Risiko und Sicherheit: Zur Diskussion um die Sicherheit in Atomkraftwerken
Bitter wurde der Welt die Erkenntnis aufgezwungen, dass auch Dinge geschehen, die sehr, sehr unwahrscheinlich sind. Statistisch war ja nicht davon auszugehen, dass sich in Japan solche gewaltigen Atomunfälle ereignen würden. Doch die Realität, sie schert sich nicht um Wahrscheinlichkeitsrechnungen.
Der Schock über die Katastrophe sitzt mir – wie wohl vielen – in den Knochen. Nicht, dass ich wirklich überrascht war: Die Risiken der Atomkraft sind schließlich seit langem bekannt. Es war klar, das so etwas passieren könnte. Aber weil es eben sehr, sehr unwahrscheinlich war, haben wir es drauf ankommen lassen.
Jetzt werden die Risiken neu berechnet. In der Schweiz sollen Atomkraftwerke einem „Stresstest“ unterzogen werden. Doch wozu? Das Ergebnis steht ja längst fest: Es wird lauten, dass ein ähnlicher Unfall sehr, sehr unwahrscheinlich ist. Aber eben nicht unmöglich. Null Risiko gibt es bei dieser Technologie nicht, das weiß man auch ohne Prüfung.
Die Frage, die sich angesichts der Katastrophe von Japan stellt, ist keine technologische, sondern eine politische: Betreiben wir weiterhin Atomkraftwerke, weil wir uns den billigen und klimafreundlichen Strom nicht entgehen lassen wollen? Oder verzichten wir darauf, weil das nun mal die einzige Möglichkeit ist, solche Unfälle hundertprozentig auszuschließen?
Eine der Grundannahmen, auf denen moderne Gesellschaften aufgebaut sind, lautet, dass Risiko und Sicherheit Gegenpole seien: „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.“ Weil aber die Menschen auch ein verständliches Bedürfnis nach Sicherheit haben, so die allgemeine Überzeugung, müsse beides halbwegs vernünftig gegeneinander ausbalanciert werden.
Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler zeigt in dem Sammelband „Sicherheit und Risiko. Über den Umgang mit Gefahr im 21. Jahrhundert“, dass diese Weltsicht nicht naturgegeben ist, sondern einen historischen Entstehungspunkt hat: Erst im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit hat sich die Sichtweise auf Gefahren entsprechend verschoben – weg von dem „die Sicherheit der Burg verlassenden und in die Welt hinausziehenden Ritter“, der sich bedingungslos für eine gute Sache (oder was er dafür hält) in Gefahr begibt, hin zum „Risikokalkül des Kaufmanns“, der das Wagnis „durch Berechnung zähmt“ und nur dann investiert, wenn er sich davon Gewinne verspricht.
Diese Uminterpretation von realen Gefahren in statistische Risiken war allerdings nur möglich, indem von den zwischenmenschlichen Beziehungen abstrahiert wurde: Der Kaufmann, der fünf Schiffe von Indien nach Europa schickt, weil er exotische Gewürze mit Gewinn verkaufen will, riskiert den Verlust seines Vermögens, weil die Schiffe auch untergehen können. Deshalb schließt er eine „Versicherung“ ab. Nur: Für die Seeleute ist die Havarie nach wie vor kein Risiko, sondern eine reelle Gefahr. Geht das Schiff unter, sind sie zu hundert Prozent tot.
Der Kaufmann aber betrauert sie nicht als Opfer, sondern verbucht sie als Verluste. Ebenso wie jetzt die Atomindustrie die japanischen Strahlenopfer. Doch wer sich wirklich auf die Trauer einlässt (und nicht nur Betroffenheit vorschützt), wer vielleicht Verwandte oder Freundinnen hat, die in Japan leben, kann das nicht so einfach. Wenn man es mit einem konkreten Fall und mit konkreten Menschen zu tun hat, gibt es keinen goldenen Mittelweg zwischen Sicherheit und Risiko. Denn tot ist tot.
Eine Welt, die das Risiko kalkuliert, wird unweigerlich Opfer hervorbringen und auf „Helden“ angewiesen sein, so wie Japan auf jene Arbeiter, die ihr eigenes Leben aufs Spiel setzten, um einen Super-GAU zu verhindern. Was aber wäre die Alternative? Ist eine Welt denkbar, die ohne Opfer und Helden auskommt?
Vielleicht, wenn wir Sicherheit und Risiko nicht länger gegeneinander „ausbalancieren“, sondern an einer Kultur arbeiten, die beides nicht mehr als Gegensätze versteht. Denn es ist ja gar nicht wahr, dass es mit der Welt nur vorangeht, wenn man Risiken eingeht, also auf Sicherheit verzichtet. Ein gutes Beispiel sind Kinder: Nur wenn ein Kind sich geborgen und sicher fühlt, traut es sich, etwas zu wagen. Allerdings nicht so wie der Kaufmann, der das Leid anderer für den eigenen Vorteil in Kauf nimmt. Sondern eher in Form persönlichen Mutes: Mit der schützenden Hand der Mutter im Rücken traut sich das Kind, altbekanntes Terrain zu verlassen und Neues auszuprobieren.
Genau diese Art von „Risikobereitschaft“, die nicht durch statistische Berechnungen, sondern durch verlässliche und tragfähige Beziehungen und solidarische Gesellschaften abgesichert ist, bräuchten wir jetzt. Zum Beispiel den Mut, auf eine gefährliche Technologie zu verzichten, weil wir es nicht länger darauf ankommen lassen wollen, Menschenleben für die eigene Bequemlichkeit in Gefahr zu bringen.
Das wäre echter Mut: Wenn wir das Wagnis eingingen, das Richtige zu tun. Ohne schon genau zu wissen, wie das funktionieren kann oder wohin es führt, und auch wenn wir dafür unsere bisherigen Gewissheiten – den gewohnten Energieverbrauch, das derzeitige Wirtschaftssystem, die eingespielte Lebensweise – zur Disposition stellen müssen.
In: Wendekreis, Nr. 4/5 2011.