Michel Wieviorka: Die Gewalt. Hamburger Edition 2006, 25 Euro
Gewalt und Konflikt
Das Gewaltpotenzial scheint anzusteigen: Internationale Konflikte und Kriege, aber auch die Gewalt auf Straßen und an Schulen werfen die Frage auf, woher dieses Gewaltpotenzial herkommt und was sich dagegen tun lässt. Der französische Sozialwissenschaftler Michel Wieviorka geht in seinem Buch den strukturellen Ursachen von Gewalt nach. Dass die Gewalt derzeit so bedrohlich empfunden wird führt er vor allem auf das Ende der großen gesellschaftlichen Konflikte zurück, die bis in die 1980er Jahre die Welt prägten: Der Klassenkonflikt zwischen Arbeitern und Kapitalisten sowie der internationale Konflikt zwischen Ost und West. Solange sich Gewalt im Rahmen solch »strukturierter« Konflikte abspielt, wird sie, so Wieviorka, als weniger bedrohlich wahrgenommen, als wenn dies nicht der Fall ist. Dies würde die Hilflosigkeit im Umgang mit gegenwärtigen Gewaltphänomenen erklären – nicht das Ausmaß oder die Häufigkeit der Gewalttätigkeit machen Angst, sondern dass nicht klar ist, von welchem politischen Akteur sie ausgeht und gegen wen oder was sie sich richtet. Anders herum ist Gewalt leicht zu akzeptieren, wenn klar ist, warum und in welchem »Auftrag« sie stattfindet.
Diese These ist interessant und problematisch gleichzeitig. Denn wenn man sie zum Beispiel auf die permanente und weltgeschichtlich sowohl sich über alle Zeitalter als auch durch alle patriarchalen Kulturen ziehende Gewalt von Männern gegen Frauen (und Kinder) anschaut (was Wieviorka nicht tut, dieses Thema interessiert ihn nicht), dann würde dies erklären, warum diese Gewalt kein Skandal ist und kein politisches Aufsehen erregt: Man versteht unmittelbar, warum sie ausgeübt wird und. Insofern die männliche Gewalt gegen Frauen und Kinder also im Rahmen eines »strukturierten« Konfliktes liegt – nämlich dem der Geschlechter – illustriert sie ein als selbstverständlich oder gar »natürlich« angesehenes Konfliktverhältnis mit fest stehenden und durchschaubaren Akteuren. Sie wirkt daher für die Gesellschaft nicht bedrohlich und macht keine Angst, da sie nicht willkürlich wirkt. Ich finde dies einen interessanten Gedankengang, der in diesem Zusammenhang vielleicht Ausgangspunkt weiterer Überlegungen sein könnte.
Wieviorka hält es für möglich, dass Gewalt der Ausgangspunkt für die Entstehung eines Konfliktes sein kann – wie es derzeit vielleicht im Zusammenhang mit dem Islamismus oder mit den sozialen Unruhen wie in den französischen Vorstädten der Fall ist. Hier artikuliert sich möglicherweise ein neuer Akteur eines sozialen Konfliktes, und wenn es gelingt, diesen Konflikt zu strukturieren, in Debatten, Reformen und Verhandlungen zu überführen, dann könnte dies vielleicht zu einem Abebben der Gewalt führen.