siehe auch: Chiara Zamboni: Unverbrauchte Worte
Das Spiel der Muttersprache
Vom Lügen, Nachplappern, Neu-Erfinden – und der Suche nach Sinn
»Nein, ich habe noch kein Bonbon gegessen«, behauptet Jan und wartet gespannt auf meine Reaktion. Dass das nicht stimmt, sieht man ihm an der Nasenspitze an. Jan kichert. »Doch, du hast schon eins gegessen!« erwidere ich. Aus dem Kichern wird ein fröhliches Lachen. Erwischt? Nein! Es ist einfach lustig, Dinge zu sagen, die gar nicht stimmen.
Fünfjährige lügen gerne. Es ist für sie wie ein Spiel. Und zwar ein sehr spannendes, denn es hilft, das Faszinierende der Sprache zu entdecken: dass sie nie so ganz mit der Wirklichkeit übereinstimmt. »Da drüben in dem Springbrunnen, da gehe ich immer duschen«, sage ich, einem plötzlichen Impuls folgend, als ich mit Jan aus dem Haus komme. Mein Neffe, der bei mir zu Besuch ist, überlegt kurz. »Stimmt ja gar nicht, du duschst im Badezimmer!« – »Naja, manchmal dusche ich auch im Badezimmer.« – »Gar nicht manchmal, immer!« – Jan hat natürlich recht. Aber an heißen Tagen würde ich schon ab und zu gerne unter den Springbrunnen hüpfen. Ob ich’s diesen Sommer mal mache?
Sprechen ist nicht nur einfach eine Form der Kommunikation. Kommunizieren können auch Bienen oder Ameisen. Mit Hilfe von chemischen Duftstoffen übermitteln sie bis zu fünfzig verschiedene Botschaften. Auch kleine Babys kommunizieren, lange bevor sie sprechen lernen. Während die Kommunikation der Ameisen völlig eindeutig ist – ein bestimmter Geruch löst unweigerlich eine bestimmte Reaktion aus – ist die von Babys das genaue Gegenteil, nämlich »ganzheitlich«. Sie meinen immer alles auf einmal. Beide haben aber etwas gemeinsam: Sie können nicht lügen. Sie bilden die Welt eins zu eins ab. Es gibt keine Distanz zwischen dem, was ist, und dem, was ausgedrückt wird.
Zu sprechen ist immer ein Spiel: Wetten, dass?
Doch genau diese Distanz ist das Geheimnis der Sprache. Zu sprechen ist immer ein Spiel, nicht nur für Fünfjährige. Wetten, dass? Auch Erwachsene spielen mit der Wirklichkeit: Sie behaupten, interpretieren, wählen aus, färben schön, übertreiben, untertreiben, machen Witze, sind ironisch. Wer mit Kindern spricht, weiß, welchen Blödsinn man manchmal redet, spätestens dann, wenn das Kind ganz wörtlich nimmt, was doch gar nicht so gemeint war. Manchmal lassen sich beim Sprechen schöne Dinge erfinden, wie ein Bad im Springbrunnen. Manchmal plappert man aber auch nur Altbekanntes nach oder produziert Floskeln, und das ist dann todlangweilig. Manchmal sind Sätze wahr, manchmal sind Sätze falsch, und meistens stellt sich das erst hinterher raus. Doch ob so oder so: Kein gesprochener Satz der Welt bildet die Realität ab, so wie sie ist. Weil das nämlich nicht geht.
Zweijährige schätzen das ganz und gar nicht. Vielleicht ist das der Grund, warum Jans kleiner Bruder Steffen sich schlichtweg weigert, zu sprechen. Ist doch alles nur Lüge! »Gleich kommen Oma und Opa!« hatte man ihm versprochen, aber dann kam nur die Oma. Die Folge war zorniges, geradezu empörtes Geschrei. Der Opa ist krank. Aber erklär’ das mal einem, der sich weigert, von der unmittelbaren, körperlichen Kommunikation (heulen, trompeten, strampeln, spucken) auf die Ebene der Sprache zu wechseln (argumentieren, erklären, und, ja auch das: lügen).
Alle Menschen können sprechen. Auch Steffen wird irgendwann damit anfangen. Denn es ist langfristig der einzige Weg, zu kriegen, was er will. Weil seine Mutter das mit der Milch zwar noch ganz gut errät – aber ihr klar zu machen, dass es der kleine gelbe Teddy ist, der vom Regal geholt werden soll, und nicht eines der fünfzig anderen Dinge, die dort liegen, das ist einfach mühsam. Irgendwann wird Steffen einsehen, dass Worte eine echte Alternative sind. Dass das mit der Sprache funktioniert, trotz aller Missverständnisse, Lügen und sonstiger Unwägbarkeiten. Aber es ist natürlich ein Verlust: Steffen muss die Ganzheitlichkeit der vorsprachlichen Kommunikation (und damit die ganze Wahrheit, die darin liegt) eintauschen gegen die Beschränktheit der Worte.
Die Mutter bürgt für den Sinn der Worte
Die Sprache, die er dann spricht, ist die seiner Mutter, wie bei fast allen Kindern. Es heißt deshalb ganz zu Recht Muttersprache, auch wenn sich in der Fachliteratur neuerdings der Terminus Erstsprache breit macht. Die Muttersprache ist aber nicht einfach nur die erste Sprache von vielen, sondern der Anfang des Sprechens schlechthin. Und dabei geht es nicht um Vokabeln und Grammatik, sondern um viel grundlegendere Fragen: Wie lässt sich die Distanz zwischen dem gesprochenen Wort und der konkreten Realität mit Sinn füllen? Wer garantiert mir, dass das, was gesagt wird, mit dem, was ich ausdrücken will, überhaupt etwas zu tun hat? Es ist, mit anderen Worten, eine Frage des Vertrauens: Die Mutter bürgt dem Kind gegenüber dafür, dass die Worte und Sätze einen Sinn haben. Sie »bindet die Sprache an die Realität des Kindes, das Kind den Gebrauch der Worte an die Autorität der Mutter«, wie es die Philosophin Andrea Günter formuliert hat. Ohne dieses Vertrauen wären Worte nur beliebige Laute, ohne jede Bedeutung. Die Mutter kann deshalb nicht einfach durch einen x-beliebigen Lehrmeister ersetzt werden, sondern höchstens durch jemanden, der für das Kind genauso vertrauenswürdig ist.
Allerdings stimmt: Die Muttersprache allein reicht heute nicht mehr aus. Während noch unsere Groß- und Urgroßmütter oft nur ihren örtlichen Dialekt sprachen, ist in globalisierten Zeiten Mehrsprachigkeit ein Muss – Frühenglisch im Kindergarten, Französisch ab der dritten Klasse. Und warum auch nicht? Schließlich scheint die Muttersprache darunter nicht zu leiden. Der Sprachforscher Alfred Lameli vom Zentrum der deutschen Dialektforschung hat herausgefunden, dass die meisten deutschen Dialekte – und sie sind ja in der Regel die Muttersprache – erstaunlich stabil sind. Obwohl mit der Verbreitung von Radio und Fernsehen im 20. Jahrhundert das Hochdeutsche in jedes Wohnzimmer schwappte und nach und nach allgemein verbindlich wurde, leben die meisten Dialekte weiter.
Fehlerfreies Deutsch ist nicht das Wichtigste
Es ist nämlich keineswegs so, dass die Menschen eine irgendwie begrenzte Kapazität hätten, was die Anzahl der von ihnen gesprochenen Sprachen betrifft, im Gegenteil: Wer die eigene Muttersprache gut beherrscht, lernt in der Regel auch andere Sprachen leichter. Und anders herum gilt: Wem die eigene Muttersprache genommen wird, hat es sehr viel schwerer, das Spiel der Sprachen zu genießen. Diese Erfahrung musste zum Beispiel Zinnet Peken machen: Die heute 40 Jahre alte Pädagogin wuchs in einem kurdischen Bergdorf auf, aber als sie sechs Jahre alt war, verbot die türkische Regierung die kurdische Sprache. In der Schule war nur türkisch erlaubt, »wer ein kurdisches Wort sagte, bekam Prügel«. Auch in der Öffentlichkeit war Kurdisch verboten, und selbst der Vater sprach ausschließlich türkisch. »Für mich war Kurdisch im Wortsinn die Muttersprache: Ich habe sie nur mit meiner Mutter gesprochen.« Zinnet Peken hat nie die Grammatik dieser Sprache gelernt, nie erlebt, wie sich die Muttersprache bei komplexeren, abstrakten Themen anhört. »Aber es ist bis heute so, dass ich bestimmte Gefühle und Stimmungen nur in kurdisch ausdrücken kann. Ich kann sie natürlich übersetzen, aber das bedeutet dann nicht dasselbe.«
Inzwischen lebt Peken in Deutschland und spricht auch überwiegend deutsch. Nicht perfekt, aber fließend. Mit ihrer eigenen Tochter hat sie anfangs kurdisch gesprochen, ist aber bald ins Deutsche gewechselt: »Viele Sachen konnte ich in Kurdisch einfach nicht erklären. Wir haben zum Beispiel nur ein Wort für Vogel. Wie hätte ich ihr den Unterschied zwischen Elstern, Rotkehlchen und Spatzen erklären sollen?« Dabei hat sie sich keinerlei Sorgen gemacht, ihrer Tochter das Deutsche vielleicht fehlerhaft beizubringen. »Wir leben ja in Deutschland, ihr Vater ist Deutscher, da ist doch klar, dass sie das lernt. Ich verwechsele immer noch die Artikel, aber meine Tochter korrigiert mich längst.« Ihre Aufgabe als Mutter sieht Peken nicht darin, ihrer Tochter ein fehlerfreies Deutsch beizubringen, sondern das nötige Selbstbewusstsein, das Vertrauen in die eigene Herkunft. »Als Mutter bin ich verantwortlich dafür, ihr den Kontakt mit der Welt zu vermitteln. Das geht nur, wenn ich mir meiner selbst sicher bin.« Problematisch findet sie deshalb den derzeitigen Trend in der Politik, fehlerfreies Deutsch quasi zur Voraussetzung für den Schulanfang zu machen. »Viele Migrantinnen schämen sich geradezu für die eigene Sprache und Kultur. Für die Kinder ist das schädlich. Denn wenn sie nicht zu dem stehen können, wo sie her kommen, können sie sich auch nicht für die deutsche Kultur und Sprache öffnen.«
Vielen gelingt es aber dennoch, die Chancen der Mehrsprachigkeit zu nutzen: Zu wissen, dass dieselbe Realität so oder so in Worte gefasst werden kann, weitet den Blick enorm. Kinder aus Migrationsfamilien sprechen inzwischen oft deutsch und türkisch gleichermaßen perfekt, wechseln mitten im Satz mit Leichtigkeit von der einen zur anderen Sprache. Leider hat noch niemand erforscht, nach welchen Regeln sie das tun. Aber wer weiß: Vielleicht ist »Kanaksprak« die Zukunft des Deutschen? Gespickt freilich mit einer gehörigen Portion englisch, das ja in vielen Büros längst Umgangssprache ist. Wegen der internationalen Geschäftspartner macht das Sinn, sagt man uns, obwohl im Deutschen die Dinge ja eigentlich gar keinen Sinn machen , sondern einen haben . Bisher.
Bei Sprachentwicklung sind Prognosen unmöglich
Sprachen verändern sich ständig. Sie entwickeln sich auseinander oder verschmelzen miteinander – ein höchst komplexer Prozess, bei dem Voraussagen für die Zukunft nahezu unmöglich sind. Manche Wörter gehen verloren, andere kommen hinzu. In jüngster Zeit zum Beispiel das Wort googeln – es bezeichnet das Stöbern im Internet und leitet sich von der derzeit marktführenden Suchmaschine Google ab. Manche schreiben es daher auch googlen (die Schriftsprache hinkt der gesprochenen Sprache immer etwas hinterher), aber was soll’s: In ein paar Jahren können wir im Duden nachlesen, wie es richtig ist. Und wenn junge Leute bei ihren Abstimmungen über Musikstars heutzutage voten und nicht mehr wählen , dann kann man sich darüber natürlich ärgern. Man könnte aber auch darüber nachdenken, warum das Wort »wählen« solche Assoziationen von Langeweile auslöst.
Eines jedenfalls steht fest: Wer versucht, die eigene Sprache vor »Überfremdung« zu retten, kämpft auf verlorenem Posten. »Wenn Sprachen oder Dialekte gepflegt werden müssen, zeigt das nur, dass sie untergehen« weiß der Sprachforscher Lameli. Und so wird es kommen: Derzeit werden weltweit noch etwa 4000 Sprachen aktiv gesprochen, drei Viertel davon sterben voraussichtlich noch in diesem Jahrhundert aus. Das mag man bedauern, es ist aber ein unaufhaltsamer Prozess.
Nicht alle Veränderungen in der Sprache sind zudem auf ausländischen Einfluss zurückzuführen. Manche sind auch urdeutsch. So wie das neue Wort Waschbrettkopf . Was das bedeutet? Das weiß kein Mensch. Der Satiriker Wiglaf Droste ist aber schon mal von einem Gericht verurteilt worden, weil er einen Soldaten so genannt hat. Vielleicht ist das so ähnlich, wie im vertrauten Sprach-Spiel zwischen Mutter und Kind: Auch Worte, die es gar nicht gibt, können durchaus einen Sinn haben. Und andersherum gilt: Viele Worte, die im Lexikon stehen, sind oft ganz sinnlos und nichts sagend. Zum Beispiel dann, wenn ihr Bezug zur Realität nicht klar oder ganz abhanden gekommen ist. Man denke nur an all die Behördenformulare, Sonntagspredigten, akademischen Elaborate oder Politikerreden, bei denen man sich so anstrengen muss, um sie zu verstehen. Und deren Substanzlosigkeit oft erschütternd ist.
Sprechen lebt von Neuerfindungen
Sprechen ist ein schöpferischer Prozess, der von Neuerfindungen lebt. Es ist ein Spiel, das die Sprechenden untereinander und mit der Welt spielen. Entscheidend ist der Sinn des Gesagten, der – wie wir es beim Erwerb der Muttersprache gelernt haben – nicht objektiv festgelegt ist, sondern nur in der konkreten Situation entsteht: In der Beziehung zu anderen Menschen und im Vertrauen in die Fähigkeit der Sprache, einen Zugang zur Welt zu eröffnen. Wer spricht, kann etwas Wahres sagen, selbst dann, wenn die Realität noch gar nicht so weit ist. So wie die französische Psychoanalytikerin Francoise Doldo, die die Mutter eines autistischen Mädchens einmal fragte, ob es vielleicht eine Blumenpuppe möchte. Denn das Kind machte sich nichts aus allen Spielsachen, die es hatte. Kaum hatte sie das Wort ausgesprochen, hüpfte das Mädchen aufgeregt herum, und rief: »Ja, ja, eine Blumenpuppe!« »Was ist das?« fragte die Mutter erstaunt. Und Doldo antwortete: »Das weiß ich nicht, aber es ist offenbar das, was sie gern hätte.«
aus: Frauen Unterwegs, Juli/August 2004