Antje Schrupp im Netz

Auf dieser Seite habe ich einige Abschnitte aus Texten von Luisa Muraro zusammengestellt. Weitere Texte von ihr, die im Netz verfügbar sind, sind auf der Diotima-Startseite verlinkt.

Eine Philosophie der sexuellen Differenz oder: Was ist eine Frau?

Wir haben nicht gewählt, als Frauen geboren zu werden, und gerade diese Tatsache macht es unabdingbar, das Frausein zu akzeptieren. Simone Weil lehrt, dass das Akzeptieren der Notwendigkeit Freiheit schafft. … Frei-Werden und ein weibliches Subjekt werden – das ist eins.1

Das Werden des weiblichen Subjekts umfasst das Menschsein, die Geschlechtsidentität und die persönliche Einzigartigkeit – alle drei Dinge zusammen…. Ich hasse den Ausdruck »ich als Frau«, denn er spiegelt die sinnlose Unterscheidung zwischen Frausein und Menschsein wider. Menschsein ist Frausein, Menschsein ist Mannsein. Was Frauen und Männer gemeinsam haben, darf nicht einfach vorausgesetzt werden, denn vor dem Frausein/Mannsein gibt es kein Menschsein. Was wir mit dem anderen Geschlecht gemein haben, wird sich aus eventuellen Übereinkünften ergeben, aus der wechselseitigen Anerkennung der beiden Geschlechter bezüglich kultureller, emotionaler und politischer Fragen. Oder es ergibt sich aus den kulturellen Zwängen, die wir weiterhin bekämpfen werden, im Namen einer freien Interpretation der Geschlechterdifferenz. In der westlichen Welt tendieren viele dazu, zu leugnen, dass »Frau« ein Bedeutungsträger von Freiheit ist. Die Frau trägt das ganze Menschsein in sich, der Mann trägt das ganze Menschsein in sich, die Menschheit besteht aus zwei Differenten, zwei Absoluten, die nicht ein Eins bilden und die mehr oder weniger nahe beieinander leben – dank kultureller und persönlicher Vermittlungsarbeit, und nicht ohne Konflikte. Ich wünsche mir, dass der freie Austausch zwischen Frauen und Männern in Zukunft wächst.2

»Frau« war die schwierigste Bezeichnung für mein In-der-Welt-Sein und bleibt es auch weiterhin, weit größer und anspruchsvoller als mein eigener Name »L.M.« »Frau« ist eine schwierige Bezeichnung, weil sie diskriminiert: Sie setzt Grenzen, teilt auf, trennt ab. Auch »L.M.« ist eine wichtiger Name für mich und seit meiner Grundschulzeit ebenfalls diskriminierend, aber er hat nicht dieselbe Kraft. Das mag befremdlich wirken, denn »L.M.« beinhaltet doch auch das Frausein und darüber hinaus noch weitere Dinge, weshalb die Diskriminierung eigentlich viel stärker sein müsste. Aber dieser Name umfasst das Frausein nicht wirklich und nicht notwendigerweise. So gab es tatsächlich jenen Gesprächspartner, der verlangte, dass ich von der Frau absah, es gab die Versuchung des Neutrums in mir, und es gab den Interpreten, der glaubte, hinter dem Eigennamen einer Frau das Denken eines Mannes wiederzuerkennen. So kam ich zu der Überzeugung, dass ein weiblicher Eigenname wenig bedeutet und dass »eine Frau« für mich das Wesentliche von mir im Verhältnis zu den anderen bezeichnet.3

Die Mutter lieben

Die symbolische Ordnung beginnt für eine Frau damit, dass sie die Mutter lieben kann. Das heißt nicht, dass wir uns Mühe geben, der Mutter gegenüber Liebe zu empfinden, was an sich etwas sehr Schönes ist, aber nicht von unserer Entscheidung abhängt. Gemeint ist, dass wir die Erfahrung unserer Beziehung zur Mutter mit allen damit verbundenen Empfindungen und Emotionen, welcher Qualität sie auch seien, zum Anlass nehmen für Erzählungen und Reflexionen. Damit übersetzen wir diese Erfahrung in Wissen und Leben und gewinnen gleichzeitig die Orientierung am Prinzip der Dankbarkeit gegenüber der Mutter … Wenn ich dies in philosophischer Sprache ausdrücke, behaupte ich damit, dass wir, wenn wir die Mutter lieben können, dadurch den authentischen Sinn des Seins gewinnen.. …Nicht die allgemeine, sondern die weibliche Liebe zur Mutter zu lehren, also die Liebe zwischen zwei Frauen in einer Beziehung, die von großer Nähe und gleichzeitig von einer unüberwindlichen Ungleichheit gekennzeichnet ist. Diese Liebe nicht moralisch, sondern symbolisch zu lehren, als ein Forschen nach dem authentischen Sinn des Seins. Sie nicht instrumentell zu lehren, als ein Mittel, um eine bestimmte soziale Ordnung zu erreichen, sondern sie aus dem Grund zu lehren, weil von der Fähigkeit, die Mutter zu lieben, die Autonomie einer Frau abhängt.4

Eines Tages, es war am Anfang des Studienjahres, kam eine Studentin aus dem ersten Semester zu mir, die sich gleich in die Forschungsarbeit stürzen wollte. Sie hatte einen reizenden kleinen Ring in der Nase. Nach einer Weile fragte ich sie: »Was sagt denn deine Mutter zu dem Ring da?« Und sie antwortete mir etwas barsch: »Fragen Sie mich doch lieber, was meine Mutter dazu sagt, dass ich Philosophie studiere.« Die Mutter des Mädchens lebte getrennt und musste für zwei Kinder sorgen, und war wütend auf die Tochter, weil sie sich für das Studium der Philosophie entschieden hatte, ein seltsames und brotloses Fach. Da machte ich ihr einen Vorschlag: »Du wolltest gleich mit der Forschungsarbeit beginnen? Ich gebe dir eine philosophische Hausarbeit bis Weihnachten, und zwar, mit deiner Mutter über deine Entscheidung zu reden, ihre Einwände anzuhören und sie zu überzeugen, dass dein Entschluss ein guter Entschluss war.« An Weihnachten kam sie ganz fröhlich mit ihrer fertigen Hausarbeit an.5

In der Vergangenheit war ich – beeinflusst durch den Feminismus und aufgrund bestimmter persönlicher Erfahrungen – absolut gegen die Familie eingestellt. Sie schien mir in jeglicher Hinsicht eine Feindin weiblicher Freiheit zu sein. … Heute sehe ich, dass meine Position nicht falsch, aber zu einfach war. Zweifelsohne muss man anerkennen, dass die Familie ein Ort ist, wo Menschen sich lieben, sich helfen und sich gleichzeitig erbitterte Kämpfe liefern – um die Aufteilung der Zeit, des Raumes, der Freiheit, des Geldes usw., alles Dinge, die mehr oder weniger beschränkt vorhanden sind … Zweifellos können wir feststellen, dass die Frauen in dieser Situation dazu tendieren, ihre Freiheit wegzugeben und gegen andere Güter wie Zuneigung, Nähe, Zusammenleben einzutauschen. Doch bei unserer Kritik der Familie machten wir damals den Fehler, nicht zu sehen, dass die Frau bei diesem Austausch in der Familie deshalb die Verliererin ist, weil sie keine Verhandlungsstärke mitbringt. … Wir sahen damals nicht, dass das Problem weniger in der Institution Familie liegt als vielmehr darin, dass die Frauen für das System der familiären Tauschbeziehungen oft nicht gewappnet sind. Sie begeben sich in ein Tauschgeschäft, das schon per se schwierig ist (denn hier geht es zum Teil um nicht quantifizierbare Güter, und zwar täglich, Minute um Minute), und sie haben obendrein mit derjenigen gebrochen, die die Hauptquelle der Stärke einer Frau sein sollte: mit ihrer Mutter. …6

Frauenbeziehungen – Frauenpolitik

Die Mutter-Tochter-Beziehung lässt sich für eine Frau nicht auf ein einfaches Verwandtschaftsverhältnis – wie das zum Mann oder zu den Söhnen – reduzieren. Ihre Beziehung trägt das symbolische Zeichen, das der Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht Bedeutung verleiht. All dies spielt sich auf der Ebene des Symbolischen ab, das betone ich hier noch einmal. Ich unterstreiche das so deutlich, weil es immer wieder eine Verwirrung der Gefühle oder psychologische Interpretationen gibt. In den patriarchalen Gesellschaften sind die Beziehungen unter Frauen nicht gedacht und daher dem Zufall überlassen. Folglich spielen die Gefühlszustände in diesen Beziehungen eine übertrieben große Rolle. …7

Wenn wir die Familie unter dem Aspekt der weiblichen Genealogie neu denken, ergibt sich daraus ein dritter Punkt: Die Familie kann und darf nicht als eine in sich geschlossene Welt betrachtet werden. … Es entsteht auch eine Öffnung hin zu jenen sozialen Orten, an denen die genealogische Beziehung zwischen Frauen eine Art Zelebration, eine Steigerung erfährt. Ich beziehe mich hier konkret auf die politischen Gruppen, die sich ausschließlich aus Frauen zusammensetzen, und ganz allgemein auf jede gleichgeschlechtliche Beziehung oder Gemeinschaft von Frauen, wie die Philosophinnengemeinschaft Diotima, der ich angehöre. An diesen Orten, in diesen Momenten des sozialen Lebens, wo die Beziehung zwischen Frauen zur Quelle von Wissen, von Stärke und Wohlergehen wird (auch in ökonomischem Sinn, und vor allem im Sinn einer erweiterten Kommunikation, von der die anderen Frauen und unter bestimmten Voraussetzungen auch Männer profitieren können), – an diesen Orten wird die Beziehung Mutter-Tochter zu einer gesellschaftsgestaltenden Kraft. … Es gibt also keinen Bruch zwischen der Familie und dem System der sozialen Beziehungen. Eine Frau kann ins gesellschaftliche Leben treten, ohne mit ihren familiären Beziehungen zu brechen. Die Brücke, die Kontinuität bieten ihr jene Frauen, die nicht in der Familie leben, und die es persönlich vorziehen, in sozialen Beziehungen mit einer oder mehreren Frauen zu leben, ohne eheliches Band und ohne Mutterschaft.8

Selbstbeschreibung der Gruppe Diotima:Wir sind keine Gruppe, sondern einzelne Frauen, die sowohl als Einzelne wie auch gemeinsamen geprägt sind von einer Geschichte der Beziehungen, angefangen bei der Beziehung zu unserer Mutter, die weitergeführt wird von der Beziehung, die uns untereinander verbindet und die »Diotima« heißt: Ein gemeinsamer Name für Beziehungen unter Frauen, die Philosophie treiben. Die weibliche philosophische Gemeinschaft Diotima wurde 1983 an der Universität von Verona geboren, auf Initiative von Frauen innerhalb und außerhalb der Universität, mit der Absicht, »Frauen zu sein und philosophisch zu denken«. … Im Lauf der Jahre hat Diotima diese Verbindungen erhalten und verstärkt und sich nicht als Eigenname einer »Gruppe« definiert, sondern als »gemeinsamer Name« einer Praxis der Beziehungen unter Frauen. Viele Frauen haben auf diese Weise am Unternehmen Diotima mitgewirkt, einige mit größerer Kontinuität, sehr viele andere in einer Beziehung der Nähe und des Dialogs, indem sie an unseren Treffen, unseren Seminaren und Büchern mitwirkten. »Diotima machen« umfasst viele und unterschiedliche Aktivitäten: Vor allem die Pflege von Beziehungen, die die Substanz unserer philosophischen und politischen Praxis ist, und von da ausgehend Treffen, Seminare, Konferenzen, Reisen, um andere Frauen und andere Ideen zu treffen, halbjährliche »Rüstzeiten« der Diskussion mit Freundinnen als Gäste, die teilweise auch von sehr weit her kommen, Aktivitäten, die mit der akademischen Lehre zusammenhängen, wie die Diplomarbeiten-Werkstatt, und der Lehre an anderen, nicht akademischen Orten. …. Aus diesen Treffen sind die meisten unserer Bücher hervorgegangen: … Alles Bücher, die wiederum andere Gelegenheiten für Begegnungen und Beziehungen an vielen verschiedenen Orten ausgelöst haben, und die in vielen Fällen übersetzt wurden, was dann wiederum Initiativen und Beziehungen hervorgebracht hat…..9

»Philosophie ist ausschließlich eine Sache der Praxis und des Handelns«10–Von sich selbst ausgehen

Das Von-sich-selbst-Ausgehen war der Weg der praktischen Philosophie, die nicht versucht, die Welt selbst zu verändern, was ein eitles Unterfangen wäre, sondern eine Veränderung meiner Beziehung zur Welt anstrebt. Und eine Veränderung meines in-der-Welt-Seins. So habe ich entdeckt, dass Selbstveränderung eine Form des Denkens ist, eine einfache, kreative Form, die täglich von den kleinen Kindern praktiziert wird. Ist das ein unabhängiges Denken? Nein. Ist es frei? Ja, es ist befreiend.11

Es geht nicht darum, jegliche soziale Interpretation der weiblichen Differenz zurück zu weisen, sondern den freien Sinn der weiblichen Differenz zu befreien und diesen auch sozial wirken zu lassen. Das Von-sich-selbst-Ausgehen … ist ein Zurückkehren zu und Ausgehen von einer Erfahrung, oder besser von einem gelebten Gelebten, mit all dem, was es an Festgelegtem enthält, und ein Ausgehen von einem Gelebten, das noch zu leben ist (das Begehren), niemals das eine ohne das andere. Die Praxis des Von-sich-selbst-Ausgehens ist die Behauptung, vom Ort der Geburt ausgehen zu können, mit all dem, was dieser an Abhängigkeit und Vorentscheidung, aber auch an Versprechen und Neuem beinhaltet. …. Wenn wir uns also in diesem Sinne in Bewegung setzen, ist die wichtigste Entdeckung die des Subjekts. Man entdeckt das Subjekt, sich selbst, nicht in der Position des Subjekts, sondern von dem aus, was es vervollständigt: Ich finde mich in der Beziehung mit anderen, bewohnt von Erinnerungen, bewegt vom Begehren. Ich finde also Wünsche, die mich in Bewegung setzen, Erinnerungen, die mich beschäftigen, andere Frauen und Männer, die zu mir sprechen.12

Es gibt einen weiblichen Konformismus, und er kann schwer auszuhalten sein. Ich gehe da nach folgenden Kriterien vor: Erstens berücksichtige ich die Urteile und die sozialen Sanktionen seitens der anderen Frauen, und zweitens weiß ich, dass berücksichtigen nicht unbedingt heißt, sich anzupassen. Wir können, manchmal müssen wir auch gegen den Strom der Frauen anschwimmen, auch der Frauen, die uns am nächsten stehen. Die grundlegende Antwort auf den weiblichen Konformismus besteht darin, den Konformismus durch ein bewusstes Gefühl der Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht zu ersetzen.13

Freiheit lehren

Eine Sache, die ich lehre, ist die Freiheit. (natürlich lehre ich sie, indem ich andere Dinge lehre). Und damit meine ich: weibliche Freiheit. Ich weiß nicht, ob es möglich ist, Freiheit zu lehren. Ich tue es, ausgehend vom Postulat einer weiblichen Liebe zur Freiheit, und ich versuche dabei immer im Kopf zu haben, dass es weibliche Freiheit gibt.

Wenn man sich die gesellschaftliche Realität ansieht, denkt man zu oft nicht an weibliche Freiheit, sondern an Emanzipation und an Sozialisation. Auch wir betrachten das Verhalten der anderen Frauen zu oft als Ergebnis von Sozialisation, anstatt zu denken: Hier ist eine Frau, die zeigt, dass sie frei ist, hier ist eine Frau, die zeigt, dass sie nicht frei ist. Sozialisierung gibt es zwar, sie ist aber keine Erklärung für das Wesentliche.

Nehmen wir zum Beispiel den Feminismus. Der Feminismus entstand durch Frauen, die im Leben ihrem Geschlecht treu bleiben wollten. Also freie Frauen. Aber in der gängigen Vorstellung wird der Feminismus als eine Bewegung von Frauen gesehen, die sich gegen Unterdrückung oder Untertanendasein auflehnen und sich mit den Männern auf eine Ebene stellen wollen, also eine Bewegung von Dienstmägden. Oder sehen wir uns an, wie Frauen aus anderen Kulturen betrachtet werden: Was uns dabei am ehesten ins Auge fällt und was wir wahrnehmen, ist nicht die Freiheit, sondern die An- oder Abwesenheit weiblicher Emanzipation wie sie im Westen praktiziert wird. In der westlichen Kultur fördert man die Integration der Frauen in die Welt der Männer und den Konkurrenzkampf zwischen den Geschlechtern, und wir begehen den Fehler, diese Dinge, ob sie nun gut oder schlecht sind, mit Zeichen der Freiheit zu verwechseln. … Aber wie soll das gehen, »Freiheit lehren«? – Per Ansteckung. Liebe zur Freiheit ist ansteckend. Die Ansteckung erfolgt aber nicht, indem man Feminismus lehrt, sondern indem wir unsere Freiheit und die der anderen lieben. Aus diesem Grund stehe ich den Kursen über Feminismus sehr misstrauisch gegenüber. … Wer wie ich den Anspruch hat, Freiheit zu lehren, muss wissen, dass man dabei einen grundlegenden Schritt nicht überspringen darf, und zwar die bewusste Entscheidung für die Freiheit. Freiheit ist nichts Selbstverständliches, sie ist nichts, was die Gesellschaft, so liberal sie auch sein mag, von sich aus den Menschen anbieten kann. Wie Simone Weil mit sehr harten Worten lehrte – die mir früher übertrieben vorkamen, heute aber nicht mehr –, produziert die Gesellschaft Konformismus und Versklavung. Zum Freisein gelangen wir durch eine bewusste Entscheidung und einen Kampf, der niemals als beendet gelten kann. Das Patriarchat ist zu Ende, aber das System der Herrschaft ist nicht zu Ende.Das Freisein zu lehren – ich sage das zum Schluss, aber es ist fundamental – bedeutet auch zu lernen, frei zu sein, Schritt für Schritt. Unsere Diskussion hier wird mir in dieser Richtung weiterhelfen.14

Den Platz des »anderen« frei halten

Ich möchte zumindest ein Hindernis nennen – ein scheinbar außergewöhnliches –, das der Bewusstwerdung über die Geschlechterdifferenz entgegensteht. Es ist die Wichtigkeit, die die Frauen der Liebe einräumen, und diese Liebe ist oft die Liebe zu einem Mann. … Ich bin zum Schluss gekommen, dass die Liebe zur Liebe, die unter den Frauen so verbreitet ist, kein Hindernis für die Freiheit darstellt, ganz im Gegenteil – aber nur unter einer Bedingung: Es muss klar sein, dass der Mann nicht den Platz Gottes einnehmen kann. Genau so spreche ich mit den Studentinnen. Ich sage zu ihnen: »Liebt soviel, wie und wen ihr wollt, aber stellt niemals einen Mann an Gottes Stelle; es kann durchaus sein, dass Gott nicht existiert, aber was ich sage, gilt trotzdem – der Platz Gottes muss leer bleiben, sonst droht euch eine Katastrophe.« Ich habe den Eindruck, dass sie das sehr gut verstehen.15

»Für die Frauen in unserer Kultur war der Platz des Anderen immer von irgendeinem anderen besetzt: Ehemann, Kinder, Vater, Lehrer, Pfarrer, Papst, Partei und so weiter. Das gilt für uns heute nicht mehr, weil DIOTIMA daran gearbeitet hat (und noch daran arbeitet), den Platz des Anderen zu befreien, ihn frei zu räumen, um so eine weibliche Suche nach der Wahrheit zu ermöglichen. Mit anderen Worten: … Den Frauen wurde und wird ein falscher Gott zur Anbetung empfohlen (der von derselben patriarchalen Kultur den Namen des Phallus bekommen hat) und eine falsche Vorstellung des eigenen Geschlechts als Mangelhaftes, als etwas, das den anderen braucht, um sich auszudrücken und etwas sagen zu können. Manchmal denke ich: Wenn es eine Hölle gibt, werden die Männer fast alle dort landen, weil sie sich den Frauen gegenüber an die Stelle Gottes gesetzt haben. Dann denke ich: Nein, es sind wir, die dort landen, weil wir uns haben täuschen lassen, um des Wohlergehens willen und für die Sicherheit, Gott in unserer Gewalt zu haben.«16

Arbeit an der symbolischen Ordnung

Was zählt, ist nicht die Wirklichkeit an sich, sondern die Wirklichkeit, die durch uns vermittelt wird, die Wirklichkeit mit dem Sinn, den wir ihr geben. Ich bin in dem Augenblick aus dem Zustand der symbolischen Minderheit herausgetreten und habe mir symbolische Kompetenz angeeignet, als die Möglichkeit einer Vermittlung in mein Leben getreten ist, die meiner eigenen Erfahrung entspricht, und zwar in Form der Praxis, sich auf andere Frauen zu beziehen. Natürlich entspricht die Vermittlung von irgendeiner beliebigen Frau nicht automatisch meinen eigenen Erfahrungen: Aber wenn ich nach einer Vermittlung suche, die meiner Erfahrung entspricht, dann gehe ich von meinem Frausein aus.17

Die symbolische Ordnung ist kein Besitz, sondern eine Qualität meiner Beziehung zur Welt, die als solche nicht verloren geht. Was mir also diese symbolische Kompetenz gibt, ist die Fähigkeit, in meinen eigenen Worten zu sprechen und den Sinn der Wirklichkeit mitzuteilen, von der ich selbst ein Teil bin. Im Zentrum der Welt zu sein bedeutet, dass wir uns darüber klar werden, dass die Welt eine Wirklichkeit ist, der bereits Sinn gegeben wurde, und dass dieser Sinn von denen gegeben wird, die das Risiko der Sinngebung eingehen. Wer das Risiko eingeht, die sich verändernde Wirklichkeit und den Sinn, nach dem die Wirklichkeit sich laufend verändert, zu interpretieren, befindet sich im Zentrum der Welt als interpretierte Wirklichkeit. Politisches Handeln verstehe ich also als symbolisches Handeln. … Der eigenen Erfahrung Sinn zu geben bedeutet, sich faktisch in die Lage zu versetzen, sie den eigenen Wünschen und Erwartungen gemäß zu verändern.18

Von der Abwesenheit profitieren

Wenn wir nun über den Ausschluss der Frauen aus der gegenwärtigen Regierung nachdenken, erheb sich die Frage: Wovon bin ich als Frau oder sind meinesgleichen genau ausgeschlossen? Wovon halte ich als Mann oder halten meinesgleichen das andere Geschlecht fern? Nicht vom politischen Leben, so wird uns bewusst, sondern von den Szenarien seines Todeskampfes, in dem sich das politische Leben immer dann befindet, wenn es sich in Bürokratie, Technologie, in einer Farce, in Geschwätz oder in Gewalttätigkeit verwandelt. Nicht vom politischen Leben, aber von den Inszenierungen um ein ständiges, zwanghaftes Sichinfragestellen der Männer in Bezug auf die Macht. Für viele ist aber genau dieses an die Stelle des politischen Lebens getreten. … Die Orte, an denen die Männer um die Macht streiten, sind nicht die Orte des politischen Lebens. Denn auch die Politik zeiht sich von dort zurück und geht zu einem Anderswo …. Politik heißt, die Hindernisse benennen, angehen und wenn möglich beseitigen zu können, die einem menschlichen Zusammenleben entgegenstehen. Politik heißt, im Bewusstsein zu haben, dass viele gesellschaftliche Konflikte unvermeidlich sind, angefangen mit denen, die man mit sich selbst hat. Politik heißt, im Bewusstsein zu haben, dass viele Konflikte unlösbar sind. … Vor allem heißt Politik aber, aus all diesen Engpässen heraus ein menschliches Zusammenleben hervorzubringen, das diejenigen, die größere und freiere Abenteuer wagen wollen, bei diesem Wagnis unterstützt, sodass dadurch auch die Grenzen politischer Vermittlung erweitert werden.19

Der Hauptgrund für die Abwesenheit der Frauen an den Orten politischer Vertretung ist meiner Meinung nach nicht so sehr der Ausschluss von Frauen, sondern die Einseitigkeit des symbolischen Spiels, das dort stattfindet. So könnte auch eine Tatsache erklärt werden, die man in fortgeschrittenen Demokratien findet, dass Frauen auch dann den Orten politischer Vertretung fernbleiben, wenn ihr Ausschluss nicht proklamiert wird. Wir suchen aber weder nach einer Ursache noch nach einer Erklärung, sondern nach einer Bedeutung. So beginnt die eigentliche Bedeutung des weiblichen Ausschlusses von den Machtpositionen dann sichtbar zu werden, wenn wir zu denken beginnen, dass es eine weibliche Abwesenheit gibt, die nicht so sehr ein Folge von eventuellen Ausschlüssen ist, sondern vielmehr einem Willen entspricht, sich dort nicht aufzuhalten.20

Ausgangspunkt: Die Frauenbewegung

»Die Frauenbewegung wurde am Ende der sechziger Jahre in den Industrieländern ins Leben gerufen, zusammen mit der bekannteren, aber weniger langlebigen Studentenbewegung. Sie entstand aus tiefen Widersprüchen der fortgeschrittenen Demokratien, fand Unterstützung durch internationale Veränderungen und wurde genährt aus einer langen, verborgenen Geschichte der weiblichen Liebe zur Freiheit. Die Frauenbewegung brachte in vielen Bereichen eigenes Wissen hervor, von der Geschichtswissenschaft und der Literaturkritik bis zu Philosophie und Theologie, von der Erkenntnistheorie bis zu Anthropologie und Soziologie, von der Rechtswissenschaft bis zu Pädagogik und Psychologie. Aber vor allem hat die Frauenbewegung das weibliche Begehren befreit und so die geschichtliche Notwendigkeit für eine Vermittlung dieses Begehrens hervorgebracht.«21

Das ist die politische Kultur der Frauen mit der Wiederaufnahme und der Kultivierung der Differenz durch den Feminismus: Die Aufmerksamkeit für das Andere, die Wertschätzung des Gesprächs, das Wissen, das daraus entsteht, dass man sich selbst verändert, die Schaffung einer Autorität, die von der Macht unabhängig ist, das Zurückweisen jeder Form von Repräsentanz, das anwesend Sein in erster Person, das von sich selbst Ausgehen… kurz – das, was wir die Politik des Symbolischen nennen.

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Diskussionsveranstaltung im Ev. Frauenbegegnungszentrum Frankfurt, 20.2.2004


  1. Luisa Muraro: Freiheit lehren. Vortrag im Juni 2002 in Arnoldshain. 

  2. Luisa Muraro: Freiheit lehren. Vortrag im Juni 2002 in Arnoldshain. 

  3. Diotima: Die Welt zur Welt bringen, S. 21f. 

  4. Diotima: Die Welt zur Welt bringen, S. 56f. 

  5. Muraro, Luisa: Freiheit lehren. Vortrag im Juni 2002 in Arnoldshain. 

  6. Muraro, Luisa: Die Menge im Herzen, Seite 17. 

  7. Muraro, Luisa: Die Menge im Herzen, Seite 17ff. 

  8. Muraro, Luisa: Die Menge im Herzen, Seite 17ff. 

  9. Diotima: Website www.diotimafilosofe.it (italienisch) 

  10. Diotima: Die Welt zur Welt bringen, S. 18. 

  11. Diotima: Die Welt zur Welt bringen, S. 21. 

  12. Diotima: Die Welt zur Welt bringen, S. 34f. 

  13. Luisa Muraro: Freiheit lehren. Vortrag im Juni 2002 in Arnoldshain. 

  14. Luisa Muraro: Freiheit lehren. Vortrag im Juni 2002 in Arnoldshain. 

  15. Luisa Muraro: Freiheit lehren. Vortrag im Juni 2002 in Arnoldshain. 

  16. Diotima: Die Welt zur Welt bringen, S. 176. 

  17. Diotima: Die Welt zur Welt bringen, S. 15. 

  18. Diotima: Die Welt zur Welt bringen, S. 15f. 

  19. Diotima: Jenseits der Gleichheit, S.163f. 

  20. Diotima: Jenseits der Gleichheit, S. 167. 

  21. Diotima: Jenseits der Gleichheit, Königstein 1999, S. 9f.