Selbstbestimmung und Freiheit
Keynote bei der Frauenvollversammlung der Grünen, Berlin, 11. November 2017
Selbstbestimmung ist für die Geschichte der Frauenbewegung ein wichtiger Maßstab gewesen. Wie sich im Begriff der „Emanzipation“ zeigte, ging es dabei darum, sich von Zwängen zu befreien, bei denen andere über das, was Frauen zu tun und zu lassen hatten, entschieden, nämlich Väter, Ehemänner oder andere männliche „Vormünder“. Neben der Abschaffung solcher patriarchaler Zwänge ging es dann auch um die Abschaffung geschlechtsspezifischer Verbote, also Gesetzen, die Frauen Dinge untersagten, die Männern erlaubt waren, etwa an Universitäten zu studieren oder politische Ämter zu bekleiden oder jeden Beruf auszuüben.
Dass es keine besonderen Gesetze für Frauen mehr geben darf, seien sie nun Zwänge oder Verbote, ist heute weitgehend unbestritten. Schon weniger Einigkeit besteht darin, wie viel Einfluss der Staat oder die Gesellschaft darauf nehmen soll, diese theoretische Gleichheit auch praktisch zu verwirklichen. Darauf zielte die Gleichstellungspolitik ja ab: sie wollte sich nicht mit der formalen Gleichberechtigung aller Geschlechter zufrieden geben, sondern auch darüber hinaus die tatsächliche Gleichstellung verwirklichen. Mit guten Gründen, denn schon Simone de Beauvoir hatte ja in „Das andere Geschlecht“ en detail beschrieben, wie tief die Hierarchisierung von männlicher Norm und weiblicher Abweichung unsere Kultur durchdringt. Und heutige Debatten über Alltagssexismus drehen das Ganze noch etwas weiter: nicht nur handfeste Diskriminierungen, sondern kleinste, alltägliche Interaktionen sind betroffen.
Gleichstellungspolitik war von Anfang an umstritten, nicht nur bei Frauenfeinden, die ihre männlichen Privilegien sichern wollten. Sondern auch unter Feministinnen.
Denn es stellen sich dabei einige grundsätzliche Fragen, nämlich gerade solche nach der Selbstbestimmung. Gesetze legen die Grenzen und Rahmenbedingungen dessen fest, was die Einzelnen machen dürfen oder nicht machen dürfen. Es gibt feste und demokratisch legitimierte Verfahren darüber, wie sie zustande kommen. Wer legt aber fest, was darüber hinaus erwünschtes und was unerwünschtes Verhalten ist?
Klar ist: Man kann die kulturellen Veränderungen im Geschlechterverhältnis, die wir uns mit Aktionen wie #aufschrei oder #metoo wünschen, nicht gesetzlich einführen, denn sie spielen schon rein logisch eben auf einer anderen Ebene. Man kann Leute wegen Vergewaltigung vor Gericht stellen, aber nicht für Busenwitze. Trotzdem wollen wir keine Busenwitze mehr haben. Worum es an dieser Stelle geht, das ist die Frage nach kulturellen Konflikten und Differenzen, die unterhalb der Schwelle dessen abspielen, was sich durch Gesetze oder institutionalisierte Verfahrensweisen erreichen lässt.
Dies betrifft nicht nur die Veränderungen, die die Frauenbewegung bezüglich der klassischen Geschlechterkultur anregt. Die Frage der Aushandlung gesellschaftlicher Differenzen steht geradezu im Zentrum aller gegenwärtigen politischen Themen. Auch der allergrößte Teil der Konflikte, die sich zum Beispiel aus Zuwanderung nach Deutschland ergeben, spielt sich weit unterhalb der gesetzlich relevanten Ebene ab. Auch hier gilt, dass Gleichheit, die in Bezug auf Rechte so zentral ist, nicht das richtige Kriterium ist.
Gleichheit ist nur eine Idee, sie kommt in der Realität nicht vor. Was in der Realität vorkommt, sind Differenzen und Unterschiede. Die Probleme unserer Gesellschaft lösen werden nicht diejenigen, die die schönsten Gleichheitskonzepte haben, sondern diejenigen, die Wege finden, mit der Ungleichheit umzugehen. Das hat die italienische Differenzfeministin Luisa Muraro vor zwanzig Jahren gesagt, heute ist das noch viel aktueller geworden.
Gerade auch für die Frauenbewegung. Denn die Unterschiedlichkeiten bei Frauen werden immer sichtbarer, und zwar auch die Differenzen zwischen Feministinnen. Das liegt auch daran, dass sich marginalisierte Stimmen heute mehr und selbstbewusster zu Wort melden können, was nicht nur, aber auch am Internet liegt. Musliminnen widersprechen heute hörbar, wenn gesagt wird, dass religiöse Kopftücher immer und unweigerlich ein Anzeichen für Frauenunterdrückung sind. Sexarbeiterinnen widersprechen, wenn gesagt wird, dass Prostitution immer und ausschließlich ein ausbeuterisches Gewerbe ist. Hausfrauen widersprechen, wenn gesagt wird, dass Frauenemanzipation nur über Erwerbsarbeit möglich wäre. Transfrauen widersprechen, wenn gesagt wird, dass Menschen, die männlich sozialisiert sind oder einen Penis haben, keine Frauen sein könnten.
Wie hängen hier Selbstbestimmung und Freiheit zusammen?
Ich denke, es ist unfruchtbar, hier immer weiter im selben Patt herumzudiskutieren zwischen der Notwendigkeit, bestimmte Probleme strukturell anzugehen auf der einen Seite, und dem Recht der betroffenen Frauen auf Selbstbestimmung auf der anderen. Denn es ist beides richtig: Das islamische Kopftuch ist ein patriarchales Instrument und Symbol UND ein religiöses Symbol, das vielen Musliminnen wichtig ist. Sexarbeit ist faktisch zu großen Teilen ein frauenfeindliches Geschäft UND eine Erwerbsquelle, die viele Frauen wählen, weil sie im Vergleich nicht die schlechteste Option ist. Der Verzicht auf eigene Erwerbsarbeit ist ein ökonomisches Risiko und Frauen sollten sich das gut überlegen, und GLEICHZEITIG kann auch der Ausstieg aus der Erwerbsarbeit eine freie Entscheidung sein. Die biologischen Unterschiede zwischen Menschen bezüglich ihres Schwangerwerdenkönnens sind zentral für viele feministische Kämpfe UND trotzdem hängt Frausein nicht am Besitz einer Gebärmutter oder zweier X-Cromosomen.
Wenn beide Seiten recht haben, ist es falsch, Krieg zu führen. Richtig ist, dann eine neue Sichtweise zu suchen, die das Wahre an beiden Positionen beinhaltet, und das jeweils Falsche aufhebt.
Mein Vorschlag wäre, hier den Begriff der Selbstbestimmung nicht für sihc zu verwenden, sondern diese Selbstbestimmung an weiblicher Freiheit zu messen. Es ist nämlich so: Auch eine Frau, die selbstbestimmt handelt, kann unfrei sein. Selbstbestimmung alleine genügt nicht.
Die meisten Dinge, die wir tun, tun wir ja weder, weil wir sie unbedingt tun wollen, noch weil uns jemand dazu zwingt. Das meiste, was wir tun, tun wir aus Gewohnheit aus Bequemlichkeit, aus Konformismus. Ich zum Beispiel habe neulich einen Apfel gegessen, aus dem einzigen Grund, dass auf der Theke der Rezeption des Hotels, in das ich eincheckte, eine Schale mit Äpfeln stand.
„Nudging“ heißt das Fachwort dafür, Richard Taler (?) hat dafür gerade den so genannten Wirtschaftsnobelpreis bekommen: Das Verhalten von Menschen hängt sehr stark davon ab, wie die Umgebung gestaltet ist. „Verhaltensdesign“ heißt das Thalers Kollegin Iris Bohnet, deren Buch „What Works….“ Gerade auf Deutsch erschienen ist, ich empfehle es Ihnen wärmstes.
Sie untersucht darin, warum so vieles an den bisherigen Gleichstellungsbemühungen nicht gut funktioniert hat. Statt moralischer Appelle an die Beteiligten empfiehlt sie einfach, kleine Veränderungen an der Umgebung.
Eigentlich ist es natürlich eine Binsenweisheit: Wir laufen größtenteils einfach mit der Herde. Gerade in Geschlechterangelegenheiten. Und ja: Wir machen vieles davon selbstbestimmt und freiwillig. Niemand zwingt uns, niemand würde es uns verbieten, etwas anderes zu tun.
Aber bedeutet das, dass wir es in Freiheit tun? Dass wir Gewohnheitstiere und Konformistinnen sind, ist in den meisten Bereichen nicht unbedingt schlimm, wir sind kulturelle Wesen, und es ist ganz normal, dass wir nicht über alles immer auf dauernd nachdenken.
Der Feminismus lebt aber gerade davon, über das Gegebene hinaus zu gehen, nicht konformistisch zu sein, nicht das zu tun, was alle von uns erwarten. Aber genau das lässt sich eben weder mit Gesetzen, noch mit Gleichstellungsmaßnahmen erreichen. Gleichstellungsmaßnahmen sind immer per se konformistisch, weil sie sich ja an einem Mainstream orientieren, an einem Konsens dessen, was gesellschaftlich erreicht werden soll. Aber, und das ist der Witz: Die reine Betonung von Selbstbestimmung und Freiwilligkeit ist ebenfalls konformistisch, weil sie eben auf jegliche struktuelle Maßnahmen verzichtet und darauf setzt, dass die Frauen wohl schon alleine wissen, was sie wollen. Nur: So, wie wir Menschen gestrickt sind, stimmt das ganz einfach nicht. Die Menschen tun in den allermeisten Fällen einfach das, was von ihnen erwartet wird, was gerade das Bequemste ist, was sie schon immer so gemacht haben. Frauen sind da keine Ausnahme.
Das Begehren einer Frau, etwas anders zu machen, als wir es von Frauen erwarten, kann nicht über strukturelle inhaltliche Vorgaben erreicht werden, sondern nur über das, was italienische Feministinnen das weibliche Begehren nennen. Freiheit bedeutet, dem eigenen Begehren zu folgen, egal was andere davon halten. Dieses Begehren erkenne nicht nicht an der äußerlichen Handlung. Eine Frau kann Politikerin werden, weil sie unbedingt in die Politik gehen will, oder sie kann Politikerin werden, weil sie sich von ihrer Partei zu einer Kandidatur hat breitschlagen lassen. Eine Frau kann in Teilzeit arbeiten, um mehr Zeit für ihre Kinder zu haben, weil sie genau das aus voller Seele will, oder weil sie vor den Bedürfnissen ihres karrierewilligen Ehemannes kapituliert.
Ob eine Frau das, was sie tut, aus Freiheit tut, also weil es ihr eigenes Begehren, ihr eigener Wunsch ist, oder ob sie etwas tut, weil sie nicht groß drüber nachgedacht hat, weil sie Konflikte fürchtet, weil sie Erwartungen erfüllen möchte – das können wir nur im Einzelfall sehen, nur in der konkreten Beziehung mit ihr.
Feminismus hat meiner Ansicht nach die Aufgabe, die Bedingungen dafür zu verbessern, dass das weibliche Begehren eine Raum in der Welt findet. Die Welt hat auf das Begehren der Frauen nämlich nicht gewartet. Aber wir können darauf warten. Wir können es würdigen und uns darüber freuen, wenn Frauen etwas Eigenwilliges tun, wenn sie sich Rollenerwartungen und Konventionen widersetzen. Auch wenn das heißt, dass die eine dies tut und die andere jenes. Wenn es heißt, dass die eine das Kopftuch aufsetzt und die andere es absetzt. Wenn es heißt, dass die eine studiert und die eandere das Studium abbricht. Dass die eine sechs Kinder bekommt und die andere keins. Und so weiter.
Was freie Frauen verbindet ist nicht, dass sie alle dasselbe machen. Sondern dass alle das tun, was sie selbst wirklich tun wollen und nicht das, was andere von ihnen erwartet.
Und genau das ist es auch, was die Welt heute braucht: Frauen, die mit Autorität sprechen. Die sagen, was sie von der Welt halten. Die sich einmischen, weil sie etwas zu sagen haben, nicht, weil sie gelobt werden wollen. Damit Frauen auf diese Weise frei sein können, brauchen sie das entsprechende sturkturelle Umfeld, vor allem aber brauchen sie andere Frauen, die ihnen zuhören, für die ihr Wort etwas gilt, die ihre Eigenwilligkeit auch dann schätzen, wenn sie inhaltlich nicht derselben Meinung sind.
Das wäre feministische Kultur.