Die symbolische Ordnung der Mutter
»Es ist wichtiger, Lehrmeisterinnen zu haben, als anerkannte Rechte zu besitzen. Eine Frau braucht eine positive weibliche Autorität, wenn sie ihr Leben in einem Entwurf der Freiheit leben und darauf ihr Frausein gründen will. Der weibliche Geist ohne symbolischen Bezugsrahmen ist furchtsam. Aber Sicherheit bekommt eine Frau nicht durch Gesetze und nicht durch Rechte. Unverletzbar wird eine Frau, wenn sie ihre Existenz von sich selbst ausgehend entwirft und innerhalb sozialer weiblicher Lebenszusammenhänge Stabilität gewinnt.« (Wie weibliche Freiheit entsteht, S. 25)
Diese Passage stammt aus dem Buch »Wie weibliche Freiheit entsteht«, das italienische Feministinnen aus dem Mailänder Frauenbuchladen 1989 veröffentlicht haben – vor zwanzig Jahren also – und das Buch ist sehr wichtig auch in der deutschen Frauenbewegung geworden, wenn auch nur in Teilen. Aber hier in Wetzlar ganz bestimmt. Insofern haben wir heute also auch ein Jubiläum zu feiern.
Den Abschnitt heute wieder zu lesen zeigt aber auch, wie ungewohnt diese Gedanken immer noch sind. Vielleicht ist in der Zwischenzeit der Glaube daran, dass Rechte und Gesetze unsere Welt ordnen und zum Beispiel den Frauen zu Freiheit verhelfen können, sogar noch stärker geworden – obwohl andererseits doch auch noch viel offensichtlicher geworden ist, dass es nicht funktioniert, und zwar generell nicht, nicht nur im Hinblick auf die Freiheit der Frauen.
Wie können wir in einer solchen Welt sinnvoll handeln? Die Italienerinnen haben gesagt, indem wir die Beziehungen zwischen Frauen in den Mittelpunkt stellen, indem wir unsere Anerkennung nicht in den männlichen Institutionen suchen, sondern in einem anderen Maßstab, der sich aus den Beziehungen zwischen Frauen bildet.
Aber wie sind diese Beziehungen? Was erwarten wir von unseren Beziehungen, von den Beziehungen zu anderen Frauen? Wann halten wir sie für gelungen? Die Antwort, die die Mailänderinnen und dort besonders Luisa Muraro sagen ist: Indem wir sie in einer symbolischen Ordnung der Mutter denken. »Die Symbolische Ordnung der Mutter« ist der Titel eines ihrer Bücher, vor 15 Jahren erschienen, und Thema des heutigenAbends.
Zunächst einmal: Was ist mit »symbolische Ordnung« gemeint? Mit der Arbeit an einer neuen symbolischen Ordnung?
Die Welt ist nicht einfach ein Fakt, eine Tatsache, sondern das, was die Welt ist, hängt immer mit dem zusammen, wie sie interpretiert wird – das bildet gemeinsam die Realität. Die postmoderne Philosophie hat diesen Zusammenhang untersucht und analysiert: Während man früher, in der Moderne, dachte, dass die Fakten und Ereignisse objektiv seien und ihre Interpretation sozusagen hinterher erst kommt, hat die postmoderne Philosophie gezeigt, dass man beides nicht voneinander trennen kann: Die Realität verändert sich je nachdem, wie sie interpretiert wird.
Nehmen wir zum Beispiel das Wort Vater. Oberflächlich gesehen könnte man ja meinen, dass klar ist, was ein Vater ist, ein Mann, der ein Kind gezeugt hat. Allerdings macht es in der Realität einen großen Unterschied, ob wir uns unter »Vater« einen Mann mit großer Machtfülle vorstellen, der zu bestimmen hat, was »seine« Frau und Kinder zu tun und zu lassen haben – so war es früher, zu Zeiten des Patriarchats, oder ob wir uns unter »Vater« einen Mann vorstellen, der liebevoll und fürsorglich seinen Kindern gegenüber ist. Und je nachdem, was wir uns unter »Vater« vorstellen, wirkt sich das natürlich auf unser Verhalten den betreffenden Männern gegenüber aus, darauf, ob wir ihnen gegenüber schüchtern und vorsichtig sind, oder ob wir selbstbewusst Forderungen an sie stellen.
Die Realität, also die Welt, die wir vorfinden und innerhalb derer wir handeln, ist immer eine Mischung aus Fakten und ihrer Interpretation. Beides beeinflusst sich gegenseitig so, dass man es nicht wirklich voneinander trennen kann. Deshalb ist die »Arbeit an der symbolischen Ordnung«, eine politische Arbeit. Wenn wir über Dinge anders denken und sprechen, wenn wir sie anders interpretieren, werden wir uns notwendigerweise auch anders verhalten. Und wenn wir unsere Beziehung zur Welt verändern, dann verändert sich die Welt insgesamt. Es gibt also keine Trennung zwischen »Theorie« und »Praxis«, jedenfalls dann nicht, wenn wir ernsthaft denken und sprechen und nicht nur aus Lust an der Abstraktion, am Rechthaben oder zum Spaß.
Was bedeutet es also, Beziehungen unter Frauen – und damit die Welt insgesamt – im Rahmen einer symbolischen Ordnung der Mutter zu denken?
Luisa Muraro stellt dazu eine steile These auf: Sie sagt: Den Sinn des Seins findet eine Frau nur dann, wenn sie ihre Mutter liebt und ihr dankbar ist. Und sie sagt noch mehr: Dies ist nicht nur ein notwendiger Schritt zur weiblichen Freiheit, sondern gleichzeitig der einzige Schritt, der notwendig ist. Versuchen wir, uns diesem schwierigen Gedanken anzunähern. Nur eine Frau, die ihre Mutter lieben und ihr dankbar sein kann, ist frei. Und: Eine Frau, die ihre Mutter liebt und ihr dankbar ist, die ist frei.
Zunächst einmal ist damit keine psychologische Qualität gemeint, sondern eine symbolische. Es geht um die Struktur von Beziehungen. Es geht nicht um eine moralische Forderung in dem Sinne, dass wir die Mutter lieben müssen (so wie es ja auch die patriarchale Kultur von Kindern eingefordert hat), sondern um eine Feststellung: Wenn wir die eigene Mutter lieben, sind wir frei, finden wir den Sinn unserer Existenz.
Logisch bedeutet das etwas sehr Revolutionäres, nämlich: Wir können unsere Mutter lieben und ihr dankbar sein, auch wenn sie eine schlechte Mutter war oder ist. Denn sonst wäre es für einige Frauen ja nicht möglich, frei zu sein. Revolutionär ist der Gedanke deshalb, weil wir in unserer Kultur »Mutter« praktisch synonym denken mit »gute Mutter«. Eine schlechte Mutter ist gar keine Mutter. Das stimmt aber natürlich nicht. Jeder Mensch verdankt der eigenen Mutter das Leben. Ganz egal, was diese Mutter später an Problematischem getan hat. Die Alltagssprache hat ja auch noch diese Konnotation, wenn wir sagen: Das habe ich dir zu verdanken – das passt für etwas Gutes ebenso wie für etwas Schlechtes.
Auf diesen Aspekt, wie ich eine Mutter lieben kann, die mir viel Schlechtes getan hat, komme ich später noch einmal zurück Zunächst ist wichtig, dass es also nicht um eine einfache Gegenüberstellung gehen kann. Denn ebenso wie der Begriff »Vater« immer eine Interpretation ist, gilt dies auch für den Begriff »Mutter«. Verkürzt gesagt: Das, was wir im Patriarchat über den Begriff »Mutter« gelernt haben, ist genauso problematisch und kann nicht zum neuen Leitbild gemacht werden. Der übliche Mutterbegriff steht ebenso im Rahmen dieser falschen symbolischen Ordnung, wie der patriarchale Vaterbegriff.
Nur ein Beispiel: Während in der alten patriarchalen Logik der Vater als eine Instanz gesehen wurde, die unbestechlich und unparteiisch anhand von abstrakten Gesetzen alle gleich behandelt – was wir zum Beispiel kritisieren können, weil es ungerecht ist, insofern die Menschen unterschiedliche Bedürfnisse haben – wurde die Mutter in eben dieser alten patriarchalen Logik als eine gesehen, die sich selbst für die Kinder aufopferte, die sie gegen die Härte des Gesetzes in Schutz nimmt und so weiter. Und natürlich haben sich innerhalb dieser symbolischen Ordnung reale Väter und Mütter in Fleisch und Blut auch mehr oder weniger so verhalten, wie man es von ihnen erwartete.
Beides sind also zwei Seiten derselben Medaille. Es ist deshalb keine Lösung, die vermeintlich »gute« Mutter dem »bösen« Vater gegenüber zu stellen, sondern es geht darum, Muttersein neu zu denken. Inwiefern können wir ausgehend von der Mutter-Tochter-Beziehung eine neue symbolische Ordnung schaffen?
Muraro sagt: Indem wir die Beziehung zu unserer Mutter ins Zentrum stellen, das heißt, uns selbst als Geborene denken. Dass uns das so schwer fällt, liegt vermutlich daran, dass das Phänomen der Mutterschaft in der Regel aus der Perspektive der Mutter (und ihrer Rechte und Pflichten) angeschaut wird, und nicht aus der Perspektive des Tochter- oder Sohn-Seins. Mit dem Muttersein jedoch haben nur einige Menschen Erfahrung, nämlich diejenigen Frauen, die Kinder geboren haben. Allen Menschen gemeinsam ist hingegen die Erfahrung, von einer Frau zur Welt gebracht worden zu sein: Wir alle sind Töchter und Söhne, das heißt, wir verdanken die eigene Existenz einer ganz konkreten Frau.
Diese einfache Tatsache bedeutet, dass wir alle in einer Beziehung der Ungleichheit zur Welt gekommen sind – als Hilfsbedürftige, als Abhängige. Dies ist ein sehr großer Stachel für die patriarchale Ordnung, die ja so viel Wert auf »Unabhängigkeit« und »Autonomie« legt. Der »Self Made Man« ist ihr Ideal – dazu hat Ina Praetorius letzte Woche einen sehr schönen Text auf ihre Internetseite gestellt. Als »self made«, selbstgemacht, können wir uns aber nur verstehen, wenn wir die Tatsache, dass wir von einer Frau geboren wurden, für unbedeutend erklären und unsere existenzielle Abhängigkeit möglichst schnell überwinden und vergessen. Deshalb stellt man sich den Prozess des Erwachsenwerdens vor als Distanzierung, als Ablösung von der Mutter. Kinder sind sozusagen noch keine richtigen Menschen, weil sie ja noch nicht unabhängig sind. Und das, was die Beziehung zwischen Kindern und Müttern bedeutet, fällt aus dem normalen politischen Prozess heraus, gilt als etwas Vorpolitisches.
Symbolische Ordnung der Mutter bedeutet hingegen, die Logik dieser Situation ernst nehmen: Dass die erste menschliche Beziehung, in der wir uns auf dieser Welt vorfanden, als wir als kleine, schreiende, blutige Babys hier ankamen, die war, dass wir existenziell von einer anderen Person abhängig waren. Und zwar nicht von irgendeiner anderen Person, das weiß natürlich auch die patriarchale Ordnung, die ja ebenfalls Regularien dafür hat, wie die gegenseitige Abhängigkeit der Menschen organisiert werden soll. Nein, wir sind als Babys zunächst von einer bestimmten Person abhängig, von unserer Mutter. Das war kein bisschen gegenseitig, sondern total einseitig.
Die Frage, welche Bedeutung wir der Tatsache der Gebürtigkeit geben, in welcher »symbolischen Ordnung« wir sie interpretieren, ist natürlich unmittelbar wichtig für die Frage, wie eine Gesellschaft die Beziehungen zwischen den Generationen, zwischen Kindern und Erwachsenen gestaltet. Dafür die Mutter-Tochter-Beziehung als Ausgangspunktzu nehmen bedeutet, dass wir die Beziehungen unter uns nicht unter dem Paradigma der Gleichheit, Unabhängigkeit und Autonomie sehen, sondern überlegen, wie Beziehungen zwischen Ungleichen, zwischen solchen, die auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sind und denen, die ein Mehr haben und helfen können, so organisiert werden können, dass sie nicht zu Unterdrückung und Herrschaft führen.
Dass wir alle geboren sind, also unser Leben einer ganz bestimmten Frau aus Fleisch und Blut verdanken, deren Namen wir kennen – diese Situation in ihrer Bedeutung zu erfassen und zur Grundlage einer symbolischen Ordnung machen, hilft uns, uns in dieser Welt besser zu bewegen, also von dort ausgehend Lösungen für politische und soziale Fragen zu finden. Aber es ist eine große Herausforderung, das zu denken.
Viele Frauen sagen zum Beispiel: Ja, ich bin meiner Mutter – oder Ersatzmüttern wie den Vordenkerinnen der Frauenbewegung oder anderen wichtigen Frauen in meinem Leben – dankbar, weil sie so viel für mich getan haben, weil sie mich hier und da unterstützt haben. Es spricht natürlich gar nichts dagegen, sich mehr bewusst zu machen, wie viel wir tatsächlich inhaltlich unserer Mutter und anderen Frauen, die vor uns waren, verdanken, zumal diese Leistungen in unserer Kultur ja kleingeredet wurden. Aber es genügt nicht.
Andere, die überwiegend negative Erlebnisse mit ihrer Mutter haben, die aber sehen, dass es uns feministisch schwächt, wenn wir uns von den Müttern distanzieren, sagen: Meine Mutter hat zwar dieses und jenes nicht für mich getan, aber ich verzeihe ihr, denn sie war ja auch nur ein Kind ihrer Zeit und sie hat das beste getan, was ihr möglich war, auch wenn das nicht viel war. Aber das hilft gerade nicht, weibliche Autorität zu stärken, denn es redet die Mutter ja geradezu schwach. Es mag zwar in dem ein oder anderen Fall zutreffen, der Knackpunkt mit den Lehrmeisterinnen ist aber ja gerade, dass wir ihr Urteil auch dann wichtig finden, wenn wir nicht mit ihnen einer Meinung sind.
Beides trifft also nicht den Kern der Sache. Der Mutter dankbar zu sein, weil sie Gutes für uns getan hat oder weil sie sich trotz ihrer schweren Lebensverhältnisse immerhin angestrengt hat, das ist eine Denkfigur, die es auch im Patriarchat schon gegeben hat – man denke nur an den ganzen Muttertags-Bohei.
Die Suche nach der »guten« Mutter ist essenzieller Bestandteil des Patriarchats, denn sie ersetzt die mütterliche Autorität durch das Gesetz und universale Richtlinien. Die Debatten über Mutterschaft, die ja heute wieder verstärkt geführt werden, gingen schon immer um die Frage, was eine »gute« Mutter ist. Und zwar nicht nur bei den Konservativen, die meinen, dass Mutterschaft »wieder mehr wertgeschätzt« werden soll, sondern auch bei den anderen, die die moderne, emanzipierte Mutter wollen. Bei aller scheinbaren Unvereinbarkeit in den Positionen derer, die wieder mehr familiäre Werte unter besonderer häuslicher Verantwortung der Frauen einklagen, und jenen, die bessere Karrierechancen für Frauen, institutionalisierte Kinderbetreuung und die Gleichverteilung elterlicher Pflichten auf Frauen und Männer fordern, argumentieren beide Seiten letzten Endes mit der Nützlichkeit der Frauen für die Gesellschaft – nur dass die einen meinen, Frauen wären in der Familie, die anderen, sie wären in der Wirtschaft unabkömmlich. Und beide gehen davon aus, dass das Wohl des Kindes und die Freiheit der Mutter tendenziell miteinander im Konflikt stünden. Sie streiten nur darüber, was dem Kind mehr schadet: zu viel »Fremdbetreuung« oder zu viel »Mutterglucke«.
Auf diese Weise bewegen wir uns immer noch im Rahmen der alten patriarchalen Ordnung. Deshalb ist es auch kein Wunder, das heute versucht wird, auch die Frage der Mutterschaft und der Beziehung von Kindern und Eltern zu einer Angelegenheit von Rechten und Gesetzen zu machen. Nicht wenige erhoffen sich zum Beispiel von anderen gesetzlichen Rahmenbedingungen eine bessere Verteilung der Fürsorgearbeiten. Dabei wird oft wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Interessen von Müttern, Vätern und Kindern tendenziell gegensätzlich seien. So wird es als emanzipatorischer Fortschritt gesehen, die Rechte von Kinder gegen die der Eltern zu stärken – eine Figur, die die Emanzipation des Sohnes gegenüber dem Vater beschreiben kann, aber eben nicht die Beziehung der Mutter zur Tochter.
Besonders deutlich wird das in den Debatten über die Abtreibung. Bis heute wird darüber gestritten, was mehr zählt: das »Recht« des Kindes auf Leben oder das »Recht« der Frau auf Verweigerung der Mutterschaft? Den Körper einer schwangeren Frau juristisch aufzuteilen in zwei eigenständige »Personen« ist aber offensichtlich absurd, auch wenn es in einem Denkrahmen, der alle menschlichen Beziehungen unter einer juristischen Perspektive verstehen will, nachgerade plausibel erscheint. Was im Hinblick auf die Abtreibungsfrage in Wahrheit verhandelt wird, das ist die der weiblichen und speziell der mütterlichen Autorität: Wer entscheidet im Zweifelsfall, was getan wird? Die betreffende Frau selbst? Oder das Gesetz, die Kirche, die Ärzteschaft, die »Experten«?
Aus der Perspektive symbolischen Ordnung der Mutter ist eine Abtreibung keineswegs ein »Recht«, sondern eine (im konkreten Einzelfall meist als sehr schmerzlich empfundene) Notwendigkeit. Die Umstände sind bekanntlich nicht immer so, dass man fröhlich Kinder in die Welt setzt. Doch die Frauenbewegung argumentierte hier defensiv und behauptete zum Beispiel, dass ungeborene Kinder keine vollwertigen Menschen seien oder dass es sich bei Abtreibungen um medizinisch leichte Eingriffe handele. Auf diese Weise hat sie sich auf die Logik derer eingelassen, die Frauen die Fähigkeit zur verantwortlichen Entscheidung über ihre Schwangerschaften absprachen, und stattdessen die inneren Konflikte einer schwangeren Frau ebenfalls als juristische Angelegenheit behandelt.
Nach diesem Muster laufen heute viele Debatten ab, die das Verhältnis von Müttern und Kindern betreffen. Vordergründig wird darüber diskutiert, was gut für das Kind ist. Faktisch geht es aber immer um die Frage, wer entscheidet: die Mutter im konkreten Fall? Oder Experten und Expertinnen anhand von verallgemeinerbaren, abstrakten Maximen? Was hier zur Debatte steht, ist die mütterliche Autorität.
Die Frage, was eine »gute« Mutter ist, kam historisch nicht zufällig gleichzeitig mit den Emanzipationsbestrebungen von Frauen auf. Solange Frauen in der Familie der patriarchalen Gewalt des Mannes untergeordnet waren, hatten sie als Mütter das zu tun, was dieser wollte. Die Emanzipation der Frauen aus dieser Unterordnung unter den Ehemann hat nun aber gerade nicht dazu geführt, dass sie als verantwortliche Akteurinnen selbst darüber entscheiden, wie sie Mutterschaft im konkreten Fall leben und definieren. Vielmehr sind sie nun dem öffentlichen Mainstream verantwortlich, der irgendwie immer besser weiß, was gut für das Kind ist. In gewisser Weise könnte man sagen, dass die patriarchale Kontrolle der Mutter seitens des pater familias heute abgelöst wurde von einer gesellschaftlichen Kontrolle der Mütter durch die Gesetze und die öffentliche Meinung.
Das Problem dabei ist, dass dieses Vorgehen im Falle einer Mutter-Kind-Beziehung nicht wirklich sinnvoll ist. Denn gibt es überhaupt den einen Maßstab für Mütterlichkeit? Kann man darüber, was für ein Kind gut ist, abstrakt und allgemein diskutieren (und das Ergebnis in Gesetze gießen), oder ist das Schicksal des Kindes nicht viel zu eng mit dem der Mutter verwoben? Oder anders gefragt: Kann es einem Kind überhaupt gut gehen, wenn es gleichzeitig der Mutter schlecht geht?
Nein. Und deshalb sind die Regularien der väterlichen Ordnung – Recht und Gesetz – auch nicht passend für eine Beziehung wie die eines Kindes zur Mutter. Luisa Muraro hat in ihrem Buch gezeigt, dass sich der Blick auf gesellschaftliche Ordnungen eben grundlegend verändert, wenn man nicht das (historisch männliche) System von Recht und Gesetz zum Ausgangspunkt macht, sondern die Gebürtigkeit der Menschen. Die traditionelle Gleichsetzung von Freiheit und Unabhängigkeit in der westlichen, männlichen Philosophie, führte zu einem Verlust an mütterlicher Autorität, weil Freiheit auf diese Weise nur zu erreichen ist durch Trennung und Distanzierung von der Mutter.
Eine Tendenz, die sich zum Beispiel in der Frauenbewegung der 1970er ganz deutlich dahingehend manifestierte, dass frau alles werden wollte, nur nicht so wie die eigene Mutter. Gerade Töchter der »emanzipierten« Generation haben ja oft persönlich viel größere Probleme mit der Beziehung zu ihrer Mutter als mit der zu ihrem Vater, weil die Nachahmung des Vaters und eine Förderung durch ihn ihnen ja einen Weg in die Gesellschaft und zu Anerkennung und Karrieren versprach. Viele Frauen und gerade Feministinnen eiferten ihren Vätern nach und wollten auf keinen Fall so werden wie ihre Mutter.
Heute können auch Mütter in diesem Sinne ihren Töchtern helfen, denn Dank der Emanzipation haben sie ebenfalls Positionen und Einfluss. Aber sie tun das dann immer noch in der Logik der Väter und mithilfe ihrer Institutionen. Die symbolische Ordnung der Mutter hingegen erlaubt uns, frei zu werden, indem wir einen weiblichen Maßstab finden, der unter Umständen mit diesen Institutionen und ihren Erfolgsmaßstäben gerade nicht konform geht.
Dankbarkeit gegen die Mutter bedeutet natürlich nicht, alles richtig zu finden, was die Mutter macht und sich nach ihr zu richten, sondern sie als Autorität ernst nehmen und im Konflikt mit ihr die Beziehung weiterhin zu haben. Diana Sartori hat dies in einem Aufsatz den »mütterlichen Imperativ« genannt – also Ethik nicht wie Kant auf einem universalistisch-formalen Imperativ zu gründen (Handle stets so, dass die Maxime deiner Handlungen ein allgemeines Gesetz sein könnte), sondern in Form eines »mütterlichen« Imperativs: Handle stets so, dass ich, deine Mutter, dabei sein könnte.
Der Mutter dankbar sein, die Mutter lieben, das bedeutet, ihre Autorität und ihren Maßstab ernst zu nehmen, gerade nicht indem ich mich ihr unterwerfe wie sich Söhne ihren Vätern und ihren Gesetzen unterwerfen. Sondern der Mutter dankbar zu sein heißt, dass ich bereit bin, mich ihrem Urteil auszusetzen und mich im Konfliktfall auch mit ihr auseinanderzusetzen, um dann, gestärkt durch diese Beziehung, durch diese Bindung, eine eigene Entscheidung zu treffen. Dies ermöglicht mir Freiheit, weil dann das schlechte Gewissen weg ist.
Um es an einem eher banalen Beispiel zu illustrieren: Ich rauche, was meiner Mutter nicht gefällt. Aber ich tue es nicht heimlich, sondern offen, wissend, dass sie es nicht mag und beides bleibt nebeneinander stehen. Dies bedeutet konkret für mich Freiheit, im Vergleich zu vielen anderen Frauen, die ihre Zigaretten verstecken oder die Wohnung auf Hochglanz polieren, wenn ihre Mutter zu Besuch kommt. Sie sind unfrei sind, weil sie entweder glauben, sie müssten den Kontakt zu ihrer Mutter abbrechen, um ihren eigenen Weg gehen zu können, oder sie müssten sich ihr anpassen, also ihr Eigenes aufgeben oder vor ihr verheimlichen, was sie beides unglücklich macht. Ich hingegen habe keine Schuldgefühle, weil ich meine Zigaretten nicht verstecken muss, wenn meine Mutter zu Besuch kommt, und das macht mich frei: Ich kann tun, was ich will, solange ich bereit bin, mich ihrer Kritik auszusetzen.
Das ist anders, als die Beziehung zum Vater: Hier gilt: Sein Gesetz oder meines. Es kann nur ein Gesetz geben. Es kann nur einer König sein, der Vater oder der Sohn. Das ist ja ein alter patriarchaler Konflikt: Die Väter beherrschen die Söhne und schreiben ihnen ihre Gesetze vor, so lange, bis sie zu alt werden und die Söhne sie dann vom Thron stürzen.
Und heute natürlich auch: die Tochter. Seit der Emanzipation wird das männliche Konzept der Freiheit durch Autonomie und Unabhängigkeit auch den Frauen angeboten. Während früher von Mädchen verlangt wurde, dass sie in die Fußstapfen ihrer Mütter treten (was dann vielerlei Konflikte ausgelöst hat zwischen Töchtern und Müttern), wurde das von Söhnen nicht verlangt – hier galt die Distanzierung von den Müttern als quasi natürlicher Prozess. Sie konnten die Mütter eher lieben als die Töchter, weil sie ja niemand von ihnen verlangt hat, so zu werden wie die Mutter, ganz im Gegenteil. Heute müssen die Töchter auch nicht mehr so werden, wie die Mütter, im Gegenteil, sie werden in dem Bemühen, sich von den Lebensentwürfen der Mütter zu distanzieren, unterstützt, weil das Idealbild heute das der emanzipierten Frau ist, die es den Männern gleichtut – und nicht den unemanzipierten Frauen früherer Zeiten. Aber das schädigt die Beziehungen unter Frauen und die weibliche Genealogie.
Luisa Muraro schreibt dazu: »Manche Frauen glauben, dass es nötig ist, die Mutter anzugreifen, um ihr gegenüber autonom zu werden. Das kann der Sohn gegenüber dem Vater tun, dessen Platz er einmal einnehmen wird. Denn er greift nicht den Ursprung seines Lebens an. Für eine Frau ist das der falsche Weg, denn er löst Schuldgefühle aus, Angst vor der Vergeltung der Mutter, Selbstvorwürfe und Groll, und er eröffnet den Teufelskreis der Unfreiheit. Der richtige Weg ist dagegen der der Dankbarkeit. Dankbarkeit ist der Weg zu weiblicher Autonomie in der Beziehung zur Mutter. … Unsere Gesellschaft redet der jungen Frau ein, dass sie sich an den Mann wenden kann, um Freiheit zu gewinnen, und entbindet sie von der Dankbarkeit gegenüber der Mutter. Diese Befreiung ist eine Täuschung, denn die Frau wird ihren Mangel an Dankbarkeit ihr Leben lang mit Elementen der Unfreiheit bezahlen. (Luisa Muraro: Ein authentisches Selbstbewusstsein… in Markert: Wachsen am Mehr andere Frauen, 104)…
Weibliche Freiheit, die auf mütterlicher Autorität gründet, hat natürlich ganz offensichtlich auch ihre problematischen und schwierigen Aspekte. Das ist aber kein prinzipieller Einwand, denn bekanntlich ist die männliche Freiheit, die auf der Autonomie und Unabhängigkeit der Individuen aufbaut, ebenfalls nicht vor problematischen Aspekten gefeit. Schließlich hat sie uns in allerlei Katastrophen geführt.
Wir müssen uns durchaus mit den problematischen Aspekten der »mütterlichen Ordnung« beschäftigen, die Italienerinnen haben dem Thema ein ganzes Buch gewidmet, das »der Schatten der Mutter« heißt.
Der Punkt ist bloß, dass die Regeln und Institutionen, in deren Rahmen über die männliche Freiheit politisch verhandelt wird, nicht einfach auf Erstere übertragen werden können. Sie sind nicht geeignet, um die negativen Aspekte der Mutterbindung einzudämmen. Also zum Beispiel Gesetze, Polizei, Justiz und so weiter, die verhindern sollen, dass die männliche Freiheit zerstörerisch wird, sie können kein Maßstab für die Beurteilung der weiblichen Freiheit sein. Sie bieten keine Lösung für den Umgang mit mütterlichem Machtmissbrauch.
Ein wichtiger Unterschied dabei ist, dass in dieser Ordnung alle Menschen als gleich gedacht werden, als austauschbar. Als Geborene sind wir am Anfang des Lebens aber nicht auf irgendeine beliebige Person angewiesen, sondern auf eine bestimmte Person, die den Namen »Mutter« trägt. Wer auch immer später für das Kind sorgen mag, muss es aus dem Leib der Mutter entgegen nehmen. Es lässt sich deshalb auch nicht leugnen, dass das Geborenwerden eine enorme Machtfülle der Mutter über das Kind beinhaltet – sie hat zum Beispiel grundsätzlich die Möglichkeit, ihr Kind ganz ohne »Aufsicht« seitens der Männer oder des Staates zur Welt zu bringen. Entsprechend hilflos ist die Aufregung, die jedes Mal durch die Medien geht, wenn ein Fall von mütterlicher Vernachlässigung oder gar Kindstötung bekannt wird. Dabei zeigen diese durchaus seltenen Fälle ja nur, dass Muttersein keineswegs automatisch bedeutet, eine »gute« Mutter zu sein.
Sicher ist es richtig und sinnvoll, dass eine Gesellschaft sich darüber verständig, was eine »gute« Erziehung ist. Auch Mütter sind ja Menschen, von daher eingebunden in ein Bezugsgewebe, in Diskurse über richtig und falsch und so weiter. Aber Beziehungen unter Ungleichen, unter Abhängigen, für die die erste Matrix die Beziehung zu unserer eigenen Mutter ist, lassen sich nicht in der Logik der Gleichheit, des Gesetzes verhandeln.
Leider ist es genau das, was gegenwärtig passiert, insofern Mütter ja zunehmend aus der Welt verschwinden, weil wir nur noch von Eltern reden. So als gebe es keinen Unterschied zwischen Müttern und Väter und als ob alles austauschbar sei. Aber das verursacht mehr Probleme, als es löst. Stattdessen geht es darum, das für die Gesellschaft fruchtbar zu machen, was in der Beziehung zwischen Mutter und Kind nicht immer, doch sehr häufig längst Realität ist: Freiheit auch in Abhängigkeit und in Beziehungen zu ermöglichen, die konkrete Situation ernst zu nehmen und in ihr Lösungen zu suchen, anstatt universale Konzepte zu entwickeln, Konflikte untereinander aushandeln, ohne dabei auf einen externen Schiedsrichter zurückgreifen zu können.
Noch ein Punkt, bevor ich zum Schluss komme. Natürlich stimmt es, dass »mütterliche Aufgaben« nicht nur die leiblichen Mütter übernehmen können. Luisa Muraro zum Beispiel schreibt deshalb durchgehend von der »Mutter oder ihrem Ersatz«. »Mütterliche« Tätigkeiten im Sinne eines verantwortlichen Umgangs mit der menschlichen Ungleichheit und Hilfsbedürftigkeit können alle Erwachsenen übernehmen.
Doch in einer symbolischen Ordnung der Mutter ändert sich der Fokus: Die Frage ist nicht, ob zum Beispiel Väter ein »Recht« oder eine »Pflicht« zur aktiven Elternschaft haben, sondern ob sie faktisch für Kinder sorgen, welche Wünsche sie dafür haben und welche kreativen Vorstellungen sie dabei entwickeln.
Der Vorteil dieses Perspektivenwechsels liegt nicht nur darin, dass er die Freiheit der Frauen (und nicht ihre Nützlichkeit für andere) ins Zentrum stellt, sondern auch darin, dass die konkreten körperlichen Bedingungen des Mutterseins wieder in den Blick genommen werden können, und zwar ohne daraus biologistische Schlussfolgerungen abzuleiten. Es gibt eben nur eine einzige Person, die bei der Geburt eines Kindes auf jeden Fall dabei ist, und das ist die Mutter. Die Anwesenheit des Vaters zum Beispiel ist keineswegs selbstverständlich, schließlich sind seit der Zeugung neun Monate vergangen und in der Zwischenzeit kann viel passiert sein. Vaterschaft kann also logischerweise immer nur eine sozial vermittelte Beziehung sein, sie versteht sich niemals aufgrund des körperlichen Zeugungsaktes von selbst. Doch gerade im Hinblick auf »Väterrechte« verfolgt ein Großteil der politischen Debatten letzten Endes, und zwar ironischerweise gerade unter dem Label der »Gleichstellung«, genuin patriarchale Ziele: die mit der Befreiung der Frauen aus der häuslichen Gewalt ihrer Ehemänner brüchig gewordene Macht der Väter über Kinder auch in Zukunft zu gewährleisten und rechtlich abzusichern.
Wie Mutterschaft jeweils konkret gefüllt wird, das ist ebenso sozial und kulturell auszuhandeln, wie die Pflichten und Rechte eines Vaters. Es darf keineswegs darum gehen, in alte Klischees von Mütterlichkeit zurückzufallen oder neue Dualismen aufzustellen. Aber genauso falsch ist es, ein quasi geschlechtsneutrales Verständnis von Mutterschaft dagegen zu setzen, das vom weiblichen Körper und den konkreten Frauen, die Kinder geboren haben, völlig absieht.
Bei der Frage, welche kulturelle Bedeutung die Mutterschaft hat, geht es also nicht darum, wer die Windeln wechselt oder den Brei kocht, sondern um die viel weiter gehende Frage, wie wir Differenz denken, also die grundlegende Unterschiedlichkeit der Menschen, die sich am Anfang des Lebens so eklatant zeigt. Ob wir erkennen – und das in politisches Handeln einbeziehen – dass es Bereiche des menschlichen Zusammenlebens gibt, die sich nicht sinnvoll durch Gesetze und Moral ordnen lassen. Die Beziehung von Mutter und Kind ist dafür nur ein, allerdings grundlegendes Beispiel.
Vortrag am 2.7.2009 bei den Labyrinthwochen in Wetzlar.