Andrea Günter: Die weibliche Seite der Politik. Ordnung der Seele, Gerechtigkeit der Welt. 277 Seiten, Ulrike Helmer Verlag, Königstein/Ts., 2001.
Hat Politik eine weibliche Seite? Andrea Günter meint ja. Und sie nennt drei Punkte, die für eine solche weibliche Seite der Politik stehen: Liebe zur Freiheit, der Wunsch nach gelingenden Beziehungen, und die Suche nach einem eigenen Sinn der weiblichen Existenz in der Welt, einem Sinn, der nicht aus dem Vergleich mit dem Männlichen hergeleitet ist. Diese drei Motivationen, so Günters These, sind auch der Grund, warum es immer eine Frauenbewegung geben wird: Frauenbewegtes Denken und Handeln ist nicht eine Aufgabe, die mit den Erfolgen von Emanzipation und rechtlicher Gleichstellung ad acta gelegt werden kann, sondern ein Projekt, das in jeder Gesellschaft und zu jeder Zeit notwendig und sinnvoll ist.
Liebe zur Freiheit, der Wunsch nach gelingenden Beziehungen und einem freien Sinn der weiblichen Existenz sind dabei nicht nur die Kräfte, die Frauen dazu bringen – und schon immer dazu gebracht haben – sich politisch einzumischen, sondern auch Maßstäbe zur Beurteilung gesellschaftlicher Veränderungen und politischer Vorhaben. Günter entwickelt einen Begriff des Politischen, bei dem die Differenz nicht auf die Geschlechterdifferenz oder gar auf den Gegensatz des Paares Mann/Frau reduziert wird, sondern als Grundlage von Politik gilt. Wenn von der »weiblichen Seite« der Politik die Rede ist, dann ist damit also nicht eine wesensmäßige Rollenzuschreibung an Frauen gemeint, sondern es geht darum, Politik generell als Problematik der Differenz zu verstehen, die mit der Geschlechterdifferenz, der Tatsache, dass es Frauen und Männer gibt, in einer Wechselbeziehung steht.
Die Freiburger Philosophin, die sich in ihrer Forschung seit Jahren mit dem Denken der Geschlechterdifferenz beschäftigt, hat dazu in ihrem neuen Buch Texte zusammengestellt, in denen sie sich unter dieser Perspektive mit zentralen Begriffen und Themen der abendländischen politischen Ideengeschichte auseinandersetzt. Eine wichtige Rolle spielen dabei einerseits die Thesen der italienischen Philosophinnen um den Mailänder Frauenbuchladen und an der Universität von Verona, die hier zu Lande unter den Stichworten »Differenzfeminismus« oder »Affidamento« bekannt geworden sind, und zu deren wichtigsten Vermittlerinnen in Deutschland Andrea Günter gehört. Ein zweiter durchgängiger Bezugspunkt ist Hannah Arendt, die schon lange vor den »Italienerinnen« auf die Bedeutung der Verschiedenheit für das politische Tun der Menschen und vor allem auf das Phänomen der Gebürtigkeit hingewiesen hat.
Von der Tatsache ausgehend, dass Menschen geboren, also von einer Frau »zur Welt gebracht« werden, behandelt Andrea Günter die Mutter-Kind-Beziehung als die erste Beziehungserfahrung, in der Begehren und Wünsche vorgebracht und ausgehandelt werden. Es ist eine Beziehung, in der weibliche Autorität anwesend ist, die aber durch den strukturellen »Mutterhass« der westlich-abendländischen Tradition in ihrer symbolischen Bedeutung geschwächt wurde. Dass es dabei um mehr geht als um die Aufarbeitung einer weiblichen Identitätsfindung, um die rein psychologische Seite des Themas, zeigt Günter in Auseinandersetzung mit Carol Gilligan und Jessica Benjamin. So sieht sie in dem scheinbaren Gegensatz zwischen dem Wunsch nach Freiheit und dem nach gelingenden Beziehungen einen Ausgangspunkt dafür, wie zentrale politische Begriffe neu gedacht werden müssen: Freiheit bedeutet nicht Autonomie und Unabhängigkeit; Freiheit und Bezogenheit schließen sich nicht aus, sondern sie bedingen sich gegenseitig.
Weitere Themen, die in dem Buch einer kritischen Revision unterzogen werden, sind der allseits postulierte »Postfeminismus« und die Frage, was eine frauenbewegte Politik nach dem von den Italienerinnen diagnostizierten »Ende des Patriarchats« heißen kann, die Bedeutung von Vaterschaft, das Verhältnis von Seele und Staat in den politischen Philosophien von Platon, Aristoteles und Kant, das Verhältnis von Ethik und Politik, die Rolle des Göttlichen beziehungsweise der Transzendenz, sowie die »postmodernen« Thesen des Dekonstruktivismus.
Diese Auswahl deutet bereits an, dass man sich von dem Buch keine Gute-Nacht-Lektüre versprechen darf. Die Texte sind anspruchsvoll, nicht nur weil sie eine gewisse Kenntnis der philosophischen Tradition voraussetzen, sondern vor allem, weil sie dazu herausfordern, vieles »neu zu denken«, sich von »allseits gefrorenen Denkgewohnheiten«, wie Günter schreibt, zu verabschieden. Allerdings: Die Mühe lohnt sich. In Zeiten, wo der Buchmarkt von Titeln überschwemmt wird, die Frauen durch meist banale Tipps und Ratschläge den schnellen Weg zur ihrer vermeintlichen Emanzipation weisen wollen, ist es notwendig zu zeigen, dass es nicht einfach darum geht, im Rahmen des Bestehenden als Frau erfolgreich zu sein. Weibliche Freiheit weist ja gerade über diese Grenzen hinaus. Ein solches neues (frauen)politisches Denken lässt sich aber nicht in plakativen Thesen oder Programmpunkten formulieren, sondern erfordert genaues Hinschauen und differenziertes Nachdenken. Dieses Buch ist dafür ein wichtiger Baustein.
aus: Virginia, Frauenbuchkritik, Herbst 2001