Antje Schrupp im Netz

Wie wohl die Luft woanders schmeckt?

Die Sehnsucht nach der Fremde und dem Abenteuer

Als ich das erste Mal verreiste, war ich fünf Jahre alt. Ich kann mich selbst nicht mehr daran erinnern, aber meine Mutter hat mir erzählt, daß der Auslöser ein kleiner schwarzer Pappkoffer war, den mein Uropa mir geschenkt hatte: Für den Fall, daß ich mal verreisen würde. Natürlich wollte ich sofort verreisen. Was außer mir alle überraschte, denn ich war eigentlich ein ängstliches Kind, eines das sich nicht auf die hohe Rutsche traut und mit Unbekannten nicht spricht. Aber nun, stolze Besitzerin eines Koffers, wollte ich sofort verreisen. Und zwar allein! Wohin sei mir egal gewesen, erinnert sich meine Mutter, aber ich bestand darauf, allein wegzufahren, ich, ein schüchternes, ängstliches Kind von fünf Jahren! Nach einigem hin und her setzte man mich schließlich in den Bus zur zwölf Kilometer entfernten Kreisstadt, wo mich meine Oma in Empfang nahm.

Sehnsucht hat für mich etwas mit Fernweh zu tun, mit Neugier auf das Fremde und Unbekannte, mit Aufbruch. Auch wenn ich mich an die Geschichte mit dem Koffer nicht mehr erinnere: Das Gefühl von Freiheit und Ernsthaftigkeit, das sich einstellte, als sich die Türen des Busses schlossen und meine winkenden Eltern hinter der Kurve verschwanden, gehört zu den lebendigsten Erinnerungen aus meiner Kindheit. Dieses Gefühl kam in meinem Leben immer wieder: Als die zwei Bücherkisten und der Kleidersack in meinem acht Quadratmeter-Zimmer im Studentenwohnheim verstaut waren und die Tür hinter mir ins Schloß fiel, zum Beispiel: Ich wohnte allein in der Stadt! Als meine Freundin, die mit ihrem Motorrad vor mir herfuhr, an der Kreuzung nach Norden abbog und mir noch ein letztes Mal zuwinkte – ihr Urlaub war zu Ende, während ich allein weiter nach Süden fuhr und noch viele Monate vor mir hatte! Als ich in São Paulo aus dem Flugzeug stieg, nur mit der vagen Hoffnung, irgendwer würde mich, ein bißchen unsicher, ob mich auch tatsächlich jemand am Flughafen abholen würde.

In der deutschen Sprache ist Sehnsucht ja ein ziemlich ungebräuchliches Wort. Es erinnert an kitschige Liebesschlager oder altertümliche Gedichte aus dem Deutschunterricht. In der Alltagssprache kann man es kaum verwenden, irgendwie wirkt es uncool. Sehnsucht zu haben – das klingt nach Verweichlichung, Abhängigkeit, lebensuntüchtiger Utopie. Als ich einen brasilianischen Freund fragte, was ihm zu dem Begriff einfällt – »saudade« gehört im Portugiesischen zum unabdingbaren Grundwortschatz – sagte er, wir Deutschen wüßten gar nicht, was das ist, Sehnsucht, wir würden immer nur von Lust reden. Der Unterschied? Lust hänge von mir selbst ab, sei eine kontrollierbare Gefühlsregung, Sehnsucht nicht. Wahrer Sehnsucht sei man ausgeliefert, sie komme von außen. Das könnten wir Deutschen, die immer alles im Griff haben wollen, gar nicht aushalten.

Und es ist ja schon wahr: Sehnsüchte werden doch häufig künstlich geweckt, um ihre Befriedigung verkaufen zu können. Die Sehnsucht nach Palmen und Sandstrand dient der Vermarktung für den nächsten Flug ins Urlaubsparadies, die Sehnsucht nach Freiheit und Abenteuer, so will man uns weismachen, lasse sich mit einem Glimmstengel der richtigen Marke befriedigen. Wer gewohnt ist, sich alles zu kaufen, erliegt leicht der Versuchung, auf die eigene Sehnsucht mit gekaufter Lustbefriedigung zu reagieren. Und wer arm in einer Gesellschaft lebt, in der andere sich immer alles kaufen können, meint schließlich, das ganze Problem liege darin, daß er sich nicht alles kaufen kann. Aber mit der Sehnsucht ist es ein bißchen komplizierter.

Sehnsucht lebt aus der Erinnerung: Irgendwann kam der Moment, als das diffuse Glücksgefühl, das das fünfjährige Mädchen im Bus erlebt hatte, wieder abklang – nach der Ankunft bei der Oma vielleicht, oder auch erst ein paar Wochen später, als die gewonnene Selbstständigkeit langsam zur Normalität geworden war. Das Gefühl von echtem, authentischem Leben geht unweigerlich vorbei: Nicht plötzlich, wie es gekommen war, sondern schleichend. Irgendwann, nach wenigen Augenblicken oder auch erst nach Monaten, stellt man fest, daß etwas fehlt – und daß man sich danach sehnt. Sehnsucht ist die Wahrnehmung von Mangel. Wer noch nie einen Aufbruch erlebt hat, kann keine Sehnsucht spüren. Am Anfang muß wohl jemand sein, der dir einen Koffer schenkt, der dich in den Bus setzt. Erst mit der Zeit wird eine Sucht daraus – du hast etwas erlebt und willst es wiederhaben!

Sehnsucht – im Italienischen »nostalgia« – ist immer auf die Vergangenheit bezogen. Sehnsucht nach dem fernen Geliebten, nach den aufregenden Tagen der Studentenzeit, nach dem Duft der Kamillenblüten auf dieser kurvigen Landstraße in Süditalien. Aber, und das ist das Paradoxe – eine Wiederholung ist nicht möglich. Der ferne Geliebte, wenn man zu ihm reist, hat inzwischen wahrscheinlich andere Interessen (wenn nicht gar eine andere Geliebte), die Kamillenblüten duften unweigerlich anders als früher, und unsere Aktivitäten der Studentenzeit kommen mir inzwischen selbst albern vor. Nicht diese Dinge an sich sind es, nach denen ich mich sehne, sondern das Gefühl von authentischem Leben, das ich spürte, als ich ihnen zum ersten Mal begegnete. Noch einmal nach Rom zu fahren, weil ich mich dort vor Jahren verliebte, wäre ebenso zwecklos, wie wieder in den Bus zu meiner Oma zu steigen.

Sehnsucht kann man weder mit Geld befriedigen, noch mit Inszenierungen. Jede Wiederholung ist ihr ein Graus. Das ist ja das Verflixte: Du sehnst dich nach etwas, aber du weißt nicht, wie du es kriegen kannst. Der Sehnsucht ist man ausgeliefert, man muß sie aushalten. Aber man kann schon nachhelfen, kann eine Befriedigung wenigstens wahrscheinlicher machen. Ich kann mich noch genau an die Situation erinnern, als mir das klar wurde. Ich saß in einem Skilift, es war herrliches Wetter, ich platzte fast vor Glück über den glitzernden Schnee und die frische Luft. Neben mir saß ein älterer Herr und sagte, offenbar etwas amüsiert über meinen Enthusiasmus, das sei ganz normal: Er führe schon seit 14 Jahren jeden Winter in diesen Ort, und noch nie sei hier um diese Zeit schlechtes Wetter gewesen. Da wußte ich: Es ist notwendig, auch das Gute aufzugeben, damit es Raum gibt für etwas anderes, etwas Neues.

Jedesmal sind die Maßstäbe beim nächsten Mal höher gesteckt. »Du bist aber auch nie mit etwas zufrieden«, wirft mir meine Freundin regelmäßig an den Kopf, wenn ich schon wieder meine Koffer packe. Sie irrt sich. Sehnsucht heißt nicht, daß ich mit dem, was ich habe, unzufrieden bin. Sehnsucht heißt, daß auch das Gute durch Wiederholung zwar nicht weniger gut, aber doch weniger aufregend wird: Die Liebe, der Job, die Wohnung, alles läuft bestens. Aber irgendwann drängt sich die Vermutung auf, da draußen in der Welt könnte noch mehr sein. Natürlich hat es auch was mit Abenteuerlust zu tun, mit lone-and-lonesome-Cowboy. Aber nicht mit Wagemut. Eigentlich bin ich nämlich noch immer genauso ängstlich wie damals als kleines Mädchen und ganz bestimmt werde ich mich niemals im Bungee-Jumping versuchen. Aber ein wenig Unbequemlichkeit ist der Preis: Die Welt läßt sich eben nicht vom Wohnzimmersessel aus erkunden, allen Fernsehprogrammen zum Trotz. Die Sehnsucht zwingt mich dazu, mit eigenen Augen zu sehen, was ist, läßt mich erkunden, wie die Luft woanders schmeckt, läßt mich fremde Sprachen büffeln, um mit den Leuten selbst reden zu können. Auch wenn ich genau weiß, daß unweigerlich auch die Angst des ersten Mals wiederkommt, das beklemmende Herzklopfen, als sich die Bustüren schlossen und die schützenden Eltern hinter der Kurve zurückblieben.

Der eigenen Sehnsucht zu folgen ist wie ein Stochern im Nebel mit einer vagen Hoffnung auf Glück und authentisches Leben. Der Aufbruch erfolgt an dem Punkt, wo die Sehnsucht stärker ist als die Sicherheit und die Befriedigung über das Erreichte. Natürlich bedeutet das ein gewisses Risiko, beunruhigt die Eltern, erstaunt die Arbeitskollegen. Doch Aufzubrechen ist kein Protest gegen ungerechte Zustände, sondern bloß die spontane Weigerung, sich an einem bestimmten Punkt von ihnen beschränken zu lassen. Aber damit sind diese Zustände vielleicht viel gründlicher in Frage gestellt, als jede theoretische Kritik es könnte. Ihre behauptete Allmacht wird ignoriert. Trotz Wohnungsmangel wird das Zimmer gekündigt, trotz unsicherer Auftragslage der Job auf Eis gelegt und der Bausparvertrag, statt in die Zukunft investiert, einfach geplündert. Und siehe da: Am Ende funktioniert es irgendwie. Wo kämen wir denn da hin, wenn das alle machen wollten?

»So gut möchte ich’s auch mal haben!« – das ist denn auch die gängige Reaktion der anderen. So als hätte ich eben im Lotto gewonnen und das alles wäre ein Zuckerschlecken. Ist es nicht. Natürlich habe ich Angst vor dem Unbekannten, Angst, daß mir das Geld ausgeht, Angst vor der Einsamkeit. Natürlich habe ich Panik gekriegt, als mir das vollbepackte Motorrad mitten auf der Umgehungsstraße von Neapel liegenblieb, natürlich hing mir die ewige Pizza-aus-der-Hand zum Hals raus. Und dutzende Male wäre ich vor Scham am liebsten in den Boden versunken, weil ich mich schon wieder irgendwo daneben benommen hatte. Hätte ich nicht diese Erinnerung an vergangene Glücksmomente, wäre ich nicht von dieser Sehnsucht getrieben, die mir eigentlich gar keine Wahl läßt – ich würde vermutlich auch lieber zuhause bleiben.

Aber was ist es, das mich treibt? Die italienische Philosophin Chiara Zamboni hat die Sehnsucht einmal als einen Weg der Offenbarung charakterisiert. »Desiderio« – Begierde, Wunsch, Sehnsucht – sei eine Fähigkeit der Seele, Momente der Qualität wahrzunehmen und ihnen immer wieder nachzustreben. So gesehen wäre Sehnsucht nicht einfach eine individuelle Wertsetzung, sozusagen mein subjektives Streben, sondern eine Möglichkeit, transzendente, sogar göttliche Maßstäbe und Werte zu erkennen und sich an ihnen zu orientieren. Manche würden sagen, das ist eine ziemlich pathetische Interpretation für die schlichte Tatsache, daß ich eben einfach nur gerne in der Welt herumreise. Wer selbst Sehnsucht hat, wird aber den Unterschied kennen: Manchmal hat man einfach banale Lust, etwas zu machen, aber manchmal verspürt man auch echte Sehnsucht, etwas, das stärker ist, als man selbst. Die Seele, sagt Chiara Zamboni, ist empfänglich für Momente, die objektiv qualitätvoll sind. Sie ist nicht Spiegel unserer Subjektivität, sondern gewissermaßen ein Sinnesorgan, das Täuschungen und Inszenierungen entlarvt und wahre Qualität zu erkennen vermag, wenn sie ihr begegnet. Das trifft sich wieder mit der Feststellung meines Freundes, die Sehnsucht komme von außen, sei nicht vom eigenen Willen beeinflußbar. Wenn die einmal erlebte Qualität fehlt, und zwar nicht nur im subjektiven Empfinden, sondern objektiv in der Welt, dann entsteht Sehnsucht.

Echte Sehnsucht, die sich aus der persönlichen Erfahrung authentischen Lebens und befriedigenden Beziehungen speist, wäre dann sogar subversiv: Weil sie auf die Sicherheit des Wohlfahrtsstaates pfeift und über die hohlen Glücksversprechen des kapitalistischen Marktes lacht. Weil die Sehnsucht die Menschen drängt, ja süchtig macht, zumindest hin und wieder nicht das zu tun, was sie nach Maßgabe der makabren Werten von Leistung und Käuflichkeit tun sollten, sondern einfach das, was ihnen selbst, aufgrund ihrer eigenen authentischen Erfahrung als richtig erscheint. Und zwar gar nicht wegen der Moral, sondern aus purem Egoismus, was es leichter, angenehmer und möglicherweise sogar ansteckend macht. Die Sehnsucht treibt uns dazu, wagemutig und neugierig zu sein und uns nicht von leeren Versprechungen oder hohlen Ersatzbefriedigungen einlullen zu lassen. Sie ist subversiv, weil sie uns dazu treibt, nicht alles zu glauben und nachzubeten, sondern hinzugehen und die Welt selber zu entdecken – allen Neidern, Kopfschüttlern, Ängstlichen und Angepaßten zum Trotz. Je mehr ich mit eigenen Augen gesehen, mit eigenen Händen gefühlt, mit eigenen Ohren gehört habe, desto weniger lasse ich mich von der offiziellen Rhetorik der Mächtigen beeindrucken. Wer mag, kann darin einen Trick Gottes sehen, sich in der Welt Gehör zu verschaffen.


aus: Norbert Sommer (Hg.): Von der Sehnsucht – Entwürfe, Wichern-Verlag, Berlin 1999.