Bücher, die ich 2008 gelesen habe
Charlotte Roche: Feuchtgebiete
In diesem Jahr gehörte, was nicht so oft vorkommt, ein echter Bestseller zu meiner Lektüre: »Feuchtgebiete« von Charlotte Roche. Es war in Deutschland das Skandalbuch des Jahres. Die junge Autorin, eine bekannte Fernsehmoderatorin, erzählt darin die Geschichte der 18-jährigen Helen, die im Krankenhaus liegt, weil sie sich bei der Intimrasur eine Analfissur zugezogen hat – mit voller Absicht, weil sie darauf hofft, dass ihre geschiedenen Eltern sich am Krankenbett der Tochter wieder zusammenfinden. In diese Rahmenhandlung eingebettet bricht Roche so ziemlich jedes Tabu rund um den weiblichen Körper: Die Leserin erhält unter anderem eine genaue Anleitung zur Masturbation mit Hilfe eines Duschkopfs, oder sie erfährt, wie Helen gegen die Sterilität des Krankenhauses protestiert, indem sie ihre gebrauchten Tampons auf Fensterbänken oder in Aufzügen deponiert. Roche will Frauen anregen, lustvoll und selbstbewusst mit ihrem Körper und seinen Ausscheidungen umzugehen, die bisher vor allem als ekelerregend angesehen werden.
Ein renommierter Verlag hatte das Manuskript als zu pornografisch abgelehnt und sich später sicherlich geärgert, als das Buch in kurzer Zeit 500.000 Mal verkauft war. Wie lässt sich dieser große Erfolg erklären? Und was ist davon zu halten? Dorothee Markert hat in unserem Internetforum »Beziehungsweise Weiterdenken« eine zwiespältige Bilanz gezogen. Es sei eine »Provokation gegenüber einer feministischen Müttergeneration, dass die junge Frau ‚Ficken’ als ihr Hobby bezeichnet, dass sie ständig ‚geil’ ist, dass sie sich so darstellt, als entspreche Sex als Spiel mit möglichst abgedrehten Variationen, ohne Beziehung und Bindung, ihrem eigenen Lustempfinden. Als sei das, was Feministinnen einst als Anpassung und Unterwerfung unter männliche Sexwünsche angeprangert hatten, in Wirklichkeit auch befreites weibliches Sexualverhalten.« Und Markert stellt die Frage: »Was könnten sich Männer mehr wünschen, als dass Frauen sich nicht nur notgedrungen oder ihnen zuliebe an ihre diesbezüglichen sexuellen Wünsche anpassen, wie es bisher vor allem Prostituierte für einen erhöhten Preis taten, sondern dass sie dies als ihr ureigenstes Bedürfnis darstellen oder gar erleben? Dass die Geschlechterdifferenz also auch in diesem Bereich endlich keine Probleme mehr verursacht?« (http://www.bzw-weiterdenken.de/artikel-7-117.htm)
Dass das Buch einen Konflikt zwischen älteren und jüngeren Frauengenerationen offenlegt, würde ich auch sagen. Charlotte Roche erzählt in ihren Fernsehauftritten häufig von ihrer Mutter, die sie feministisch erzogen habe und der sie dafür dankbar sei. Allerdings sagte sie in einer Talkshow auch, dass sie nicht will, dass ihre Mutter dieses Buch liest. Leider hat der Moderator nicht nachgefragt, warum sie das nicht wünscht – er schien das selbstverständlich zu finden. Wahrscheinlich eilt den »älteren Feministinnen« einfach grundsätzlich der Ruf voraus, entweder sowieso etwas gegen lustvollen Sex zu haben oder aber zumindest zu glauben, dass dies zwischen Frauen und Männern nicht möglich sei.
Mich hätte also interessiert, ob Roches Mutter das Buch gelesen hat (was ich doch vermute), und wie sich die beiden darüber unterhalten haben. Ich habe das Buch jedenfalls nicht als Unterwerfung und Anpassung weiblicher Sexualität an die Wünsche von Männern gelesen. Zum Beispiel gibt es eine Stelle, an der Helen sich überlegt, ob sie sich die Haare waschen soll, weil sie sich in einen Krankenpfleger verliebt hat. Sie entscheidet sich dagegen, weil sie meint, er soll sich ruhig gleich daran gewöhnen, wie sie mit ungewaschenen Haaren aussieht. Das finde ich sehr sympathisch. Andererseits habe ich mich gefragt, ob darin – wie in Roches Unterfangen überhaupt – nicht auch so etwas wie »weiblicher Größenwahn« (wie Andrea Günter es einmal formuliert hat) zum Ausdruck kommt: Denn das Happy End sieht so aus, dass jener Krankenpfleger Helen mit zu sich nach Hause nimmt – and they lived happily ever after – bloß dass völlig unklar ist, warum . Was er, oder Männer überhaupt, wollen und wünschen, spielt in Helens Gedanken überhaupt keine Rolle.
Und so gesehen stimmt Dorothee Markerts Analyse dann doch, dass in diesem Buch – und seinem riesigen Erfolg – sich auch die Hoffnung vieler junger Frauen spiegelt, die Geschlechterdifferenz möge doch bitte keine Probleme mehr machen. Allerdings nicht, weil die Frauen sich unterwerfen (was sie heute nicht mehr tun), sondern weil sie sich der Illusion hingeben, dass die Männer gar keinen eigenen Willen mehr hätten, mit dem es Konflikte geben könnte.
Christina von Braun, Bettina Mathes: Verschleierte Wirklichkeit
Mit großem Gewinn habe ich außerdem die Studie »Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen« gelesen. Die beiden Kulturwissenschaftlerinnen Christina von Braun und Bettina Mathes untersuchen darin die wechselseitige Interpretationsgeschichte von Orient und Okzident, das »Dazwischen«, die »Art, wie sich die Annahmen der einen Seite mit denen der anderen verbinden«.
Ich wusste nicht, dass die Wurzeln der westlichen Selbstbeauftragung, die »Emanzipation« der Frauen in den Orient zu exportieren, so weit in die Geschichte zurück reichen: Zum Beispiel betrieb schon Lord Cromer, der im 19. Jahrhundert britischer Generalkonsul in Ägypten war, die Entschleierung der ägyptischen Frauen, weil er in dieser Kleiderordnung ein maßgebliches Zeichen für die orientalische Rückständigkeit sah. Das hielt ihn aber nicht davon ab, gleichzeitig in England eine »Männerliga gegen die Einführung des Frauenstimmrechtes« zu gründen.
Dass der westliche Drang zur »Entschleierung« aufs Engste mit einer Kulturgeschichte zusammenhängt, die sich die »Entdeckung« und Erforschung sämtlicher Geheimnisse zur Aufgabe gemacht hat, sei es in der Naturwissenschaft, der Kunst oder der Philosophie, wird an vielerlei Phänomenen gezeigt. Und so erscheint auch die gegenwärtige »Kopftuchdebatte« in einem neuen Licht, wenn man bedenkt, wie eng im westlichen Denken Weiblichkeit verknüpft war mit jener »unberührten Natur«, die es zu enträtseln, zu durchleuchten und letztlich auch zu unterwerfen galt. Es ist einleuchtend, dass die Enthüllung des weiblichen Körpers zum zwingenden Anliegen einer Kultur wurde, die sich eine barbusige Marianne auf den Barrikaden zum Sinnbild ihrer aufklärerischen Haltung erkoren hat.
Braun und Matthes zeigen, dass der Westen in vielem, was er dem Orient vorwirft, letztlich sich selbst kritisiert: In den arrangierten Ehen mancher muslimischer Kulturen kritisiert er die eigene Vergangenheit der »Versorgerehe«, in der religiös begründeten Geschlechtertrennung des Islam die eigene bürgerliche Kulturtradition der »seperate spheres«. Das Problem dabei ist, dass solche Projektionen an der Oberfläche bleiben, auf der Ebene der Symptome, und damit einen realistischen Zugang zu einem Verständnis orientalischer Kulturen verstellen.
Eine Folge dieser Doppelbödigkeit ist der mitleidige und etwas herablassende Gestus, den viele westliche Frauen Musliminnen gegenüber an den Tag legen – und auch das schon seit Jahrhunderten. Der Blick auf die (vermuteten) Leiden der fremden Frauen ließ westlichen Frauen schon immer die eigene Situation erträglicher erscheinen, was in den Zeugnissen weiblicher Orientreisender im 19. Jahrhundert sehr deutlich wird. Allerdings suggeriert das Symbol der unemanzipierten »Kopftuchfrau« eine Gesichtslosigkeit und Austauschbarkeit der muslimischen Frau, die es nahezu unmöglich macht, ihre tatsächlich vorhandene Individualität zu sehen – wodurch das westliche Projekt letztlich seine eigenen Ziele, nämlich eine aufgeklärte, das Individuum respektierende Welt zu schaffen, konterkariert.
Was mir in dem Buch fehlte, war ein Hinweis darauf, dass Frauen diese Klippen heute schon an vielen Stellen vermeiden. Der interkulturelle Dialog zwischen Christinnen und Musliminnen oder zwischen deutschen Frauen und Migrantinnen wird, vor allem auf lokaler und regionaler Ebene, längst sehr viel differenzierter geführt als in den Medien oder den von Männern dominierten »Islamkonferenzen« oder ähnlichen Kreisen. Ich vermute, dass hier bereits eine neue politische Praxis wirksam ist, der es zumindest teilweise bereits gelingt, die alten Stereotypen zu überwinden.
Charlotte Roche: Feuchtgebiete. Roman. DuMont Buchverlag, Köln 2008.
Verena Stefan: Fremdschläfer
Das dritte Buch, das ich hier erwähnen möchte, ist wieder ein Roman, und zwar »Fremdschläfer« von Verena Stefan. Verena Stefan ist eine wichtige Person der deutschsprachigen Frauenbewegung der 1970er Jahre, ihr damals erschienenes Buch »Häutungen« steht sozusagen in jedem feministischen Bücherschrank. Ich glaube, es ist auch in andere Sprachen übersetzt worden. Inzwischen lebt Verena Stefan, eine gebürtige Schweizerin, in Kanada. Als ich hörte, dass sie ein neues Buch geschrieben hat, war ich zunächst skeptisch, denn mir hatte »Häutungen« nicht gefallen – die darin geschilderten mühsamen Schritte zur Selbstbefreiung einer Frau konnte ich nicht nachvollziehen (wahrscheinlich, weil ich zu einer anderen Generation gehöre).
Mit dem neuen Buch war es dann aber ganz anders. Ich las es auf einen Rutsch durch. »Fremdschläfer« ist – wie ja auch der Titel schon sagt – eine Analyse oder besser: eine Schilderung des Fremdseins («Fremdschläfer« sind im Bürokratendeutsch der Schweiz Asylsuchende, die an einem anderen Schlafplatz als dem offiziell zugewiesenen übernachten). Verena Stefan schildert drei Fremdheitszustände, die miteinander verwoben sind: Die Fremdheit der Migrantin (die Protagonistin ist, wie Verena Stefan selbst, eine Schweizerin, die in Kanada lebt). Dann die Fremdheit des eigenen Körpers, in dem ein Brustkrebs wächst. Und schließlich die immer wieder aufscheinende Fremdheit in den Beziehungen, und zwar gerade auch den gelingenden: In diesem Fall vor allem zur Geliebten, die nämlich weder Migrantin noch krank ist, sondern Kanadierin und gesund. Diesen Aspekt fand ich den Spannendsten: Wie es nicht mit dem Fremdsein als solchem getan ist, sondern das Fremdsein auch unweigerlich zu einer Entfremdung führt (oder mindestens Momenten der Entfremdung) zwischen denen, die fremd sind, und denen, die es nicht sind. Auch dann, wenn beide sich lieben.
Verena Stefan ist eine gute Beobachterin von Details, die sie in ihrer knappen, schnörkellosen Sprache schildert, sodass man ständig den Eindruck hat, man ist dabei (oder gar, man hätte diese oder jene Situation auch schon mal erlebt). Wobei das Wo-Sein des Dabeiseins genau genommen das Innere der Erzählerin ist. Sie spricht nämlich das ganze Buch über zu sich selbst, so als würde sie sich selbst ihre eigene Geschichte erzählen («Unwillkürlich hebst du die Arme an, als möchtest du etwas willkommen heißen.«)
Das Leben wäre also zu sehen als etwas, das du dir selbst erzählen musst, um es zu verstehen, denn die anderen verstehen es nicht, oder jedenfalls kannst du dir dessen nicht sicher sein: Beziehungen, Lieben und geliebt Werden, das alles ist hilfreich, sogar notwendig, um das zu überstehen (und ja nicht nur dafür). Aber es hebt den Sachverhalt des Fremdseins und der Differenz als solchen nicht auf.
Verena Stefan: Fremdschläfer. Amman Verlag, Zürich 2007
Andrea Günter: Vätern einen Platz geben
Andrea Günter bringt in ihrem neuen Büchlein »Vätern einen Platz geben« die Sichtweise der Geschlechterdifferenz in einen derzeit sehr virulenten Diskurs einbringt: Den über die so genannten »neuen Väter«. Das Thema ist aktuell, seit Bundeskanzlerin Angela Merkel und Familienministerin Ursula von der Leyen angefangen haben, alle möglichen Gesetze mit dem Ziel einer besseren »Vereinbarkeit von Beruf und Familie« zu verändern. Ihr dezidiertes Ziel, wie das fast aller Frauenpolitikerinnen in Deutschland, ist es (auch angesichts eines drohenden Fachkräftemangels in der Wirtschaft) mehr qualifizierte Frauen in die Erwerbsarbeit zu bringen – und das zu ermöglichen, indem mehr Väter Aufgaben in der Kindererziehung übernehmen.
Andrea Günter weist nun darauf hin, dass Vaterschaft nichts ist, was sich einfach von selbst versteht, sondern eine soziale Rolle, die gesellschaftlich verhandelt werden muss. Väter sind nicht einfach eine männliche Variante von Müttern, denn die zeitliche und unter Umständen auch räumliche Distanz zwischen Zeugung und Geburt kann nicht einfach ignoriert werden: Bei der Zeugung sind immer beide, Vater und Mutter, zugegen, bei der Geburt hingegen ist »der Vater nur dann anwesend, wenn die Mutter die Beziehung zu ihm stiftet«, wie Günter schreibt. Die Geburt »ist nicht nur biologisches Geschehen, sondern das soziale Moment, das Elternschaft begründet. Sie zeigt die vielfältigen sozialen Bezüge und Interessen an, die eine Frau als Gebärende gestalten kann.«
Angesichts einer teilweise sehr aggressiven antifeministischen Politik mancher »Väterorganisationen«, die auf die väterlichen »Rechte« pochen, indem sie Interessenspolitik gegen Mütter betreiben, drängt sich für Andrea Günter der Eindruck auf, dass Väter nun Mittel gefunden hätten, alte »Vaterrechte« auf neuen Wegen zu stabilisieren. Tatsächlich kann die Rhetorik der Gleichheit – etwa in der pauschalen Behauptung »Kinder brauchen beide Eltern« – zu einer realen wie symbolischen Unterordnung des Weiblichen unter das Männliche führen. Familienberaterinnen berichten inzwischen von vielen konkreten und teilweise haarsträubende Beispielen, die deutlich machen, dass tatsächlich die Untergrabung der mütterlichen Autorität ein Kernpunkt derzeitiger Praxis ist: Etwa wenn, wie in einem (wenn auch extremen) Fall tatsächlich geschehen, per Gericht das alleinige Sorgerecht einem in den USA lebenden Vater zugesprochen wird, während die Mutter weiterhin die Pflicht hat, die Kinder in Deutschland zu versorgen. Oder wenn bei Kindern, die sich gegen eine Begegnung mit ihren biologischen Vätern sträuben, pauschal davon ausgegangen wird, dass die Mütter sie in dieser Hinsicht manipuliert hätten – und das sogar in Fällen, wo die Väter nachweislich zuvor gewalttätig geworden waren.
Obwohl der Versuch, Väter zur Erziehungsarbeit zu bewegen, indem man ihre »Rechte« auf Kosten der Mütter stärkt, bislang nur mäßig erfolgreich ist, ist die Zustimmung dazu auch seitens von Frauenpolitikerinnen oder »linken« Medien groß. Es ist daher gut, dass Andrea Günter in ihrem Büchlein konfrontative Argumentationen vermeidet und die Debatte sachlich und nüchtern führt. Sie setzt darauf, dass Frauen trotz allem »neue Wege und Sprechweisen finden, Schwangerschaften einzubringen und Vaterschaften zu bezeugen.«
Andrea Günter: Vätern einen Platz geben. Aufgabe für Frauen und Männer. Christel Göttert-Verlag, Rüsselsheim 2007
Bibel in gerechter Sprache
Und schließlich habe ich im vergangenen Jahr wieder häufig in einem alten ganz alten Buch gelesen: der Bibel. Sie ist nämlich vor kurzem in einer neuen deutschen Übersetzung erschienen, als so genannte »Bibel in gerechter Sprache«. Über fünfzig Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (deutlich mehr Frauen als Männer) hatten jahrelang an einer neuen Übersetzung der hebräischen und griechischen Urtexte gearbeitet – darunter eine ganze Reihe Freundinnen von mir. Und das Ergebnis gefällt mir so gut, dass ich jetzt immer mal wieder in dem dicken Buch lese, die neue Übersetzung mit anderen vergleiche und allerlei Neues entdecke.
Anders als die traditionellen Bibelübersetzungen macht die »neue Bibel« (wie wir sie manchmal scherzhaft nennen), die eigenen Perspektiven und Vorannahmen ihrer Textinterpretation transparent, und das sind vor allem die Erkenntnisse der feministischen Theologie und des christlich-jüdischen Dialogs. Schon lange sind viele kirchlich aktive Frauen unzufrieden mit den herkömmlichen Bibelübersetzungen. Teilweise hatten sie bereits neue Übersetzungen wichtiger Texte angefertigt. Im Lauf der Zeit überzeugten sie Kirchengremien (vor allem evangelische) und Geldgeber, dass es gut wäre, die ganze Bibel noch einmal neu und wissenschaftlich fundiert zu übersetzen.
Zwar enthalten auch die herkömmlichen Übersetzungen inzwischen keine echten Übersetzungsfehler mehr (wie etwa den, dass aus der Apostelin Junia jahrhundertelang der Apostel Junias geworden war). Sie übertragen die Bibel aber sehr eng am Urtext. Das heißt zum Beispiel, dass immer eine männliche Form verwendet wird und Frauen »mitgemeint« sind. Die neue Übersetzung spricht nun zum Beispiel von »Jüngerinnen und Jüngern« oder von »pharisäischen Männern und Frauen« – außer wenn an der betreffenden Stelle tatsächlich nur Männer gemeint sind, was im Einzelnen natürlich genaue historische Forschung erforderlich machte. Waren zum Beispiel bei der Gerichtsverhandlung gegen
Jesus nur Männer oder auch Frauen anwesend? Es ist schon interessant, so etwas zu wissen.
In der religiösen Praxis sind außerdem manche Worte schlicht und einfach unbrauchbar geworden, etwa die ständige Bezeichnung Gottes als »Herr«. Auch wenn dies die wörtlich richtige Übersetzung sein mag, so bedeutete das Wort doch in der Antike etwas ganz anderes als heute. Damals wurden als »Herren« nur Herrschende und Machthaber bezeichnet, die Bezeugung von Gott oder Jesus als »Herr« relativierte also einen weltlichen Machtanspruch. Inzwischen ist »Herr« aber zur Anrede für jeden beliebigen Mann geworden. Sollen wir ernsthaft zu einem »Herrgott« beten, der sich rein sprachlich gar nicht mehr von »Herr Schmidt« unterscheidet? Die neue Übersetzung löst das Problem, indem sie für den unaussprechlichen Gottesnamen in der hebräischen Bibel (also JHWH) unterschiedliche Umschreibungen vorschlägt: Neben dem klassischen »Herr« oder dem schlichten »Gott« zum Beispiel auch »die Lebendige« oder »der Ewige«. Die betreffenden Stellen sind im Text markiert, so dass die Leserin jeweils die Übertragung auswählen kann, die sie möchte.
Die außerkirchliche Öffentlichkeit hat die neue Bibelübersetzung weitgehend negativ aufgenommen, viele Feuilletons fanden das Projekt geradezu absurd. Es wurde deutlich, dass in den letzten Jahrzehnten eine tiefe Kluft entstanden ist zwischen dem konventionellen Mainstream-Denken in den Medien und der neuen religiösen und spirituellen Praxis, die Frauen in den Kirchen eingeführt haben und für die sie durchaus auch schon zahlreiche Männer interessieren konnten. Jedenfalls spricht der Erfolg der »Bibel in gerechter Sprache« für sich: Nach nur wenigen Wochen war die in der dritten Auflage und es wird landauf, landab eifrig mit ihr gearbeitet.
Ulrike Bail u.a. (Hg): Bibel in gerechter Sprache, Gütersloh 2006.
Erschienen in Online-Zeitung «Per amore del Mondo« der italienischen Philosophinnengemeinschaft Diotima, estate 2009.