist.
Trotzdem gehe ich das Risiko immer wieder ein, und ich gehe es gerne ein. Und ich glaube, dieses Beispiel führt uns direkt in das Zentrum dessen, was die grundlegende und unhintergehbare Tatsache ausmacht, dass das Leben unsicher ist: Nämlich die Körperlichkeit des Menschen auf der einen Seite und die Tatsache, dass wir innerhalb von konkreten persönlichen Beziehungen leben, auf der anderen Seite. Wir Menschen sind körperliche Wesen, daher sind wir immer und überall verletzlich. Anders gesagt: Wir können jederzeit sterben, und zwar wirklich jederzeit, in jeder Sekunde unseres Leben – eine Tatsache, die wir heute oft aus den Augen verlieren, weil wir uns angewöhnt haben, den Tod als eine Bedrohung des Alters anzusehen. Und tatsächlich ist es so, dass heute die Wahrscheinlichkeit, als junger Mensch zu sterben, sehr viel geringer ist, als in früheren Jahrhunderten. Tatsächlich sterben wir alle, und auch meine Neffen, höchstwahrscheinlich erst, wenn wir alt sind. Aber sicher wissen wir das eben nicht. Wir können jederzeit verletzt werden, krank werden, sogar tödlich. Mit anderen Worten: Wir müssen uns Gefahren aussetzen, wenn wir leben wollen, und dabei sind wir doch gleichzeitig füreinander verantwortlich. Das heißt, diese Verantwortlichkeit äußert sich in Beziehungen, die wir zueinander haben und füreinander eingehen. Und in diesem Fall ist es nicht nur meine Beziehung zu meinen Neffen, die eine Rolle spielt, sondern auch die zu meiner Schwester und so weiter.
Sich mit dieser Unsicherheit der eigenen Körperlichkeit und den dabei involvierten Beziehungen auseinander zu setzen, ist traditionell eine Aufgabe der Frauen. Diejenigen, die körperlichen und seelischen Bedürfnisse der Menschen versorgen, sind Frauen, und zwar ganz überwiegend auch heute noch, wo wir allgemein sagen, dass Erziehungs- und Fürsorgearbeit eine Aufgabe von beiden Geschlechtern sein soll. Doch das zu sagen, hat an der Realität noch nicht viel geändert. Vielleicht haben Männer auch größere Schwierigkeiten, sich dieser Unsicherheit zu stellen, sie zu akzeptieren und darin einzuwilligen, Verantwortung trotz Unsicherheit zu übernehmen.
Auf jeden Fall ist es doch so, dass man unsere Kulturgeschichte – die ja über weite Strecken eine männlich dominierte Kulturgeschichte war – auch als den Versuch lesen kann, die Unsicherheit soweit wie möglich auszuschalten. Die Naturwissenschaften zum Beispiel haben versucht, die Gefahren, die durch die Natur drohen zu minimieren: Krankheiten also nicht nur zu heilen, sondern sogar im Vorhinein schon zu verhindern, was es ja derzeit eine wichtige Argumentation in der Gentechnik ist. Das Wetter in den Griff zu bekommen, den menschlichen Körper unabhängig zu machen von Kälte, Hitze – wenn auch mit dem ironisch-bitteren Nebeneffekt, dass jetzt durch die Gefahren des Klimawandels diese Unsicherheit quasi durch die Hintertür wieder hineinkommt. Maschinen zu erfinden, die die Menschen entlasten von harter körperlicher Arbeit. Die Hoffnung dahinter ist, die Natur soweit in den Griff zu bekommen, dass die Gefahren für den menschlichen Körper minimiert werden, was ja auch in vielerlei Hinsicht gelungen war, wie man an der längeren Lebenserwartung heute sieht.
Und auf der anderen Seite haben die politischen Wissenschaften versucht, die Unsicherheit, die in menschlichen Beziehungen lauert, in den Griff zu bekommen. Thomas Hobbes etwa, einer der grundlegenden Vordenker moderner Staatstheorien, hat so die Notwendigkeit von Regierungen, Gesetzen, Verträgen und Gerichten begründet. Weil im Naturzustand, so seine Theorie, die Menschen in einen ständigen Kampf gegeneinander verwickelt waren, weil jeder gegen jeden gekämpft hat, sind solche äußeren Regelungen notwendig, auch wenn dies den Verzicht auf individuelle Freiheiten bedeutet. Denn nur, weil wir einen Staat und eine Polizei und Gerichte haben, können wir sicher sein, nicht den Unwägbarkeiten hilflos ausgeliefert sein, die die Tatsache mit sich bringt, dass es auf der Welt auch noch andere Menschen gibt, die uns möglicherweise nicht freundlich gesinnt sind.
Beide Errungenschaften sind ganz unbestreitbar sinnvoll und gut. Der Fehler liegt nur darin, dass sie daraus eine Gegenüberstellung machten. Dass die Eindämmung der unkontrollierten Unsicherheit dazu tendierte, auf der anderen Seite das Versprechen totaler Sicherheit mit sich zu bringen. Das heißt, es ist die Unterscheidungsfähigkeit verloren gegangen, von der ich vorhin gesprochen habe: Nämlich die Einsicht, dass trotz allem Bemühen diese Sicherheit niemals total und verlässlich ist, dass Unwägbarkeiten bleiben, weil diese Unsicherheit nämlich grundsätzlich und untrennbar mit der Körperlichkeit und der Bezogenheit der Menschen verbunden ist. Zwischen Sicherheit und Unsicherheit wurde ein Gegensatz aufgebaut, ein entweder-oder, statt die Fähigkeit zu schulen, dass wir es immer mit beidem gleichzeitig zu tun haben.
Eine Krankenhausseelsorgerin zum Beispiel, die auf einer Kinderstation mit Frühgeburten arbeitet, erzählte mir, dass die Klinikleitung ihr verboten hat, an einer Wand Briefe von Eltern auszuhängen, die sich bei ihr dafür bedanken, wie hilfreich und einfühlsam sie ihnen in der schweren Zeit nach dem Tod ihres Kindes geholfen hat: Diese Briefe, so hieß es, wären schlecht für das Image der Klinik, weil sie ja offen legen würden, dass nicht alle Kinder überleben. Oder ein anderes, eher amüsantes Beispiel: Neulich sah ich ein Werbeplakat von einer Internetplattform zur Partnerschaftsvermittlung, mit dem Slogan: »Liebe aber sicher« – also das unsinnige Versprechen, man könnte in Liebesbeziehungen Sicherheit garantieren.
Das heißt, in unserer Kultur gibt es eine starke Tendenz, den Aspekt der möglichen Sicherheit absolut zu setzen und die verbleibende Unsicherheit abzuspalten, zu verdrängen und zu ignorieren bzw. den Frauen als angeblich »weibliche« Aufgaben zu übertragen. Sie alle wissen, dass Frauen im Patriarchat mit Natur gleichgesetzt wurden, das unkontrollierbare, geheimnisvolle, unzuverlässige und wankelmütige Wesen der Frauen war ein Thema, das Unmengen von Büchern füllte. Diese Argumentationsfigur diente dann auch als Begründung dafür, warum Frauen von den öffentlichen Bereichen der Politik, der Wissenschaften, der Justiz ferngehalten werden mussten. Und es beeinflusste auch die ganz konkrete alltägliche Arbeitsteilung: Frauen wurden genau für diese beiden Bereiche zuständig erklärt: Die Sorge um den menschlichen Körper und für die konkreten Beziehungen – also die Kindererziehung, die Pflege von Kranken, die Häuslichkeit, die »Beziehungsarbeit«. All dies sind Tätigkeiten, bei denen – wie mir, wenn ich mit meinen Neffen in der Stadt unterwegs bin – es schlichtweg unmöglich ist, ein totales Sicherheitsgefühl zu entwickeln.
Indem sich die Männer aber diese Aspekte des Lebens im wörtlichen Sinne vom Leib hielten und sie der Verantwortlichkeit von Frauen übergaben, konnten sie sich umso leichter der Illusion hingeben, diese Bereiche und Aspekte seien irrelevant für sie selbst. Sie konnten ihre eigene Abhängigkeit abspalten und Vorstellungen von Autonomie und Eigenverantwortlichkeit entwickeln, die vollkommen unrealistisch sind.
Das heißt natürlich nicht, dass Männer Angsthasen sind. Im Gegenteil, sie gelten im Allgemeinen als sehr risikofreudig. Mehr Männer als Frauen finden Gefallen daran, mit hohen Geschwindigkeiten über die Autobahnen zu rasen oder waghalsige Expeditionen auf Berggipfel zu unternehmen. Vielleicht sind das aber nur zwei Seiten derselben Medaille: Wer glaubt, mit Hilfe von Technik und Wissenschaft die Unsicherheit in den Griff zu bekommen, ist eher zum Risiko bereit oder dazu, sich selbst und andere kalkulierten Gefahren auszusetzen. Zum Beispiel mal eben genetisch veränderte Pflanzen auszusetzen – wir haben ja alle Eventualitäten einkalkuliert, oder nicht? Wer auf die Technik vertraut, glaubt, Risiken kalkulieren zu können: Wenn alles so abläuft, wie geplant, passiert ja nichts. Wer hingegen davon ausgeht, dass sich niemals etwas restlos vorausberechnen lässt, ist da eher etwas zurückhaltender.
Heute, in Zeiten der Emanzipation, haben wir uns von solchen stereotypen Zuweisungen bestimmter Eigenschaften an Frauen oder Männer zum Glück befreit. Allerdings besteht dadurch auch die Gefahr, dass jenes Wissen, das ehemals den Frauen zugeschrieben war, in Vergessenheit gerät. Dass also nur noch die ehemals als »männlich« verstandene Haltung, die Kombination aus technischer Planung bei gleichzeitiger Risikofreude, übrigbleibt, aber das Wissen um die grundsätzliche Unsicherheit verloren geht. Ich denke zum Beispiel an die Zulassung des Gentests über die biologische Vaterschaft, die auch von vielen Frauen befürwortet wurde. Die Unsicherheit der Vaterschaft, die ja in der einfachen Tatsache begründet liegt, dass zwischen der Zeugung eines Kindes und seiner Geburt neun Monate vergehen und bei der Geburt auf jeden Fall die Mutter, nicht aber unbedingt der Vater anwesend ist, diese Unsicherheit hat die Männer schon immer beschäftigt und irritiert. Und Sie wissen ja, welche rigiden und oft frauenfeindlichen Maßnahmen sie in der Vergangenheit ergriffen haben, um die Sicherheit der Vaterschaft zu gewährleisten – vom Keuschheitsgürtel bis hin zu härtesten Strafen für Ehebruch seitens der Frauen. Die Sicherheit der Vaterschaft war in der Vergangenheit mit Hilfe einer patriarchalen Unterdrückung der Frauen geschützt worden. Heute, in emanzipierten Zeiten, ist das nicht mehr möglich, weil sich die Frauen nicht mehr unterdrücken lassen und auch die Männer inzwischen gleichberechtigte Partnerschaften schätzen. Aber anstatt nun eine Lösung darin zu suchen, gelingende Beziehungen zwischen Müttern und Vätern zu stärken, soll nun die vermeintlich »objektive Wissenschaft« doch wieder Sicherheit garantieren. Der Gentest also. Das Tragische daran ist, dass diese vermeintliche Sicherheit über die biologische Zeugung in den allermeisten Fällen den konkreten Beziehungen gerade schadet, also die Unsicherheit für den familiären Zusammenhalt erhöht. Denn entweder stellt sich heraus, dass der Verdacht des Mannes unberechtigt war – was in neun von zehn Fällen so ist – dann muss er mit diesem Wissen um seinen Vertrauensbruch leben. Oder es stellt sich heraus, dass er nicht der biologische Vater ist – dann bleibt ja die Frage, was er mit diesem Wissen anfangen soll. Gelingende Beziehungen sehen anders aus.
Die Gefahr, die darin liegt, jeden Aspekt des Lebens absichern zu wollen, ist die, dass uns die Fähigkeit verloren geht, mit der Kontingenz, dem Zufall umzugehen. Kürzlich kaufte ich meinen Neffen jedem ein Überraschungsei. Sie machten es auf, und in dem einen war eine der begehrten Fußballfiguren drin, in dem anderen ein nicht so beliebtes Spielzeug. Der Jüngere, der dieses »schlechtere« Ei bekommen hatte, wurde darüber sehr wütend und beschwerte sich: »Das ist aber ungerecht!«. Ich erklärte ihm, dass manche Sachen auf der Welt eben ungerecht seien, dass man manchmal einfach Pech hat und dass daran niemand Schuld sei, weder er, noch ich, noch sein Bruder. Und dass das aber nicht schlimm ist, manchmal Pech zu haben, weil das eben ganz normal ist und allen mal passieren kann. Er guckte mich ganz erstaunt an, als sei ihm dieser Gedankengang völlig neu. Aber irgendwie schien es ihn zu beruhigen. Es ist beruhigend, in einer blöden Situation zu wissen, dass die Situation zwar blöd ist, aber dass man sie einfach akzeptieren kann und nicht gezwungen ist, jetzt zu protestieren, vor Gericht zu laufen, sich zu schämen, mit anderen zu streiten oder sonst irgendwelche Maßnahmen zu ergreifen.
Ich halte es tatsächlich für sehr gefährlich, dass diese Fähigkeit, den Zufall zu akzeptieren, von Glück haben und Pech haben zu sprechen, immer mehr verloren geht. Mir fällt das insbesondere beim Umgang mit Krankheiten auf – fast nie kommt es vor, dass jemand krank wird, ohne dass gleich nach Ursachen und Schuldigen gesucht wird. Einer hat Lungenkrebs – na klar, er hat ja dauernd geraucht. Oder auch: Wieso denn die, die hat ja gar nicht geraucht! Wir sind indoktriniert von einer Gesundheitsindustrie, die uns einredet, wir hätten unseren Körper im Griff. Und umso schlimmer ist es dann für die, die trotzdem krank werden. Statt unser Mitgefühl zu bekommen, müssen sie auch noch mit Schuldzuweisungen rechnen.
Aber die Gesundheit ist nur ein besonders eindrückliches Beispiel für diese Unwilligkeit, die Unsicherheit des Lebens zu akzeptieren. Die Vorstellung, dass irgendjemand Schuld sein muss, wenn uns etwas geschieht, ist allgegenwärtig. Der Streit geht dann nur darum, wer Schuld ist: Die Person selbst oder die Verhältnisse. Einer wird arbeitslos – na, dann hat er sich eben nicht genug angestrengt. Oder – na klar, die böse Wirtschaft ist schuld. Dass er vielleicht einfach nur Pech gehabt hat, dass es ein dummer Zufall war, kommt uns gar nicht in den Sinn. Gleiches gilt natürlich auch für die, die Glück hatten: Sie haben es sich selbst verdient, sind eben toll und erfolgreich, sagen die einen. Oder: Die müssen irgendwo Dreck am Stecken haben, wahrscheinlich sind sie über Leichen gegangen, sagen die anderen. Aber vielleicht hatten sie einfach Glück?
Diese Diskussion ist natürlich heikel. Es muss uns gelingen, den Zufall, die Kontingenz, die Möglichkeit von Pech und Glück in unserem Leben und in unserem Handeln gegenwärtig zu haben, ohne wiederum in den falschen Dualismus zu geraten, der diese Tatsache, dass es Zufälle gibt und sie eine Rolle spielen, gegen den Aspekt der Sicherheit, der Regeln, der Vorsichtsmaßnahmen und so weiter ausspielt. Auch wenn es falsch ist, im Fall eines Lungenkrebses die Frage zu stellen, ob die Raucherin nicht selbst daran schuld ist, weil sie geraucht hat, anstatt ihr in ihrem Leid hilfreich zur Seite zu stehen und mit ihr zu trauern, ist es natürlich richtig, auf die Gefahren des Rauchens hinzuweisen. Und auch wenn es richtig ist, den eigenen Körper mit Sport und gesunder Ernährung zu pflegen und zu schützen, ist es eben trotzdem falsch, sich einzubilden, man wäre jetzt nicht mehr verletzbar und gefährdet.
Insofern ist der bekannte Spruch: »Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden« eigentlich eine Binsenweisheit. Die Herausforderung liegt eigentlich darin, zu entscheiden, wie und in welcher Weise ich Dinge ändern soll. Denn in fast allen Fällen ist es doch so, dass ich zwar schon etwas tun kann, aber nicht garantieren kann, dass ich erfolgreich sein werde. Und auch nicht, ob mein Handeln richtig ist. Und damit komme ich zu einer Unsicherheit, vielleicht die wichtigste und bedeutendste von allen ist, die aber selten bedacht wird: Nämlich die Unsicherheit meiner eigenen Entscheidungen, von denen ich nicht zweifelsfrei wissen kann, ob sie richtig sind oder welche Folgen sie haben werden.
Ein gutes Beispiel für diese Haltung ist die Israelitin Judith – ein für die jüdische Tradition wichtiges Buch der hebräischen Bibel (die Idee für die folgende Interpretation dieser Geschichte bekam ich von Angela Standhartinger). Vielleicht kennen Sie die Geschichte: Das kleine Dorf, in dem die fromme Witwe Judith wohnt, ist von einer Streitmacht des Großreiches Babylon unter dem Heerführer Holofernes belagert. Holofernes soll im Auftrag des Königs Nebukadnezars alle Religionen unterwerfen – die Menschen sollen Nebukadnezar als Gott verehren und sich von ihren eigenen Göttern lossagen. Das kleine Dorf liegt strategisch an einer wichtigen Stelle: Es ist klar, wenn es fällt, kann die Armee ohne Probleme bis Jerusalem durchmarschieren. Die Überlegenheit des fremden Heeres ist überwältigend, und den Belagerten geht das Wasser auf. Die Leute beginnen zu murren: Wenn wir verdursten, wird Holofernes ohnehin siegen, warum ergeben wir uns nicht gleich und retten wenigstens unser Leben? Die Ältesten sind unsicher, was sie machen sollen. Und sie kommen auf die Idee, Gott ein Ultimatum zu stellen: Noch fünf Tage wollen sie ausharren. Entweder Gott lässt es bis dahin regnen, oder sie ergeben sich.
Die fromme Witwe Judith ist mit dieser Idee gar nicht einverstanden. Sie findet es anmaßend, Gott erpressen zu wollen. Deshalb entschließt sie sich, auf eigene Faust zu handeln. Sie zieht ihre schönsten Kleider und ihren prächtigsten Schmuck an und geht in das Heerlager des Holofernes. Der glaubt, eine Überläuferin vor sich zu haben, er hält Judith für eine Prostituierte. Er nimmt sie mit in sein Zelt, betrinkt sich, und als er ganz erschöpft eingeschlafen ist, findet Judith in dem Zelt ein Schwert und schlägt Holofernes den Kopf ab. Das im wahrsten Sinne kopflos gewordene Heer zerstreut sich, Jerusalem ist gerettet.
Eine merkwürdige Geschichte, oder? Es handelt sich hier nicht um eine historische Erzählung, das Dorf und den Angriff des Holofernes hat es nie gegeben. Sondern es ist eine Parabel für Gottvertrauen, und Judith wird uns als eine vorgestellt, die beispielhaft in einer unsicheren Situation Geistesgegenwart bewiesen hat, die den Zufall mit einbezogen hat.
Judith handelt zwar, aber sie hat keinen festen Plan. Sie kann ja nicht wissen, dass Holofernes betrunken einschlafen würde. Sie kann auch nicht wissen, dass dann ein Schwert zur Hand sein würde. Sie hat mit ihrer Initiative nicht einen festen Plan ausgeführt, sondern einen Anfang gesetzt, und darauf vertraut, dass sich im Laufe der Ereignisse irgend etwas, irgend eine Gelegenheit ergeben würde. Und die hat sie dann mutig und geistesgegenwärtig ergriffen. Die Moral von der Geschicht lautet also nicht: Wenn jemand dich bedroht, dann schlag ihm den Kopf ab. Sondern eher so: Auch wenn du glaubst, die Lage ist aussichtslos, kannst du einen Anfang setzen, kannst du die Initiative ergreifen – und wer weiß, vielleicht ergibt sich daraus eine Gelegenheit. Dabei kannst du auch unkonventionell vorgehen – zum Beispiel, dich wie eine Prostituierte aufbrezeln. Gottvertrauen heißt also gerade nicht, brav zuhause zu sitzen, die Hände zu falten und sich in das Schicksal zu ergeben. Sondern es heißt, auch dann aktiv zu werden, wenn mein Plan nur für die aller ersten Schritte reicht.
Das erinnert mich wiederum an Hannah Arendt, die darauf hingewiesen hat, dass es im Bereich des Zwischenmenschlichen immer nur Anfänge geben kann. Handeln bedeutet immer, dass ich nicht weiß, wie die Geschichte ausgeht – einfach deshalb, weil ich nicht weiß, was die anderen tun werden. Wird Holofernes sich betrinken und unaufmerksam sein? Oder ist er vielleicht sogar ein netter Kerl und man kann mit ihm reden? Ist er vielleicht käuflich und ich kann ihn bestechen? All das weiß ich nicht, bevor ich nicht losgegangen bin, bevor ich nicht einen Anfang gesetzt habe.
Das Handeln der Menschen, so Arendt, ist von seinem Wesen her riskant, einfach deshalb, weil wir viele sind und weil wir verschieden sind. Aber anders als Hobbes, der glaubte, dieses Risiko der menschlichen Pluralität ließe sich durch Politik eindämmen, etwa durch einen Staat und seine Gesetze, geht Arendt davon aus, dass dieses Risiko gerade das Wesen des Politischen ausmacht, und dass es nicht nur ein Risiko ist, sondern zugleich auch die Vorbedingung dafür, dass Neues entstehen kann, dass die Welt sich verändern kann.
Das heißt nicht, dass es keine Institutionen und Gesetze und Regierungen und Versicherungen und Verträge geben soll, sondern nur, dass wir von diesen Einrichtungen nicht mehr erwarten dürfen als das, was sie zu leisten imstande sind: Nämlich eine gewisse zeitliche Übereinkunft unter den Menschen zu stabilisieren und festzuhalten. Michaela Moser hat kürzlich in einer Diskussion darauf hingewiesen, dass dies ein Punkt ist, an dem viele politische Debatten derzeit schief laufen – nämlich zu glauben, wenn eine Sache gesetzlich festgelegt ist, müsste man nicht mehr darüber verhandeln. Etwa indem wir glauben, wenn wir von Migranten und Migrantinnen vor der Einwanderung ein Bekenntnis zu unserer Rechtsordnung verlangen, etwa zur Gleichstellung von Frauen und Männern, dann sei das Thema damit erledigt. Keineswegs. Denn kein Gesetz kann jemanden davon abhalten, eine andere Meinung zu haben und für diese auch einzutreten. Oder anders gesagt: Wir können zwar mit Hilfe der Polizei und der Gerichte andere dazu zwingen, sich an die bestehenden Gesetze zu halten. Wir können sie aber nicht dazu zwingen, die bestehenden Gesetze gut zu finden. Das heißt, die Notwendigkeit der Verhandlung besteht nach wie vor. Das ist der Kern jeder Unsicherheit.
Andere Menschen können die Gesetze und Verhältnisse, an die wir uns gewöhnt haben, die wir gut finden und die uns stabil erschienen, gegen unseren Willen verändern- Das erleben wir ja zur Zeit auch im Hinblick auf die soziale Absicherung. Was früher galt, dass nämlich die normalen beruflichen Sozialabgaben ein sicheres Auskommen im Fall von Krankheit oder im Alter garantierte, das gilt jetzt nicht mehr. Oder Frauen, die sich darauf verlassen haben, dass ihre Hausfrauenarbeit ihnen ein Recht auf Unterhalt garantierte, die müssen jetzt lernen, dass so ein Gesetz sich auch ändern lässt. Auch das Geld auf der Bank, von dem wir lange glaubten, es gewähre doch eindeutig eine Sicherheit, erscheint uns zunehmend unsicher angesichts der Turbulenzen auf den Internationalen Finanzmärkten.
Das heißt, Gesetze, Regelungen, Verträge und ähnliche Institutionen wären überstrapaziert, wollten wir von ihnen eine Sicherheitsgarantie im Hinblick auf die Zukunft erwarten. Ihr Sinn ist etwas anderes, ebenso Wichtiges, worauf die französische Philosophin Simone Weil hingewiesen hat: Sie schützen uns vor Willkür. Nichts sei so demütigend, schreibt Weil, wie der willkürlichen Entscheidung anderer Menschen ausgeliefert zu sein, genau dies mache den Status eines Sklaven aus. Auch wenn er einen gütigen Herrn hat und es ihm dort gut geht, ist der Sklave doch immer vom Wohlwollen seines Herren abhängig. Simone Weil ist daher der Ansicht, dass auch die schlechtesten und härtesten Gesetze immer noch besser sind, als der mildeste Herrscher, weil die Gesetze uns nämlich vor der Willkür schützen. Sie garantieren unsere Freiheit, selbst dann, wenn es unterdrückerische Gesetze sind, weil sie uns nämlich einen Rahmen für freies Handeln im Hier und Jetzt geben. Aber sie können uns keine Sicherheit für die Zukunft geben.
Und das genau ist das Tragische an der gegenwärtigen Entwicklung. Der 11. September, die globalisierte Wirtschaft, die Einsicht, dass wir hier in Europa nicht in einer Festung sitzen, in der wir sicher und geschützt sind vor den Gefahren dieser Welt, hat nämlich nicht dazu geführt, dass wir uns unserer Regeln und Gesetze und Absicherungen bewusst werden, sie wertschätzen und pflegen, sondern im Gegenteil gerade zu einer Aushöhlung dieser Regeln. Sie führt auch nicht zu der Einsicht, dass wir mit der Unsicherheit leben lernen müssen, sondern zu einer noch weiter übersteigerten Phantasie totaler Sicherheit.
Im Namen der Sicherheit scheint die Willkür wieder in die Justiz Einzug zu halten – in Form von Folterungen etwa, die die USA ganz offen als Methode gegen Terroristen einsetzen. Das ist auch der Grund für das große Entsetzen, das die Fotos von den Demütigungen und Folterungen ausgelöst haben, die amerikanische Soldaten und Soldatinnen im Irak begangen haben. Der militärische Sicherheitswahn hat zu Unsicherheit geführt, weil die Willkür wieder einen Spielraum zu haben scheint. Und ähnlich ist es im Bereich der sozialen Sicherheit, der Wirtschaft. Das Problem ist nicht, dass wir hier in Deutschland zu wenig Geld hätten. Auch die Ärmsten müssen nicht hungern und frieren. Aber sogar Hunger und Kälte wären auszuhalten, wenn es dabei »mit rechten Dingen zuginge«, wenn also zum Beispiel eine allgemeine Not dafür die Ursache wäre. Unaushaltbar und demütigend ist all das, weil man den Eindruck der Willkür nicht loswird. Ohne dass es dafür einen einsichtigen Grund gibt, werden die einen reich und die anderen arm. Und ebenso ist es mit den Gesetzen, auch im Hinblick auf Steuerkriminalität. Man hat nicht mehr den Eindruck, dass es hier gerecht zu geht, sondern dass hier eine Lotterie am Werke ist. Das Problem ist, nicht zu wissen nach welchen Regeln gespielt wird, die Welt nicht durchschauen zu können – und dementsprechend auch nicht zu wissen, wie man handeln soll.
Was unsere Zukunft betrifft, so sind wir abhängig von Zufällen – und zwar nicht nur von den Zufällen, die die Natur, unsere Körperlichkeit und all das betrifft, sondern zuerst und vor allem von der Unabsehbarkeit dessen, was andere Menschen tun werden. Nicht die Pflegeversicherung wird unser Wohlbefinden im Alter garantieren, egal wie gut sie ausgebaut wäre – und es spricht überhaupt nichts dagegen, sie gut auszubauen – sondern das, was andere Menschen dann tun werden, wenn wir einmal ihrer Hilfe bedürfen. Weil es aber sehr schwierig ist, diese Unsicherheit zu akzeptieren und das Bedürfnis der Menschen, auch für die Zukunft zu planen, stark ist und ernst genommen werden muss, hat Hannah Arendt auf eine andere Möglichkeit hingewiesen, und zwar auf das Versprechen. »Das Vermögen, Versprechen zu geben und zu halten, und die ihm innewohnende Macht, das Zukünftige zu sichern«, so schreibt sie, kann »die Unabsehbarkeit des Zukünftigen«, diesen »Nebel des Ungewissen und des Nichtwissbaren … hie und da« aufhellen und zerstreuen.
Das funktioniert aber nur, wenn Verträge und Gesetze auch tatsächlich diesen Charakter eines Versprechens haben, das die Menschen sich gegenseitig geben – und nicht aus einem Wust von Kleingedrucktem bestehen, das schon von vornherein Skepsis auslöst, dabei über den Tisch gezogen zu werden. Vielleicht ist das das größte Problem unserer Kultur, dass sie den Wert von Versprechen systematisch unterhöhlt hat. Wo man täglich das Versprechen hört, den Hauptgewinn schon gezogen zu haben, man muss sich nur noch bei dieser oder jener Telefonnummer anmelden, und wo jeder Vertrag vorab von einer Armee von Juristen geprüft werden muss, nur um dann hinterher festzustellen, dass es im Kleingedruckten eine Klausel gab, die genau diesen Versicherungsfall ausschließt, den ich jetzt gerne melden würde – in so einer Umgebung ist es schwer, dass das Versprechen diese Kraft entfalten kann, die Hannah Arendt ihm zuschreibt. Und doch ist es vielleicht die einzige Möglichkeit, die wir haben, um an der Unsicherheit nicht zu verzweifeln.
Jedenfalls haben nach Arendt Gesellschaften, die sich – im Unterschied zu absoluten Herrschaftsformen – auf diese Fähigkeit der Menschen gründen, sich Versprechen zu geben, den Vorteil, dass sie, ich zitiere »das Risiko auf sich nehmen, die grundsätzliche Unabsehbarkeit menschlicher Angelegenheiten und die grundsätzliche Unzuverlässigkeit der Menschen als solche bestehen zu lassen, ja sie geradezu mit in Rechnung stellen, indem sie sie gleichsam als das Medium benutzen, in das die Versprechen gewisse, genau abgegrenzte Inseln des Voraussehbaren werfen, wie Wegweiser in ein noch unbekanntes und unbegangenes Gebiet. Sobald Versprechen aufhören, solchen Inseln in einem Meer der Ungewissheit zu gleichen, sobald sie dazu missbraucht werden, den Boden der Zukunft abzustecken und einen Weg zu ebnen, der nach allen Seiten gesichert ist, verlieren sie ihre bindende Kraft und heben sich selbst auf.«
Was heißt das nun für uns, möchte ich zum Schluss meines Vortrags fragen? Worauf müssen wir achten, wenn wir uns in die Debatten über Sicherheit einmischen, die derzeit so heftig geführt werden? Und was müssen wir bedenken für unser eigenes Lebens, für unser Handeln, für unsere Beziehungen in der Familie, im Beruf, in der Nachbarschaft?
Es sind drei Stichworte, die ich dabei vor allem wichtig finde:
Traue niemandem, der dir Sicherheit für die Zukunft verspricht. Das ist nämlich auf jeden Fall gelogen. Denn was die Zukunft bringt, das weiß niemand, diese Unsicherheit bleibt.
Nimm Versprechen und Verträge ernst, denn sie sind die Inseln, die uns im Meer der Unsicherheit überleben lassen. Lass nicht zu, dass sich eine Kultur verbreitet, in denen falsche Versprechungen und mit juristischen Spitzfindigkeiten wertlos gemachte Verträge die Überhand gewinnen. Fragen wir genau zurück: Bist du sicher, dass du mir das versprechen willst?
Sei geistesgegenwärtig und voller Gottvertrauen, wie Judith. Wir können immer einen Anfang setzen, auch wenn wir nicht wissen, ob unser Plan genau so aufgeht. Wichtiger als alle ausgefeilten Strategien ist es, in einer konkreten Situation das richtige zu tun und die Gelegenheiten, die das Leben selbst uns bietet, zu nutzen.
(Die Zitate von Hannah Arendt stammen aus Vita Activa, S. 311f.)
Vortrag beim Frauentag der ev-luth. Kirche in Oldenburg, 7. Juni 2008
abgedruckt in: Mitteilungen der Ev. Frauenarbeit Oldenburg, Juli 2008.