Am Anfang war die Küche
Die Theologin Ina Praetorius stellt ihre postpatriarchale Ethik auf soliden zwischenmenschlichen Boden
Was das »gute Leben« sei, auf diese seit Aristoteles klassische Grundfrage der Ethik haben Philosophen in den letzten drei Jahrtausenden schon eine Menge Antworten gegeben. Allerdings scheinen ihre Lehren für die meisten Menschen schwer nachzuvollziehen, gilt die theoretische Ethik doch weitgehend als eine Sache von Experten (daher ja auch all die »Ethikkommissionen«), während im Alltag jemand, der »gut lebt« ganz banal für einen gehalten wird, der viel Geld hat. Der Schweizer Theologin Ina Praetorius ist jedoch das Kunststück gelungen, ein durchaus philosophisches Ethikbuch zu schreiben, das sich trotzdem wie ein Krimi an zwei Abenden durchlesen lässt.
Während klassische Ethikbücher in der Regel zweigeteilt sind – erst kommen die theoretischen Grundlagen, dann deren Konkretisierung im Hinblick auf verschiedene alltagsweltliche Themenbereiche – hält Praetorius diese Trennung für unangemessen. Ihrer Ansicht nach gibt es kein universal gültiges Gesetz (zum Beispiel das der göttlichen Gebote oder der rationalen Vernunft) das zunächst theoretisch verstanden und dann, in einem zweiten Schritt, auf das konkrete Leben »angewendet« werden muss. Vielmehr schlägt sie vor, sich das »gute Leben« als Ergebnis eines stetig fließenden Prozesses vorzustellen, als niemals endenden Austausch unter Menschen über das, was am besten zu tun und zu lassen sei. Die Frage, wer von ihnen denn nun »objektiv« recht hat, würde sich damit erübrigen: »Es geht darum, einander unterschiedliche Begründungen für gutes Handeln, die auch in Zukunft unterschiedlich bleiben werden, friedfertig und möglichst einleuchtend zu erklären.«
Dass der Abschied von der Allgemeingültigkeit bei Praetorius nicht in individualistische, postmoderne Beliebigkeit abdriftet, liegt daran, dass sie sich vom Menschenbild der westlichen Philosophien verabschiedet: Menschen sind für sie keine autonomen Wesen, die sozusagen aus dem Nichts heraus über ethische Prinzipienfragen nachdenken (während andere den Abwasch erledigen). Vielmehr seien alle Menschen Geborene, also als völlig abhängige, aber eben auch einzigartige Wesen von einer Frau zur Welt gebracht worden. Beziehungen unter Menschen müssten daher nicht erst vertraglich hergestellt oder über Gesetze vermittelt werden, sondern sie sind eine Tatsache, die alle im Moment der Geburt bereits vorgefunden haben. Gleiches gilt für die Ethik: Sie ist immer schon da, freilich nicht als abstraktes Prinzip, sondern in Form von Ratschlägen, Eigenarten, Gebräuchen und Gewohnheiten der Mutter und überhaupt der Älteren. Außerhalb von solch konkreten Beziehungen können Menschen nun einmal weder existieren, noch Philosophie treiben – dies, so Praetorius, sei von einer »geburtsvergessenen«, androzentrischen Philosophie, die den erwachsenen, gesunden, weißen Mann zur Norm für das Menschsein gemacht habe, häufig übersehen worden.
Überlieferte Traditionen, Sitten und Gesetze versteht Praetorius dementsprechend nicht als Korsett, das die eigene Freiheit einschränkt, sondern im Gegenteil als Voraussetzung für Freiheit: »So wie ein Kochrezept noch keine Mahlzeit und ein Schnittmuster noch kein Kleid ist, wird auch aus moralischer Überlieferung gutes Leben erst durch freies Tun. Ein gutes Essen entsteht, wenn ich die Anweisungen des Rezepts – mehr oder weniger – befolge, um die Nahrungsmittel, die mir hier und jetzt zur Verfügung stehen, sachgerecht zu etwas zu kombinieren, das allen Beteiligten schmeckt und bekommt und das in exakt dieser Zusammensetzung noch nie vorher da war.« So gesehen ist es also ganz normal, dass Gewohntes in Frage gestellt wird, dass Sitten sich wandeln, dass Gesetze verändert werden – ohne dass man sich deshalb mit Widerstandspathos von allem Vorhergegangenen abgrenzen muss.
Auch die westliche Tradition, ihre Philosophien, ihre Gesetzbücher, ihre Sitten und Werte will Praetorius keineswegs auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgen, sondern lediglich an ihren Platz rücken: Und der sei, so ihr Bild, wie bei einem alten, mächtigen Schrank nicht in der Mitte des Zimmers, wo er den Blick versperrt, sondern an der Wand. In die Mitte gehöre vielmehr der Tisch, um den sich alle Beteiligten versammeln, um zu essen und zu diskutieren und über das gute Leben verhandeln. Die Tradition, in die sich Praetorius als christliche Theologin selbst stellt, ohne dafür Allgemeingültigkeit zu beanspruchen, ist die der biblischen Überlieferung – ein Fundus von Weisheiten und Einsichten, die ihrer Ansicht nach den Vorteil haben, dass sie »jenseits der modernen Idee metaphysikfreier Vernünftigkeit« liegen. Eine weitere Quelle, aus der Praetorius schöpft, sind die feministischen Diskussionen der letzten Jahrzehnte: Man merkt dem Buch an, dass es nicht von einem einsamen Geist geschaffen wurde, sondern von aus einer Fülle von Texten, Begegnungen und Gesprächen heraus entstanden ist.
Ina Praetorius: Handeln aus der Fülle. Postpatriarchale Ethik in biblischer Tradition. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2005, 19,95 Euro
in: Frankfurter Rundschau (Literatur-Rundschau), 7.12.2005